Orientierungssatz
Zur Frage der Versicherungszugehörigkeit eines Fahrkartenverkäufers und Schaffners (hier: Gebirgsschwebebahn).
Normenkette
AVG § 2 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 3 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. September 1962 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Kläger, der das Malerhandwerk erlernt hat, ist seit 1946 bei der N.-bahn AG in O. als Schaffner und Fahrkartenverkäufer beschäftigt. Gelegentlich einer Betriebsprüfung am 2. Juli 1958 kam die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) zu der Auffassung, daß er zu Unrecht als angestelltenversicherungspflichtig geführt wurde. Sie forderte deshalb für ihn mit Zustimmung der beigeladenen Landesversicherungsanstalt (LVA) Schwaben Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter an. Nach einer Auskunft der Arbeitgeberin vom 14. Oktober 1959 wurde der Kläger damals zu 72 Prozent mit dem Fahrkartenverkauf (einschließlich Telefonvermittlung, Auskunftserteilung an Fahrgäste, Abrechnung des Tagesumsatzes mit der Hauptkasse, Eintragung der verkauften Fahrkarten im Verkaufsregister sowie Kartenbestellung), zu 12 Prozent mit Büroarbeiten (statistischen Arbeiten) und zu 16 Prozent mit handwerklichen Arbeiten (Überholungsarbeiten außerhalb der Saison) beschäftigt. Auf den gegen ihren Bescheid vom 2. Dezember 1959 erhobenen Widerspruch stellte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. Februar 1960 erneut fest, daß die Beschäftigung des Klägers bei der N.-bahn AG in Oberstdorf versicherungspflichtig zur Arbeiterrentenversicherung sei. Sie verwies dabei auf die Grundsätzliche Entscheidung (GE) des Reichsversicherungsamts (RVA) Nr. 3353 vom 24. Oktober 1928 (Amtliche Nachrichten - AN - 1929, 70).
Dagegen erhob der Kläger zum Sozialgericht (SG) Augsburg Klage mit dem Antrag, die Bescheide der beklagten AOK aufzuheben und festzustellen, daß er, der Kläger, angestelltenversicherungspflichtig sei. Er brachte vor, seine Tätigkeit als Fahrkartenverkäufer bei der N.-bahn mit täglichen Höchsteinnahmen von mehr als 10.000,- DM, über die er täglich abrechnen müsse, könne nicht mehr als manuelle Tätigkeit bewertet werden. Sie sei nach herrschender Auffassung eine überwiegend geistige Tätigkeit und deshalb ebenso wie die Tätigkeit eines Fahrkartenverkäufers bei der Bundesbahn oder eines Kassierers bei der Bank als Angestelltentätigkeit zu erachten. Die früheren Entscheidungen des RVA könnten wegen des Wandels der Verkehrsauffassung und der wirtschaftlichen Entwicklung nicht mehr angewendet werden. Das SG hörte über seine Tätigkeit den Personalsachbearbeiter der N.-bahn AG. Mit Urteil vom 20. Juli 1960 wies es sodann die Klage ab. Die Kammer war in Übereinstimmung mit der Beklagten der Auffassung, daß der Kläger wegen seiner Tätigkeit als Fahrkartenverkäufer der Rentenversicherung der Arbeiter unterliege, weil es sich hierbei um eine einfache Tätigkeit überwiegend mechanischer Art handele, für die eine besondere Vorbildung nicht erforderlich sei.
Die hiergegen vom Kläger eingelegte Berufung ist erfolglos geblieben. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat sich der Auffassung des SG angeschlossen. Es stellt fest, der Kläger sei Fahrkartenverkäufer (Verkaufsschaffner) bei der N.-bahn in Oberstdorf. Der Fahrkartenverkauf sei seine Haupttätigkeit. Daneben verrichte er in geringem Umfang Büroarbeiten und handwerkliche Arbeiten. Bei der Bewertung seiner Tätigkeit sei daher von der eines Verkaufsschaffners auszugehen.
Die Fahrkartenverkäufer von Verkehrsbetrieben seien weder in § 165 b Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch in § 3 Abs. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) als Angestellte aufgeführt. Sie seien auch nicht in den zu den genannten Vorschriften ergangenen Bestimmungen von Berufsgruppen der Angestelltenversicherung vom 8. März 1924 erwähnt. Sie zählten insbesondere nicht zu den dort unter A XVIII Nr. 1 genannten Fahrkartenrevisoren und Betriebskontrolleuren. Gerade hieraus sei zu entnehmen, daß sie nicht zu den Angestellten zu rechnen seien. Man könne den Kläger auch nicht zu den Kassierern rechnen, seine Tätigkeit sei ferner nicht aus sonstigen Gründen die eines Angestellten, da sie insbesondere keinerlei kaufmännische Vorkenntnisse erfordere. Die Ausgabe von Fahrkarten für eine Bergbahn sei eine einfache, weitgehend mechanische Verrichtung. Sie werde auch nicht dadurch zu einer überwiegend geistigen Tätigkeit, daß es verschiedene Arten von Fahrkarten gebe, nämlich allein für Berg- oder Talfahrten, oder für Berg- und Talfahrten, für Erwachsene, Kinder, Ortsansässige usw. Hierbei handele es sich um einfache, leicht übersehbare Umstände. Ebenso wenig habe die vom Kläger besonders betonte Verantwortlichkeit seiner Tätigkeit im Hinblick auf den zuweilen großen Geldumsatz einen Einfluß auf die sozialrechtliche Qualifizierung seiner Tätigkeit.
Diese Auffassung stehe im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung, insbesondere der GE Nr. 3353 und BSG 4, 17. Der Hinweis des Klägers auf die allgemeine Verkehrsanschauung führe zu keinem anderen Ergebnis. Es bestehe keine Verkehrsauffassung dahin, daß die Fahrkartenschaffner einer Bergbahn Angestellte seien. Auch Straßenbahnschaffner würden allgemein als Arbeiter angesehen. Die vorgelegten Tarifverträge für die Bediensteten der nichtbundeseigenen Eisenbahnen in der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigten nicht die Annahme einer Verkehrsauffassung dahin, daß die Tätigkeit des Klägers als die eines Angestellten zu gelten habe. Wohl seien in § 12 des Tarifvertrages für Angestellte der Personalseilschwebebahnen vom 6. Dezember 1960 die Fahrkartenverkäufer als Angestellte für einfache Tätigkeiten in der Gehaltsgruppe A II aufgeführt. Daraus folge jedoch nicht mit Rechtsnotwendigkeit, daß sie auch Angestellte in sozialversicherungsrechtlichem Sinne seien. Hierfür sei die weite Ausdehnung des Angestelltenbegriffs in den Tarifverträgen bedeutungslos, da hier ausdrücklich vorgesehen sei, daß ein Arbeitnehmer tarifvertraglich als Angestellter gelten könne, obwohl er nicht angestelltenversicherungspflichtig sei.
Das LSG hat in seinem Urteil die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrage,
das Urteil des LSG vom 26. September 1962 und das Urteil des SG vom 20. Juli 1960 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. Dezember 1959 und deren Widerspruchsbescheid vom 29. Februar 1960 aufzuheben und festzustellen, daß er, der Kläger, angestelltenversicherungspflichtig sei.
Zur Begründung bringt die Revision in einem längeren Schriftsatz vor, es könne nicht mehr von der alten GE Nr. 3353 ausgegangen werden. Die wirtschaftlichen Verhältnisse hätten sich seitdem völlig verändert und auch die Tätigkeit eines Fahrkartenverkäufers bei der Seilbahn erfaßt. Die Seilbahnen seien nicht mehr so klein wie im Jahre 1928, insbesondere der Umsatz der N.-bahn habe längst die Millionengrenze überschritten. Schon hier lägen die entscheidenden Punkte, die ein Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung rechtfertigten.
Zu Unrecht gehe das LSG auch davon aus, daß er, der Kläger, keine Bürotätigkeiten verrichte. Anscheinend habe das LSG die Zustände des Jahres 1928 vor Augen gehabt, wo die Fahrkarten in der schwebenden Gondel einer Seilbahn verkauft wurden. Vielleicht habe ihm auch vorgeschwebt, daß die N.-bahn lediglich eine Verkaufsbude unterhalte, in welcher die Fahrkarten unter primitiven Verhältnissen verkauft würden. Hätte das Gericht die Verhältnisse an Ort und Stelle geprüft, hätte es festgestellt, daß er, der Kläger, in einem vorzüglich ausgestatteten Raum sitze und Umsätze bis zu 10.000,- DM täglich erziele. Offenbar denke das LSG an die Tätigkeit eines Straßenbahnschaffners oder eines Fahrkartenverkäufers bei einer kleinen Hochbahn. Dieser Vergleich hinke jedoch, da dort niemals Umsätze bis zu 10.000,- DM täglich erzielt würden.
Es sei auch rechtsirrig, wenn das LSG in seiner, des Klägers, Tätigkeit eine überwiegend manuelle sehe. Hierbei werde wieder übersehen, daß er Tagesumsätze bis zu 10.000,- DM habe. Die einzelnen Fahrkarten kosteten auch nicht etwa wie bei der Straßenbahn 0,20 oder 0,40 DM. Der Fahrpreis steige vielmehr pro Person bis zu 8,- DM. Wenn jemand für bis zu 10.000,- DM Fahrkarten pro Tag verkaufe, dann könne nicht mehr gesagt werden, er übe lediglich eine manuelle Tätigkeit aus. Hier liege eine Unterbewertung vor, die durch die Entscheidung aus dem Jahre 1928 bedingt sei. Nach der Verkehrsauffassung sei ein Fahrkartenverkäufer mit solchen Umsätzen nicht mehr als Arbeiter anzusehen. Das LSG habe überdies auch nicht berücksichtigt, daß er, der Kläger, ein Monatsgehalt beziehe und keinen Wochenlohn. Gerade das Monatsgehalt spreche für eine Angestelltentätigkeit und gegen ein Arbeiterverhältnis. In Stoßzeiten werde er, der Kläger, sogar von der Sekretärin des Direktors unterstützt. Diese sei unstreitig Angestellte. Wenn er in seiner Tätigkeit von einer Angestellten unterstützt werde, dann müsse auch er selbst Angestellter sein.
Die beklagte AOK beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig und weist noch darauf hin, daß der Kläger nach der Lohngruppe I des Tarifvertrages für die Arbeiter der in der Bundesrepublik Deutschland gelegenen Personenseilschwebebahnen bezahlt werde. Auch betrügen die Durchschnittseinnahmen des Klägers niemals bis zu 10.000,- DM täglich, sondern nur 2.500,- DM bis allenfalls 3.000,- DM. Auch sonst enthalte die Revisionsbegründung nicht nur irreführende, sondern auch grobe Unwahrheiten. Die Tätigkeit des Klägers werde so dargestellt, als ob die Einnahmen der N.-bahn in Höhe von über einer Million DM in der Hauptsache von ihm kassiert würden. Davon könne keine Rede sein. Völlig unverständlich sei, wie behauptet werden könne, der Kläger beziehe ein Monatsgehalt. Er werde nach Stunden bezahlt, wobei gerade er sogar noch entgegen den tariflichen Bestimmungen wegen seines erlernten Handwerks als Maler in eine höhere Lohngruppe eingestuft worden sei.
Die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) bittet ebenfalls um Zurückweisung der Revision. Die gezielte und überbetonte Darstellung der Tätigkeit des Klägers müsse auf ein realistisches Maß zurückgeführt werden. Seine Kassierertätigkeit sei mit der eines Gelderhebers zu vergleichen. Es sei in der bisherigen Rechtsprechung unbestritten, daß solche Personen der Rentenversicherung der Arbeiter angehörten.
Die beigeladene LVA und die beigeladene N.-bahn haben sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
II.
Die Revision muß zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz führen.
Zwar ist den rechtlichen Ausführungen des LSG im wesentlichen zuzustimmen. Insbesondere ist es zu Recht von den Entscheidungen des Senats in BSG 4, 17 und 10, 82 ausgegangen und hat den Kläger zutreffend nicht den Fahrkartenverkäufern bei der Bundesbahn oder den Kassierern bei Sparkassen und Banken gleichgestellt. Insoweit bestehen immerhin wesentliche Unterschiede, die nicht unberücksichtigt bleiben können. Dazu ist weiter noch auf BSG 21, 176 zu verweisen. Danach würde selbst dann, wenn der Kläger jetzt nach der Vergütungsgruppe IX oder X des BAT (Bundesangestelltentarifvertrages) besoldet würde, dies nicht notwendig zur Folge haben, daß er deswegen auch in der Angestelltenversicherung (AnV) zu versichern wäre. Schließlich ist es auch nicht zu beanstanden, wenn das LSG sich noch weitgehend an die GE 3353 (AN 1929, 70 = EuM 24, 51) gehalten hat. Diese ist durchaus noch zu berücksichtigen, wenn die zu beurteilenden Verhältnisse den damals zu beurteilenden entsprechen. Die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen jedoch nicht aus, um über die Revision abschließend entscheiden zu können. Die Nachprüfung von Rechtsfragen durch das Revisionsgericht setzt voraus, daß das angefochtene Urteil eindeutige Feststellungen tatsächlicher Art enthält. Gibt das Urteil den Sachverhalt nur undeutlich an, fehlt es insbesondere an Tatsachen, die unter das Gesetz subsumiert werden können, so muß, auch wenn insoweit keine Rüge erhoben ist, bei einer zugelassenen Revision das Urteil aufgehoben werden (BSG SozR § 163 SGG Nr. 6 = Breithaupt 1960, 362). Das LSG hat insbesondere nicht festgestellt, ob der Kläger als Angestellter nach der Tarifordnung für Angestellte und bejahendenfalls nach welcher Lohngruppe oder als Arbeiter nach der Tarifordnung für Arbeiter besoldet wird. Demzufolge fehlen auch Ausführungen darüber, ob der Kläger entsprechend den tarifvertraglichen Vereinbarungen bezahlt wird oder nicht. Gerade die tarifvertraglichen Regelungen und die tatsächliche Art der Bezahlung werden jedoch im allgemeinen den ersten Anhaltspunkt dafür geben, ob ein Arbeitnehmer versicherungsrechtlich zu den Arbeitern oder zu den Angestellten zu rechnen ist. Das Berufungsgericht hat weiter nicht nachgeprüft, ob die Behauptung des Klägers zutrifft, daß er allein täglich über 10.000,- DM für Fahrkarten einkassiert und abrechnen muß. Was die Beteiligten hierzu in der Revisionsinstanz vorgebracht haben, kann vom Senat nicht berücksichtigt werden, da er an die Feststellungen des LSG gebunden ist (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Ohne Klärung dieser für die Beurteilung der Tätigkeit des Klägers entscheidenden Merkmale läßt sich jedoch nicht die Frage beurteilen, ob er zur AnV oder zur Arbeiterrentenversicherung zu rechnen ist. Insoweit wäre der Senat allerdings der Auffassung, daß ein Fahrkartenverkäufer, der täglich etwa 10.000,- DM kassiert und auch abrechnen muß, im Hinblick auf den Umfang der damit verbundenen rechnerischen und schriftlichen Arbeiten nicht mehr als ein Arbeitnehmer angesehen werden kann, der überwiegend Arbeiten mechanischer Art verrichtet.
Schließlich wird das LSG auch eingehender, als es bisher geschehen ist, prüfen und ermitteln müssen, ob die Verkehrsauffassung, d. h. also die Auffassung der beteiligten Berufskreise, wie sie in der Regel in den maßgebenden Tarifverträgen ihren Ausdruck findet (BAG 7, 86), einen Fahrkartenverkäufer wie den Kläger als Arbeiter oder als Angestellten ansieht.
Dabei wäre seine Auffassung über das Bestehen einer solchen Verkehrsanschauung auch zu belegen, weil anderenfalls dem Revisionsgericht die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung auf ihre sachliche Richtigkeit hin nicht möglich wäre.
Da der Senat alle diese Feststellungen nicht selbst treffen kann, mußte somit die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an die Vorinstanz zurückverwiesen werden. Dabei wird diese auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen