Leitsatz (redaktionell)
Bei gemeinsamer Haushaltsführung der Ehegatten und dem Verbrauch des gesamten gemeinsamen Einkommens zum Unterhalt hat derjenige Ehegatte den anderen überwiegend unterhalten, der mehr zum gemeinsamen Unterhalt beigesteuert hat.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 4 Fassung: 1961-07-12
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 6. Februar 1963 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 28. Juli bis 6. September 1961 einen Familienzuschlag zum Krankengeld in Höhe von 4 vom Hundert des Grundlohnes zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu ersetzen.
Gründe
Der kinderlos verheiratete Kläger ist pflichtversichertes Mitglied der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK). Er war vom 28. Juli bis 6. September 1961 infolge eines Arbeitsunfalls arbeitsunfähig erkrankt. Die beklagte AOK gewährte ihm für diese Zeit als Krankengeld 65 % des Grundlohnes von rd. 705,- DM. Während dieser Zeit verdiente die Ehefrau des Klägers monatlich rd. 470,- DM.
Den Antrag des Klägers, ihm im Hinblick auf seine Ehefrau einen Zuschlag in Höhe von 4 % des Grundlohns zum Krankengeld zu gewähren, lehnte die beklagte AOK mit der Begründung ab, der Kläger habe seine Ehefrau nicht überwiegend unterhalten (Beschluß vom 29. Januar 1962 und Widerspruchsbescheid vom 26. März 1962).
Mit der Klage vor dem Sozialgericht (SG) beantragte der Kläger,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 29. Januar 1962 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 26. März 1962 zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 28. Juli bis 6. September 1961 den Familienzuschlag zum Krankengeld gemäß § 182 Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren.
Das SG hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 6. Februar 1963). Es ist davon ausgegangen, bei der Beurteilung des gewährten Unterhalts sei das gesamte Einkommen der Ehegatten aus Arbeitsverdienst - im vorliegenden Falle: 705 + 470 = 1175,- DM - zu berücksichtigen. Weiterhin sei anzunehmen, daß jeder der beiden Ehegatten etwa die Hälfte des Gesamteinkommens verbrauche. Demnach sei als Unterhaltsbedarf der Ehefrau des Klägers die Hälfte von 1175,- DM = rd. 588,- DM anzusetzen. Da sie selbst 470,- DM verdiente, habe der Zuschuß des Klägers zu ihrem Unterhalt nur 118,- DM betragen. Die Ehefrau des Klägers habe somit ihren Unterhalt überwiegend aus eigenen Mitteln bestritten. Wenn das Reichsversicherungsamt (RVA) in seiner Entscheidung vom 17. Januar 1929 (GE Nr. 3379, AN 1929, 145) angenommen habe, ein Ehegatte gewähre dem anderen überwiegenden Unterhalt, wenn sein eigener Arbeitsverdienst mehr als die Hälfte des gesamten Verdienstes beider Ehegatten betrage, so könne dem nicht gefolgt werden. Vielmehr müsse auf den Unterhaltsbedarf des jeweiligen Familienangehörigen in der Weise abgestellt werden, daß zunächst festgestellt werden müsse, inwieweit dieser Unterhaltsbedarf durch eigenes Einkommen gedeckt sei, und sodann, welcher Zuschußbetrag aus dem Erwerb der übrigen Familienangehörigen noch erforderlich sei.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger mit Einwilligung der beklagten AOK Sprungrevision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil sowie den Bescheid der beklagten AOK vom 29. Januar 1962 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 26. März 1962 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 28. Juli bis 6. September 1961 den Familienzuschlag nach § 182 Abs. 4 RVO zu gewähren.
Der Kläger hat gerügt, das SG habe den Begriff des "überwiegenden Unterhalts" in § 182 Abs. 4 RVO verkannt. Zu Unrecht habe das SG bei seiner Auslegung des § 182 Abs. 4 RVO unberücksichtigt gelassen, daß der mitverdienende Ehegatte mit seinem Verdienst nicht allein seinen eigenen Unterhaltsbedarf bestreite, sondern zum Unterhalt der ganzen Familie beizutragen habe.
Das sei auch der Unterschied zu dem in der Grundsätzlichen Entscheidung des RVA Nr. 3390 (AN 1929, 161) behandelten Fall - Unterhalt von Kindern -, den das SG zu Unrecht mit dem Sachverhalt der gegenseitigen Unterhaltsgewährung durch Ehegatten gleichgesetzt habe. Dem Verhältnis der Ehegatten zueinander seien nur die Überlegungen des RVA in der Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 3379 angemessen.
Die beklagte AOK hat um
Zurückweisung der Revision
gebeten. Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. Im Hinblick auf das Urteil des erkennenden Senats vom 13. Februar 1964 (BSG 20, 148) hat sie ausgeführt: Ob die Haushaltsarbeit im vorliegenden Fall von den Ehegatten zu gleichen Teilen geleistet worden sei, habe das SG nicht ausdrücklich festgestellt. Es sei nicht sicher, ob man eine solche beiderseitige Beteiligung der Ehegatten an der Haushaltsführung schon nach der Lebenserfahrung annehmen könne. Auf jeden Fall sei die Berücksichtigung des Werts der Haushaltsarbeit bei der Prüfung, wer im Sinne des § 182 Abs. 4 RVO überwiegenden Unterhalt geleistet habe, sachfremd. - Ferner müsse bei der Auslegung des § 182 Abs. 4 Satz 2 RVO beachtet werden, daß die Vorschrift auf den Unterhalt des einzelnen "Angehörigen" - nicht der Familie - abstelle. Bei jedem Angehörigen müsse vorab geprüft werden, was er selbst für seinen Unterhalt aufbringe. Nur wenn der Versicherte mehr als dieser Angehörige für dessen Unterhalt beisteuere, sei dieser überwiegend vom Versicherten bestritten worden.
Die Sprungrevision ist zulässig. Der Klageanspruch betrifft wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu dreizehn Wochen (§ 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Berufung wäre somit nur kraft der vom SG ausgesprochenen Zulassung (§ 150 Nr. 1 SGG) statthaft gewesen. Deshalb durfte Sprungrevision eingelegt werden (§ 161 Abs. 1 Satz 1 SGG). Die schriftliche Erklärung der Einwilligung des Rechtsmittelgegners - hier der beklagten AOK - ist zusammen mit der Revisionsschrift innerhalb der zur Einlegung der Revision bestimmten Frist (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG), also rechtzeitig, vorgelegt worden.
Die Sprungrevision ist begründet.
Die maßgebende Rechtsgrundlage des Klageanspruchs ist - entgegen der Annahme des SG - nicht allein § 182 Abs. 4 Satz 2 RVO idF des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall vom 12. Juli 1961 - Zweites LeistungsverbesserungsG - (BGBl I 913). Dieses Gesetz ist erst am 1. August 1961 in Kraft getreten (Art. 9 des Zweiten LeistungsverbesserungsG). Für die ersten vier Tage der Arbeitsunfähigkeit des Klägers (28. bis 31. Juli 1961) gilt somit noch § 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 RVO idF des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall vom 26. Juni 1957 - Erstes LeistungsverbesserungsG - (BGBl I 649). Da die mit Arbeitsunfähigkeit verbundene Erkrankung des Klägers, wie das SG festgestellt hat, auf einem Arbeitsunfall beruhte, war das Krankengeld bereits vom ersten Tage der Arbeitsunfähigkeit an zu gewähren (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 4 RVO aF). Die "Weiterzahlung" (vgl. Art. 6 Abs. 2 des Zweiten LeistungsverbesserungsG) des Krankengeldes vom 1. August 1961 an regelt sich nach § 182 Abs. 4 Satz 2 RVO nF, allerdings mit der sich aus der genannten Übergangsregelung ergebenden Maßgabe. Das hat zur Folge, daß auch laufende Fälle mit dem Inkrafttreten des Zweiten LeistungsverbesserungsG von den "materiellen" Neuregelungen dieses Gesetzes erfaßt, "formell" aber noch nach altem Recht abgewickelt werden (Schmatz-Fischwasser, Das Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall, 4. Aufl., Art. 6 des Zweiten LeistungsverbesserungsG, Anm. I S. 229; vgl. auch BSG 16, 177, 181). Im vorliegenden Fall gilt somit für die Weiterzahlung des Krankengeldes über den 31. Juli 1961 hinaus § 182 Abs. 4 RVO nF i. V. m. Art. 6 Abs. 2 des Zweiten LeistungsverbesserungsG.
Diese Unterschiede der maßgeblichen Rechtsgrundlage des Klageanspruchs lassen aber die für den Rechtsstreit entscheidende Rechtsfrage unberührt, ob der Kläger Anspruch auf einen Zuschlag zum Krankengeld in Höhe von 4 % des Grundlohnes hat. Sowohl für die Zeit vom 28. bis 31. Juli 1961 (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 RVO aF) als auch für die Zeit vom 1. August bis 6. September 1961 (§ 182 Abs. 4 Satz 2 RVO nF i. V. m. Art. 6 Abs. 2 des Zweiten LeistungsverbesserungsG) hängt der Anspruch davon ab, ob der Versicherte den Angehörigen "bisher ganz oder überwiegend unterhalten hat".
Zutreffend ist das SG bei der Prüfung dieser Frage unter Zugrundelegung der allgemeinen Lebenserfahrung davon ausgegangen, daß bei einem kinderlosen Ehepaar der Verbrauchsanteil jedes Ehegatten am gemeinsamen Familienunterhalt gleich groß ist, d. h. die Hälfte des Gesamtverbrauchs der Familiengemeinschaft ausmacht (BSG 20, 148, 151). Im vorliegenden Fall, in dem nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten das beiderseitige Einkommen im vollen Umfange dem Lebensunterhalt gedient hat, beläuft sich somit der Verbrauchsanteil der Ehefrau des Klägers auf (710 + 470 / 2) = 588,- DM monatlich.
Mit Recht hat das SG hier auch unberücksichtigt gelassen, daß der verfassungsmäßige Gleichberechtigungssatz (Art. 3 Abs. 2 GG) den Unterhaltsbegriff des bürgerlichen Familienrechts und damit auch des Sozialversicherungsrechts umgestaltet hat mit der Folge, daß bei der Bewertung der Unterhaltsleistungen der Ehegatten untereinander die Naturalleistungen eines Ehegatten in Gestalt von Haushaltsführung - und gegebenenfalls der Kinderpflege und -betreuung - mit in Rechnung gestellt werden müssen. Nach der Erfahrung des täglichen Lebens kann bei voll im Arbeitsleben stehenden Ehegatten angenommen werden, daß sich beide in zweckmäßiger Arbeitsteilung ohne wesentliches Übergewicht der einen Leistung gegenüber der anderen an der Führung des - regelmäßig kleinen - Haushalts beteiligen (BSG aaO S. 152). In diesem Fall ist die Haushaltsführung der beiden Ehegatten - weil sich kompensierend - bei der Bewertung der beiderseitigen Unterhaltsleistungen außer Betracht zu lassen.
Wenn die beklagte AOK Zweifel anmeldet, ob eine solche vereinfachende Betrachtung auch immer den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, so muß dem entgegengehalten werden, daß ohne solche von der Lebenserfahrung gestützten Annahmen den Krankenkassen schwierige, zeitraubende, in ihrem Beweiswert überdies fragwürdige Ermittlungen zugemutet würden, die in aller Regel doch zum gleichen Ergebnis führen würden. Das gilt nicht nur von der Vermutung, daß bei kinderlosen, voll im Berufsleben stehenden Eheleuten ein merkliches Übergewicht der Haushaltsleistung des einen gegenüber der des anderen regelmäßig nicht anzunehmen ist, sondern auch von der eingangs erwähnten - seit jeher gebräuchlichen - Annahme, daß der Verbrauchsanteil jedes Ehegatten am gemeinsamen Familienunterhalt gleich groß ist (vgl. RVA Grunds. Entsch. Nr. 3379, AN 1929, 145, 146, in der an der Annahme des gleich hohen Verbrauchsanteils beider Eheleute trotz der Erwägung festgehalten wird: "wenn in der Regel der Ehemann auch etwas mehr verbrauchen wird als die Ehefrau"). Solange das Krankenversicherungsrecht bestimmte Barleistungen davon abhängig macht, daß der versicherte Angehörige bisher ganz oder überwiegend unterhalten hat, müssen Vereinfachungen der genannten Art in Kauf genommen werden, wenn nicht der Zweck des Gesetzes, in Notfällen alsbald Hilfe zu gewähren, durch die Schwierigkeiten umfangreicher Ermittlungen in zahlreichen Fällen vereitelt werden soll.
Kann demnach in Übereinstimmung mit dem SG davon ausgegangen werden, daß für den Unterhalt der Ehefrau des Klägers etwa 588,- DM monatlich aufgewendet wurden, so kann dem SG jedoch nicht in der Beurteilung gefolgt werden, von wem und zu welchen Anteilen dieser Unterhalt bestritten wurde. Wie der Senat in der schon genannten Entscheidung (aaO S. 152 f) näher dargelegt hat, widerspricht die Annahme, der mitverdienende Ehegatte verbrauche seinen Arbeitsverdienst vorweg für sich und erhalte von seinem Ehegatten nur noch einen Zuschuß in Höhe des Restbedarfs, den tatsächlichen Verhältnissen in der Familie, wie sie sich auch aus der Regelung des Unterhaltsrechts ergeben, wonach beide Ehegatten gemeinsam zum angemessenen Familienunterhalt beizutragen haben (§ 1360 Satz 1 BGB). Dies gilt allerdings nur im Verhältnis der Ehegatten zueinander, nicht aber gegenüber anderen Angehörigen. Insofern unterscheidet sich der Ehegatte von anderen "Angehörigen" i. S. des § 182 Abs. 4 Satz 2 RVO, die grundsätzlich nicht verpflichtet sind, zum Unterhalt der Familie beizutragen, und es daher auch in der Regel nicht tun. Liefert z. B. ein im Haushalt der Eltern lebendes Kind seinen Arbeitsverdienst ganz oder teilweise an die Eltern ab, so wird dieser Betrag zwar im Rahmen des Gesamthaushalts verbraucht. Das Kind hat aber damit nur einen Beitrag zur Bestreitung seines eigenen Unterhalts geleistet, während der vom Ehegatten eingebrachte Unterhaltsbeitrag auf die Familie bezogen und nicht für seinen alleinigen Verbrauch bestimmt ist. Deshalb widersprechen sich auch nicht, wie die beklagte AOK annimmt, die Grundsätzlichen Entscheidungen des RVA Nr. 3379 (AN 1929, 145) und Nr. 3390 (AN 1929, 161). Sie würdigen vielmehr nur zutreffend die unterschiedliche Stellung des Ehegatten und der anderen "Angehörigen" im Familienverband.
Demnach ist daran festzuhalten, daß der Ehegatte, der während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustands vor Eintritt des Versicherungsfalls mehr als sein Ehegatte verdient und daher einen höheren Beitrag zum gemeinsamen Familienunterhalt geleistet hat, den anderen Ehegatten überwiegend unterhalten hat. Im vorliegenden Fall ist diese Voraussetzung deutlich erfüllt. Der vorliegende Fall bietet deshalb keine Veranlassung, darauf einzugehen, ob auch dann überwiegender Unterhalt des einen Ehegatten durch den anderen angenommen werden kann, wenn dieser nur wenig mehr als der andere zum gemeinsamen Familienunterhalt leistet (vgl. BSG 22, 44 für einen ähnlichen Sachverhalt, wonach der Unterhaltsanspruch einer früheren Ehefrau, der eine Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO auslösen soll, mehr als nur einen geringfügigen Teil des Unterhalts ausmachen muß).
Das angefochtene Urteil mußte somit aufgehoben und der Klage stattgegeben werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen