Leitsatz (amtlich)

Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit sind die Verhältnisse auf dem Arbeitsfeld im Inland - nicht die im Ausland - maßgebend. Die Gleichstellung deutscher und ausländischer Versicherter durch zwischenstaatliche Sozialversicherungsabkommen ändert hieran nichts.

 

Leitsatz (redaktionell)

Zu den Voraussetzungen der Berufsunfähigkeit in der Rentenversicherung bei einem spanischen Gastarbeiter.

Es können Schwierigkeiten des Klägers, in seinem Heimatland einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden, nicht berücksichtigt werden. Unabhängig davon, inwieweit auch in diesem Zusammenhang rentenversicherungsfremde Risiken eine Rolle spielen mögen, ist das Verweisungsgebiet zugunsten des Versicherten grundsätzlich nicht über den Geltungsbereich der deutschen Versicherungsgesetze hinaus auszudehnen.

Aus Abk Spanien SozSich Art 4 ergibt sich nur die Gleichstellung der beiderseitigen Staatsangehörigen. Nichts ist dagegen dem Abkommen darüber zu entnehmen, daß etwa die Frage der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit eines nach deutschem Recht versicherten spanischen Arbeitnehmers nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses - auf welchem Grunde diese auch immer beruhen mag - ohne räumliche Bezogenheit zur Bundesrepublik Deutschland nach den Verhältnissen des spanischen Aufenthaltsortes zu beurteilen sei. Wollte man diese Verhältnisse mit einbeziehen, so würde dies eine Besserstellung gegenüber den sich im Ausland aufhaltenden deutschen Versicherten bedeuten. Dafür gibt es aber weder im Abkommen noch in anderen Vorschriften eine Grundlage.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SozSichAbk ESP Art. 4 Fassung: 1959-10-29

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Oktober 1970 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger - im Jahre 1924 geboren, spanischer Staatsangehöriger, von 1962 bis 1966 als Gastarbeiter bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigt - kehrte im April 1966 nach Spanien zurück, nachdem er im März 1966 einen Antrag auf Gewährung von Versichertenrente gestellt hatte. Die gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten (6. Juli 1967) gerichtete Klage ist vor dem Sozialgericht (SG) Duisburg ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 17. April 1970). Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 16. Oktober 1970). Dazu hat das LSG festgestellt und ausgeführt: Der Kläger sei auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbar, weil er keinen Beruf erlernt und während seines Erwerbslebens keine Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe, die eine Verweisung auf das allgemeine Arbeitsfeld unzumutbar erscheinen ließen. Deshalb könne er sich nicht darauf berufen, daß für ihn in Spanien nur landwirtschaftliche Arbeiten in Betracht gekommen wären. Auch habe er sich durch die Aufnahme einer Tätigkeit als Arbeiter bei der Deutschen Bundesbahn von der Arbeit in der Landwirtschaft abgewandt. Er könne - seinem Gesundheitszustand nach - auf Tätigkeiten verwiesen werden, die nur oder vornehmlich im Sitzen zu verrichten seien. Schwere körperliche Arbeiten und solche Arbeiten, die häufiges Bücken erforderten, kämen nicht in Betracht; das Heben und Tragen schwerer Gegenstände sowie landwirtschaftliche Arbeiten seien nicht mehr zumutbar. Eine leichte Tätigkeit vorwiegend im Sitzen könne der Kläger ganztägig leisten. Er könnte z. B. Arbeiten an einer Stanzmaschine verrichten, kleinere Teile sortieren und verpacken oder - in der Kunststoff-, Spielzeug-, Fahrrad- und Schloßindustrie - zusammensetzen; in der Elektroindustrie könnte er Anker wickeln oder Verdrahtungsarbeiten an kleineren Schaltkästen leisten. - Darauf, daß in seinem Wohnort keine geeigneten Arbeitsplätze vorhanden seien, könne sich der Kläger nicht berufen; er könne - wie ein deutscher Arbeitnehmer bei gleicher Sachlage - auch auf Arbeitsplätze außerhalb seines Wohnortes verwiesen werden (Umzug). - Ob in Spanien geeignete Arbeitsplätze vorhanden seien, sei nicht zu prüfen; denn der Kläger sei auf den deutschen Arbeitsmarkt verweisbar. Weil er eine Leistung aus der deutschen Arbeiterrentenversicherung begehre, sei auf die Verhältnisse im Geltungsbereich der Reichsversicherungsordnung (RVO) abzustellen. Die Gleichstellung des Klägers mit einem deutschen Arbeitnehmer auf Grund des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Spanischen Staat über Soziale Sicherheit (deutsch-spanisches Sozialversicherungsabkommen) vom 29. Oktober 1959 (BGBl 1961 II 599; Art. 4) könne nicht bedeuten, daß nur auf den spanischen Arbeitsmarkt abzustellen wäre; allenfalls könne die Gleichstellung die Wirkung haben, daß neben dem deutschen Arbeitsmarkt auch der spanische zu berücksichtigen sei oder berücksichtigt werden könne. Der in seiner Heimat lebende Gastarbeiter könne nicht besser als der im Ausland lebende Deutsche gestellt sein. Andere Umstände als Krankheit, Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte (z. B. Nichterteilung einer Arbeitserlaubnis in der Bundesrepublik) könnten, auch wenn sie außerhalb des Willens des Versicherten lägen, nicht zu einer Rentengewährung führen.

Mit der Revision rügt der Kläger die unrichtige Anwendung des § 1246 Abs. 2 RVO. Nach den ärztlichen Gutachten stehe fest, daß seine Erwerbsfähigkeit - durch Schußverletzung - um 60 v. H. herabgesunken sei. Hieraus folge, daß er berufsunfähig sei. Nach dem Gesetz müsse seine Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen "eines körperlich und geistig Gesunden" herabgesunken, er müsse nicht erwerbsunfähig sein. Seine beschränkte Arbeitsmöglichkeit im Rahmen einer 40-prozentigen Erwerbsfähigkeit stehe seinem Anspruch auf Zahlung der vollen Rente nicht entgegen. Auf den Unterschied zwischen Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit seien die Vorinstanzen nicht eingegangen. Zu einer Beanstandung von Gutachten habe keine Veranlassung bestanden. - Nach dem deutsch-spanischen Sozialversicherungsabkommen sei er als spanischer Arbeitnehmer einem deutschen Arbeitnehmer gleichgestellt. Da er durch seine Verletzung invalide sei, erhalte er in der Bundesrepublik Deutschland keine Arbeitserlaubnis mehr. Die Verweisung auf den deutschen Arbeitsmarkt sei also rein theoretisch. In Spanien fände er bei dem wesentlich größeren Angebot von Arbeitskräften und wegen der in dem Dorf, in dem er mit seiner Familie wohne, vorherrschenden Agrarstruktur keine Tätigkeit im Sitzen; dies beweise die von seiner Heimatgemeinde bestätigte Arbeitslosigkeit. Die Provinz Almeria sei nicht industrialisiert. - Die Gleichstellung nach dem Abkommen verlange einen Vergleich zwischen einem in Spanien lebenden Gastarbeiter und einem in der Bundesrepublik lebenden Deutschen. Die Gegenüberstellung des LSG sei falsch; sie laufe auf eine Schlechterstellung des Gastarbeiters hinaus. Deshalb sei auf spanische Verhältnisse abzustellen.

Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides zur Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. März 1966 an zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen. Sie beruft sich auf die Ausführungen des LSG und die Beschlüsse des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG 30, 167 und 192) und ist der Meinung, daß der Kläger in der Bundesrepublik einen geeigneten Arbeitsplatz finden könne. Maßgebend seien die Arbeitsmarktverhältnisse im Geltungsbereich der deutschen Sozialversicherungsgesetze; dies folge auch aus Art. 22 Abs. 2 des deutsch-spanischen Sozialversicherungsabkommens.

Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Rentenanspruch; er ist noch nicht berufsunfähig.

Berufsunfähig ist nach § 1246 Abs. 2 Satz 1 und 2 RVO ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren, körperlich und geistig gesunden Versicherten herabgesunken ist; vergleichbar sind die gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs einer Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Das LSG hat mit Recht zunächst geprüft, welche Ausbildung der Kläger erhalten, welche beruflichen Tätigkeiten er bisher ausgeübt, welche Kenntnisse und Fähigkeiten er dabei erworben hat und auf welche Berufe er infolgedessen verwiesen werden darf. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbar ist. Diese Feststellung wird vom Kläger nicht angegriffen.

Sodann hat das LSG ermittelt, welche körperlichen und geistigen Funktionen des Klägers durch Krankheit oder Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte beeinträchtigt sind. Zusammenfassend hat das LSG hierzu festgestellt, der Kläger könne eine leichte Tätigkeit - vorwiegend im Sitzen - ganztägig verrichten. Auch dieses Ergebnis wird vom Kläger hingenommen; er macht es sich in der Revisionsbegründung sogar zu eigen.

Zu Unrecht beruft sich der Kläger auf die in den medizinischen Sachverständigengutachten geschätzten "Vomhundertsätze der Minderung der Erwerbsfähigkeit". Dieser Maßstab (MdE) gilt in der gesetzlichen Unfallversicherung und in der Kriegsopferversorgung, ist jedoch der Rentenversicherung für die Bewertung der Einbuße an Erwerbsfähigkeit fremd (vgl. BSG 9, 206, 208). In einem Streit über die Bewilligung der Rente wegen Berufsunfähigkeit erfüllt der medizinische Sachverständige nicht die ihm obliegende Aufgabe, dem Gericht die Unterlagen für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit zu liefern, wenn er die MdE nach Prozentsätzen bewertet (BSG, Urteil vom 16. Dezember 1960 - 3 RJ 156/58 -, SozEntsch. BSG V § 1246 (C) RVO nF Nr. 1 = Mitt. der Ruhrknappschaft 1962, 23). Hieraus erklärt sich auch die Fragestellung im Gutachtenauftrag. Der medizinische Sachverständige hat dem Gericht in erster Linie Angaben über den Gesundheitszustand zu machen und sich vom ärztlichen Standpunkt aus zu dem Einfluß der von ihm festgestellten Leiden auf die Fähigkeit des Versicherten zur Ausübung beruflicher Tätigkeiten zu äußern. Es gehört ferner zu seinen Aufgaben, in seinem Gutachten abzugrenzen, welche zumutbaren Tätigkeiten ein Versicherter trotz der festgestellten Leiden noch verrichten kann und von welchen zusätzlichen Voraussetzungen dies etwa noch abhängt sowie welche Arbeiten er wegen seines Gesundheitszustandes nicht oder nur noch in beschränktem Umfange ausüben kann. Das Gericht muß sich sodann auf Grund der medizinischen Stellungnahme selbst ein Urteil darüber bilden, welche Tätigkeiten der Versicherte noch übernehmen kann und ob seine Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren, körperlich und geistig gesunden Versicherten herangesunken ist. Dies ist in diesem Rechtsstreit geschehen. Der Unterschied zwischen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit ist nicht übersehen worden. Die in den Gründen des angefochtenen Urteils nicht besonders zum Ausdruck gekommene, aber der Entscheidung zugrunde liegende Schlußfolgerung des LSG, daß der Kläger mit ganztägigen leichten - vorwiegend im Sitzen zu verrichtenden - Tätigkeiten wenigstens die Hälfte des Durchschnittsverdienstes eines vergleichbaren gesunden Versicherten erzielen könne, ist nicht zu beanstanden.

Mit Recht hat das LSG dem Vorbringen des Klägers, er werde in der Bundesrepublik eine Arbeitserlaubnis nicht mehr erhalten, keine Bedeutung beigemessen. Hierbei - nämlich bei dem Fehlen einer Freizügigkeit, wie sie etwa im Bereich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gilt, im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Spanischen Staat - handelt es sich um ein Risiko, für das nicht die gesetzliche Rentenversicherung aufzukommen hat. Ob das Vorbringen des Klägers den Tatsachen entspricht, war nicht zu prüfen.

Schließlich können - wie das LSG zutreffend entschieden hat - Schwierigkeiten des Klägers, in seinem Heimatland einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden, nicht berücksichtigt werden. Unabhängig davon, inwieweit auch in diesem Zusammenhang rentenversicherungsfremde Risiken eine Rolle spielen mögen, ist das Verweisungsgebiet zugunsten des Versicherten grundsätzlich nicht über den Geltungsbereich der deutschen Versicherungsgesetze hinaus auszudehnen. Ausnahmen mögen für Verfolgte des Nationalsozialismus gelten, denen eine Rückkehr nach Deutschland nicht zuzumuten ist (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S. 670 f III; BSG, Urteil vom 4. September 1964 - 11/1 RA 178/61 -, SozEntsch. BSG VI § 23 (D) AVG nF Nr. 3 = RzW 1965, 188). In der Regel sind aber nur die Verhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt maßgebend. Das Gesetz enthält für die im Ausland lebenden Versicherten der deutschen Arbeiterrentenversicherung keine eigene Regelung. Ein Anlaß, die den Verfolgten ausnahmsweise und nur unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen zugebilligte Sonderstellung allgemein auch allen ausländischen Arbeitnehmern einzuräumen, die nach einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland in ihre Heimat zurückgekehrt sind, besteht nicht. Diese sind aus freien Stücken in die Bundesrepublik gekommen, um an den hier bestehenden günstigen Arbeitsmöglichkeiten teilzuhaben. Sie sind in ihren Rechten und Pflichten aus der deutschen Rentenversicherung den deutschen Staatsangehörigen grundsätzlich gleichgestellt, genießen aber sozialversicherungsrechtlich keine Privilegien. Auf sie sind im gleichen Umfange wie auf inländische Arbeitnehmer die Vorschriften der alle Beschäftigungsverhältnisse in ihrem Bereich erfassenden deutschen Versicherung aufzuwenden, sofern nicht zwischenstaatliche Abkommen entgegenstehen. Die von der Bundesrepublik Deutschland mit anderen Staaten geschlossenen Sozialversicherungsabkommen verbürgen die Gleichbehandlung der beiderseitigen Staatsangehörigen bei Anwendung der in jedem der Vertragsstaaten geltenden Gesetze und Regelungen, ohne daß die innerstaatlichen Gesetze und Regelungen berührt werden. Im Falle des Klägers gilt nichts anderes. Aus Art. 4 des deutsch-spanischen Sozialversicherungsabkommens ergibt sich nur die Gleichstellung der beiderseitigen Staatsangehörigen. Nichts ist dagegen dem Abkommen darüber zu entnehmen, daß etwa die Frage der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit eines nach deutschem Recht versicherten spanischen Arbeitnehmers nach Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses - auf welchem Grunde diese auch immer beruhen mag - ohne räumliche Bezogenheit zur Bundesrepublik nach den Verhältnissen des spanischen Aufenthaltsortes zu beurteilen sei. Wollte man diese Verhältnisse mit einbeziehen, so würde dies eine Besserstellung gegenüber den sich im Ausland aufhaltenden deutschen Versicherten bedeuten. Dafür gibt es aber weder im Abkommen noch in anderen Vorschriften eine Grundlage.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669954

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