Leitsatz (amtlich)
AVG § 10 Abs 1a gilt für die gemäß AVG § 7 Abs 2 von der Versicherungspflicht befreiten Personen auch während der Zeit, in der sie keine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Solange die Befreiung besteht, sind sie zur freiwilligen Versicherung nach AVG § 10 Abs 1 nur berechtigt, wenn sie für 60 Kalendermonate Beiträge entrichtet haben.
Leitsatz (redaktionell)
Erstattung von Rentenversicherungsbeiträgen nach AVG § 82:
1. Die Ansicht, AVG § 10 Abs 1a (= RVO § 1233 Abs 1a) gelte für die nach AVG § 7 Abs 2 (= RVO § 1230 Abs 2) Befreiten nur in Zeiten an sich gegebener Versicherungspflicht, findet in Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Vorschrift keine Stütze.
2. Sind für eine nach AVG § 7 Abs 2 (= RVO § 1230 Abs 2) befreite Person bis zum Tage der Antragstellung auf Erstattung der Beiträge nicht für 60 Kalendermonate Beiträge entrichtet worden, so sind für sie die Voraussetzungen der Erstattung nach AVG § 82 Abs 1 (= RVO § 1303 Abs 1) erfüllt.
Normenkette
AVG § 10 Abs. 1a Fassung: 1972-10-16, Abs. 1 Fassung: 1972-10-16, § 7 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 82 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1233 Abs. 1a Fassung: 1972-10-16, Abs. 1 Fassung: 1972-10-16, § 1303 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16, § 1230 Abs. 2
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Dezember 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin hat für die Zeit von August 1969 bis Oktober 1970 Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Angestellten entrichtet. Ab Januar 1971 wurde sie gemäß § 7 Abs. 2 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) wegen ihrer Mitgliedschaft im Versorgungswerk der Landesärztekammer Hessen von der Versicherungspflicht befreit. Seit September 1972 ist die Klägerin nicht mehr berufstätig; sie hat jedoch ihre Mitgliedschaft im Versorgungswerk aufrechterhalten. Ihren im November 1972 gestellten Antrag auf Beitragserstattung hat die Beklagte mit Bescheid vom 24. Mai 1973 abgelehnt, weil die Klägerin gemäß § 10 Abs. 1 AVG idF des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 zur freiwilligen Versicherung berechtigt sei.
Der hiergegen gerichteten Klage hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben (Urteil vom 4. Dezember 1973). Das Landessozialgericht (LSG) hat die - zugelassene - Berufung der Beklagten durch Urteil vom 10. Dezember 1974 mit der Begründung zurückgewiesen, die Klägerin könne sich aufgrund des § 10 Abs. 1 a AVG in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht freiwillig versichern, da ihr die dort geforderte Vorversicherungszeit von 60 Monaten fehle. Die Klägerin werde wegen der ausgesprochenen Befreiung von § 10 Abs. 1 a AVG erfaßt, auch wenn sie nur noch freiwillig Mitglied des Versorgungswerkes und nicht mehr erwerbstätig sei.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt die Verletzung der §§ 82 Abs. 1 und 10 Abs. 1 AVG. Nach ihrer Auffassung gilt § 10 Abs. 1 a AVG für die von der Versicherungspflicht gemäß § 7 Abs. 2 AVG befreiten Personen nur während der Zeit, in der sie eine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten. Sie hat sich ebenso wie die Beklagte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Die Klägerin hat nach § 82 AVG idF des RRG einen Anspruch auf Beitragserstattung. Von den hierfür erforderlichen Voraussetzungen ist nur streitig, ob ihr kein Recht zur freiwilligen Versicherung zusteht. Da im Zeitpunkt der Antragstellung, erst recht aber bei Ablauf der 2-Jahresfrist für die Geltendmachung des Anspruchs (§ 82 Abs. 1 Satz 3 AVG) § 10 AVG schon idF des RRG galt (Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG), ist für die Versicherungsberechtigung § 10 AVG in dieser Fassung maßgebend (Urteile des Senats vom selben Tage - 11 RA 200/74 und 64/75 -).
Hiernach ist die Klägerin nicht versicherungsberechtigt, wenn für sie § 10 Abs. 1 a AVG gilt, weil dann eine Vorversicherungszeit von 60 Monatsbeiträgen verlangt wird, die ihr fehlt. Das LSG hat zutreffend die Anwendbarkeit von § 10 Abs. 1 a AVG bejaht.
Unter Abs. 1 a fallen Personen, die nach § 6 AVG versicherungsfrei oder "nach den §§ 7 und 8 von der Versicherungspflicht befreit sind". Die Klägerin ist nach § 7 Abs. 2 AVG von der Versicherungspflicht befreit. Nach dem Wortlaut von § 10 Abs. 1 a AVG gehört sie damit zum dort erfaßten Personenkreis. Daran ändert nichts, daß die Befreiung sich nur in Zeiten an sich gegebener Versicherungspflicht auswirkt; der Gesetzeswortlaut differenziert nicht nach "latenter" und voller Wirksamkeit.
Die Ansicht der Beklagten, § 10 Abs. 1 a AVG gelte für die nach § 7 Abs. 2 AVG Befreiten nur in Zeiten an sich gegebener Versicherungspflicht, findet auch in Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Vorschrift keine Stütze. § 10 Abs. 1 a AVG war im Regierungsentwurf zum RRG noch nicht enthalten (vgl. BT-Drucks. VI/2916, §§ 1232 a Reichsversicherungsordnung, 9 a AVG sowie zu BT-Drucks. VI/3716, S. 5); er beruht auf Beschlüssen des Bundestages (Protokolle vom 20. September 1972, S. 11599, 11600, Anl. 4 und vom 21. September 1972, S. 11607, 11711 iVm BT-Drucks. VI/3781). An Äußerungen zur Begründung läßt sich nur diejenige des Abgeordneten Ruf finden (S. 11600), daß man "ähnlich, wie es die Regierung getan hat, die Beamten herausgenommen" habe, "um eine Doppelversorgung zu vermeiden". Das zeigt, daß der Bundestag bei der Einschränkung der Versicherungsberechtigung dem Regierungsentwurf in der Tendenz folgen wollte. Der dort noch vorgesehene Ausschluß der nach § 6 AVG Versicherungsfreien und nach §§ 7, 8 AVG Befreiten vom "Recht auf allgemeine Versicherung" war damit begründet worden (BT-Drucks. VI/2916, S. 39), daß "für diesen Personenkreis ein Schutz durch die Rentenversicherung nicht erforderlich" sei, "da sie bereits Altersruhegeld beziehen oder ihre soziale Sicherung in anderer Weise gegeben ist"; es handele sich insbesondere um Beamte und um Angestellte, die sich von der Versicherungspflicht haben befreien lassen.
Mag somit in erster Linie an Beamte und an - noch als solche beschäftigte - Angestellte gedacht gewesen sein, so war doch auch für die mit § 10 Abs. 1 a AVG erfolgte eingeschränkte Zulassung des betroffenen Personenkreises zur Versicherungsberechtigung sonach maßgebend, daß der Gesetzgeber diese Personen bereits außerhalb der Rentenversicherung für sozial gesichert hielt; deshalb hielt er es nicht für gerechtfertigt, ihnen in gleicher Weise wie anderen, nicht so gesicherten Personen das Versicherungsrecht zu eröffnen.
Nach diesem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung besteht aber kein einleuchtender Grund, bei den nach § 7 Abs. 2 AVG Befreiten zwischen Zeiten an sich gegebener Versicherungspflicht und anderen Zeiten zu unterscheiden, d. h. für erstere § 10 Abs. 1 a AVG iVm Abs. 1 und für letztere nur § 10 Abs. 1 AVG anzuwenden. Die Beklagte übersieht, daß die nach § 7 Abs. 2 AVG Befreiten auch in Zeiten, in denen sie keine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben, nicht nur ihre Mitgliedschaft in der Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe aufrechterhalten, sondern auch ihren dortigen Versicherungs- bzw. Versorgungsschutz ausbauen können. Vom Standpunkt der Beklagten aus könnten sie in denselben Zeiten eine doppelte Versicherung bzw. Versorgung, zum einen in ihrer Berufsgruppenversicherung bzw. -versorgung und zum anderen in der Rentenversicherung, und zwar hier ohne Vorversicherungszeit von 60 Monaten, erreichen. Das widerspricht den Absichten des Gesetzgebers.
Im übrigen ist noch darauf hinzuweisen, daß die nach § 7 Abs. 2 AVG Befreiten, wenn sie keine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben, ihre Mitgliedschaft in der Berufsgruppenversicherung bzw. -versorgung beenden und damit den Widerruf der Befreiung (§ 7 Abs. 5 AVG) erreichen können; dann haben sie das Versicherungsrecht nach § 10 Abs. 1 AVG. Die hier vorgenommene Auslegung des § 10 Abs. 1 a AVG verschließt ihnen also nicht die Erlangung der Versicherungsberechtigung in der Rentenversicherung, wenn sie sich nicht mehr in ihrer Berufsgruppenversicherung bzw. -versorgung sozial sichern wollen.
Nach alledem war der Revision der Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen