Leitsatz (amtlich)
1. Es wird an der Auffassung festgehalten, daß bei der Beurteilung der Frage, welche Beträge dem Unterhalt der Familie zuzurechnen sind, von den Nettoeinkünften der Familienmitglieder auszugehen ist (vgl BSG 1972-11-16 11 RA 154/71 = SozR Nr 12 zu § 1266 RVO).
2. Einbehaltene Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung sind kein Beitrag zum Familienunterhalt iS des § 43 AVG (= § 1266 RVO).
Normenkette
AVG § 43 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1266 Fassung: 1957-02-23; BGB § 1360a Fassung: 1957-06-18, § 1361 Fassung: 1976-06-14, § 1578 Abs 3 Fassung: 1976-06-14
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.09.1980; Aktenzeichen L 13 An 55/79) |
SG München (Entscheidung vom 21.11.1978; Aktenzeichen S 17 An 587/77) |
Tatbestand
Streitig ist, ob dem Kläger eine Witwerrente aus der Angestelltenversicherung seiner am 21. August 1976 gestorbenen Ehefrau zusteht.
Die Beklagte lehnte diesen Anspruch ab, weil die Verstorbene den Unterhalt der - kinderlosen - Familie nicht überwiegend bestritten habe. Das Sozialgericht (SG) gab der Klage statt, die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. Zur Begründung hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt, die Verstorbene habe den Familienunterhalt überwiegend bestritten. Sowohl für den Unterhalt der Familie als auch die Beiträge der Ehegatten hierzu komme es allein auf die tatsächlich zur Verfügung stehenden Mittel (Nettoeinkommen) an, mithin nicht auf die jeweils gezahlten Steuern sowie die Beiträge zur gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung. Dies sei der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu entnehmen und entspreche auch der nunmehr in § 14 Abs 2 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IV) getroffenen Regelung bei Nettoarbeitsentgelten. Unberücksichtigt bleiben könnten ferner die Beiträge des Klägers zur Krankenversicherung, weil diese weder der wirtschaftlichen Sicherung dienten noch in hohem Maße familienbezogen seien; sie könnten im übrigen auch vom rechnerischen Ergebnis her vernachlässigt werden. Danach habe der Kläger während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes mit 21.528,10 DM zum Familienunterhalt beigetragen, seine verstorbene Ehefrau mit insgesamt 22.668,64 DM. Der Wert der Haushaltsführung sei hier beiden Ehegatten je zur Hälfte zuzurechnen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 43 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Zum Familienunterhalt gehörten entgegen der Auffassung des LSG auch die Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung. Berücksichtige man diese, dann habe nicht die Verstorbene, sondern der Kläger den Familienunterhalt überwiegend bestritten, so daß ihm kein Anspruch auf Witwerrente zustehe. Den Unterhaltsbedarf der Familie und den jeweiligen Anteil der Ehegatten daran prägten neben den beiderseits verfügbaren Nettoeinkommen auch die Vorsorgeaufwendungen für den Fall von Krankheit, Invalidität, Alter und Tod. Dies erkenne man im Zivilrecht allgemein an. § 1360a Abs 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) über den angemessenen Unterhalt der Familie sei aber auch zur Auslegung von § 43 AVG heranzuziehen. Ob die Vorsorgeaufwendungen freiwillig erbracht werden oder - wie im Falle des Klägers - aufgrund gesetzlicher Versicherungspflicht, bleibe insofern belanglos. Anders als Steuern gingen Sozialabgaben für den Familienunterhalt nicht "verloren", sondern bildeten eine Versorgungsgrundlage für die Familie von kapitalähnlichem Wert, wie dies die Vorschriften über den Versorgungsausgleich zwischen geschiedenen Ehegatten verdeutlichten.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des
Urteils des Sozialgerichts München vom 21. November 1978
die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet; die Vorinstanzen haben den Anspruch des Klägers auf Witwerrente zu Recht bejaht.
Nach § 43 AVG erhält Witwerrente der Ehemann nach dem Tode seiner versicherten Ehefrau, wenn die Verstorbene den Unterhalt ihrer Familie überwiegend bestritten hat. Dies ist der Fall, wenn ihr Beitrag zum Familienunterhalt höher als die übrigen Beiträge, im vorliegenden Falle höher als der des Klägers war. Da sich hier die Beiträge zur Haushaltsführung wertmäßig aufgehoben haben, kommt es entscheidend auf die jeweils für den Familienunterhalt verwendeten finanziellen Mittel an. Insoweit hat das LSG zutreffend auf die Nettoeinkünfte abgestellt. Das entspricht der Rechtsprechung des BSG (vgl SozR Nr 12 zu § 1266 RVO; SozR 2200 § 593 Nr 1 und § 1266 Nrn 5 und 16), von der abzuweichen der Senat keinen Anlaß sieht.
Diese Rechtsprechung hat wegen der maßgeblichen Nettoeinkünfte nicht nur die einbehaltene Lohnsteuer, sondern auch einbehaltene Sozialabgaben nicht als Beitrag des betroffenen Familienmitglieds zum Familienunterhalt angesehen (SozR Nr 12 zu § 1266 RVO unter Hinweis auf BSGE 32, 197, 199; SozR 2200 § 1266 Nr 5 am Ende). Die Beklagte wendet demgegenüber zu Unrecht ein, daß im Zivilrecht die Vorsorgeaufwendungen für Krankheit, Invalidität, Alter und Tod zum Unterhalt zählten. Insofern ist richtig, daß die Regelungen des bürgerlichen Rechts (§ 1360a BGB) für die Abgrenzung des Familienunterhalts iS des § 43 AVG einen brauchbaren Maßstab bieten können (vgl BSGE 28, 185, 189; SozR 2200 § 1266 Nr 5). Der Senat hat jedoch schon im Urteil vom 9. Februar 1978 (BSGE 46, 11, 13) hervorgehoben, daß sich die Frage nach dem Unterhaltscharakter der Vorsorgeaufwendungen nach bürgerlichem Recht weder eindeutig noch immer einheitlich beurteilen läßt; selbst nach dem seit 1. Juli 1977 geltenden Recht (§§ 1361, 1578 Abs 3 BGB) habe der Gesetzgeber die Kosten einer angemessenen Versicherung für den Fall des Alters nur unter bestimmten Voraussetzungen bei getrennt lebenden und bei geschiedenen Eheleuten in den Unterhalt einbezogen (vgl dazu neuerdings Göppinger, Unterhaltsrecht, 4. Aufl, S 457 ff). Im vorliegenden Falle geht es noch um Unterhaltsbeiträge in der Zeit vor dem 1. Juli 1977. Damals bestand aber wohl nur für die Vorsorge im Falle der Krankheit eine allgemeine Auffassung, daß sich der Unterhaltsanspruch eines Berechtigten hierauf erstreckt (vgl Göppinger aaO, Rz 957 f und SozR 2200 § 1265 Nr 51 - die dortige Frage, ob nicht im Hinblick auf § 1578 Abs 3 BGB die Entscheidung BSGE 46, 11 "überholt" sei, ist allerdings wegen des ausdrücklichen Eingehens dieser Entscheidung auf die genannte Vorschrift, vgl S 13, nicht verständlich -).
Wie für § 42 AVG (BSGE 46 aaO), so kommt es indessen auch für die Auslegung des Unterhaltsbegriffs in § 43 AVG letztlich entscheidend darauf an, ob § 43 AVG nach seinem gesamten Wortlaut und seinem Sinn und Zweck es rechtfertigt, Vorsorgeaufwendungen als Familienunterhalt zu behandeln. Das ist bei den streitigen einbehaltenen Pflichtbeiträgen (Beitragsanteilen) zur Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung nicht der Fall.
Dagegen spricht schon die in BSGE 46 aaO angestellte Erwägung, daß Hinterbliebenenrenten immer nur einen gegenwärtigen Lebensbedarf befriedigen sollen und nicht die Aufgabe haben, Hinterbliebene noch zusätzlich vor den Folgen weiterer möglicher Wechselfälle in ihrem Leben zu schützen. Deshalb kann auch der Witwerrente nicht die Funktion zukommen, zu Lebzeiten der Versicherten vorgenommene Vorsorgeaufwendungen zu ersetzen. Im Rahmen des § 43 AVG steht der Auffassung der Beklagten darüber hinaus der Gesetzeswortlaut entgegen. Wenn das Gesetz dort darauf abstellt, ob die Versicherte "den Familienunterhalt überwiegend bestritten" hat, so bringt es durch diesen Wortlaut die Vorstellung eines Einbringens von Geldmitteln und sonstigen Leistungen und damit eines Tätigwerdens für den Unterhalt der Familie zum Ausdruck. Der einzelne Ehegatte "bestreitet" den Unterhalt dadurch, daß er Unterhaltsmittel zur Verfügung stellt (oder sich im Haushalt betätigt), nicht aber schon dadurch, daß er durch eine Erwerbstätigkeit Voraussetzungen dafür schafft, daß der Familienunterhalt bestritten werden kann. Maßgebend ist also nicht schon die Höhe von Einkünften oder Unterhaltsansprüchen, sondern das Verhältnis, in dem jeder der beiden Ehegatten zum Familienunterhalt beigetragen hat. Das schließt es aus, solche Einkommensteile zu berücksichtigen, über die der einzelne Ehegatte nicht hat verfügen und die er damit auch nicht zur Verfügung hat stellen können. Demzufolge kommen für das Bestreiten des Familienunterhalts nur die nach dem Abzug von Lohn- und Kirchensteuer sowie von Sozialabgaben tatsächlich zur Verfügung stehenden Mittel in Betracht.
Daß die einbehaltenen Abgaben dem Betroffenen und mittelbar auch der Familie zum Vorteil gereichen, kann nichts daran ändern, daß der Lohnabzug unabhängig vom Willen des Betroffenen erfolgt und deshalb keinen Beitrag darstellt, mit dem er Familienunterhalt "bestreitet". Das gilt ebenso für alle sonstigen Vorteile für den Familienunterhalt, die ohne aktives Zutun aus Umständen entstehen, die bei einem Familienmitglied gegeben sind. Deshalb kann, wie vom LSG erwähnt, auch nicht als Beitrag der Versicherten, mit dem sie Familienunterhalt bestritten hätte, berücksichtigt werden, daß der Rentenversicherungsträger für ihre Krankenversicherung als Rentnerin Beiträge an den Krankenversicherungsträger abgeführt hat. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, daß selbst das Nettoeinkommen im Rahmen von § 43 AVG nur insoweit zu berücksichtigen ist, als es tatsächlich zur Bestreitung des Familienunterhalts verwandt worden ist; es wäre darum wenig sinnvoll, wollte man einerseits Einkommensteile außer acht lassen, die der Ehegatte nicht zum Unterhalt der Familie verwandt hat, obgleich er das tun konnte und möglicherweise sollte, dagegen andererseits Einkommensteile und sonstige "Vorteile" berücksichtigen, die seiner freien Verfügung niemals unterlegen hatten. Der § 43 AVG zugrunde liegende Gedanke, Witwerrente dann zu gewähren, wenn die Ehefrau abweichend von einem vorgestellten Regelfall die "Ernährerin" der Familie war, kann jedenfalls verwirklicht werden, wenn die Frage, ob sie den Familienunterhalt überwiegend bestritten hat, anhand der eingebrachten Nettoeinkünfte beantwortet wird. Es läßt sich nicht erkennen, daß sie auf der Grundlage von Bruttoeinkünften besser und gerechter getroffen werden könnte; ob das eine oder das andere Verfahren für den Witwer zu günstigeren Ergebnissen führen würde, bliebe stets eine Frage des Einzelfalles.
Da sich nach alledem das angefochtene Urteil als richtig erweist, war die Revision der Beklagten mit der sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 SGG).
Fundstellen
BSGE, 34 |
Breith. 1982, 785 |