Leitsatz (amtlich)
Die Anwendung eines allgemeinen Ausreiseverbots auf in die deutschen Ostgebiete Evakuierte stellt sich als feindliche Maßnahme iS des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO) dar.
Orientierungssatz
Zum Begriff der feindlichen Maßnahme iS des § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO:
1. In seiner Anwendung auf Nachkriegsgeschehen kann der Begriff der feindlichen Maßnahme nicht so verstanden werden, daß er alle Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates umfaßt. Es ist daher an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten, daß es sich um Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates handeln muß, die sich allgemein gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland richteten.
2. Bei einem allgemeinen Ausreiseverbot darf eine feindliche Maßnahme nicht von vornherein immer mit der Begründung verneint werden, das Verbot habe nicht hauptsächlich deutsche Volkszugehörige oder speziell die Ausreise nach Deutschland betroffen. Insoweit können neben der Zielsetzung des Ausreiseverbotes auch die tatsächlichen Auswirkungen seiner Anwendung von Bedeutung sein. Entscheidend ist nämlich auch, ob der fremde Staat für einzelne Deutsche oder eine Gruppe von Deutschen eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung hätte zulassen müssen.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 30.09.1980; Aktenzeichen L 12 An 84/78) |
SG Berlin (Entscheidung vom 13.07.1978; Aktenzeichen S 20 An 2052/76) |
Tatbestand
Streitig ist die Vormerkung einer Ersatzzeit.
Der im Jahre 1936 in Berlin geborenen und von dort im August 1943 zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Wartenburg/Ostpreußen evakuierten Klägerin gelang es erst im Februar 1957 im Wege der Familienzusammenführung zum Wohnsitz der Familie in Berlin (West) zurückzukehren. Ihren Antrag, die Zeit vom 29. Juni 1950 (Vollendung des 14. Lebensjahres) bis zum 28. Februar 1957 als Ersatzzeit vorzumerken, lehnte die Beklagte ab, da die Klägerin nicht durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr nach Berlin gehindert worden sei (Bescheid vom 30. April 1976).
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 13. Juli 1978). Die Beklagte hat nach Einlegung der Berufung die Zeit vom 4. August 1952 bis zum 22. Februar 1957 als Pflichtbeitragszeit gemäß dem deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommen anerkannt. Hinsichtlich dieses Zeitraums hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und im übrigen die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 30. September 1980). Das LSG hat den Ersatzzeittatbestand des § 28 Abs 1 Nr 3 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) bejaht und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin habe nach Kriegsende und insbesondere in der strittigen Zeit nach Berlin ernsthaft zurückkehren wollen. Ihr sei die Ausreise von den polnischen Behörden verweigert worden. Es sei jedoch nicht erwiesen, daß der polnische Staat die Klägerin wegen ihres Deutschtums oder deshalb festgehalten habe, weil die Rückreise gerade in die Bundesrepublik Deutschland (einschließlich Berlins) beabsichtigt gewesen sei. Eine "feindliche Maßnahme" sei nach dem Wortsinn jede Maßnahme eines (ehemaligen) Feindstaates Deutschlands. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) habe jedoch ein Ausreiseverbot nur dann als feindliche Maßnahme anerkannt, wenn dieses sich hauptsächlich gegen deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige gerichtet habe oder die Ausreise gerade in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland untersagt worden sei. Gleichwohl sei auch ein für alle Bewohner geltendes allgemeines Ausreiseverbot in seiner Anwendung auf die Gruppe der Evakuierten, deren rentenversicherungsrechtliche Entschädigung nach den Gesetzesmaterialien beabsichtigt gewesen sei, als feindliche Maßnahme anzuerkennen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben, soweit diese die
Beklagte verurteilt haben und die Klage in vollem
Umfang abzuweisen.
Die Beklagte rügt eine Verletzung des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG. Die Absicht des Gesetzgebers, die Voraussetzungen zu schaffen, daß diese Vorschrift unter anderem auf den Personenkreis der Evakuierten Anwendung finden könne, ändere nichts daran, daß auch dieser Personenkreis die weiteren Tatbestandsmerkmale erfüllen müsse.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zurückzuweisen.
Die streitige Zeit vom 29. Juni 1950 bis zum 3. August 1952 ist als Ersatzzeit iSd § 28 Abs 1 Nr 3 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 3 Reichsversicherungsordnung -RVO-) vorzumerken. Ersatzzeit iS dieser Vorschrift idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 (BGBl I, 476) sind Zeiten, in denen der Versicherte während oder nach Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland oder den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist.
Der Begriff "feindliche Maßnahmen" ist im Gesetz nicht näher definiert. Er fand sich schon in § 17 Abs 2 des Gesetzes vom 15. Januar 1941 zur Rückkehrverhinderung "während des Krieges" und wurde durch die Verordnung vom 17. März 1945 (Artikel 17) in § 1263 Nr 4 RVO und durch die Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze von 1957 in die §§ 28 AVG, 1251 RVO übernommen, und zwar auch für Zeiten des Ersten Weltkrieges. Ob während eines Krieges als feindliche Maßnahme nach dem Wortsinn alle Maßnahmen eines Feindstaates anzusehen sind, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn der Ersatzzeittatbestand erfaßt in der hier anzuwendenden Fassung des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 auch Maßnahmen "nach Beendigung eines Krieges" und zwar ohne zeitliche Begrenzung. Die hier streitige Zeit der Rückkehrverhinderung liegt Jahre nach dem Kriegsende. In seiner Anwendung auf Nachkriegsgeschehen kann der Begriff der feindlichen Maßnahme jedenfalls nicht so verstanden werden, daß er alle Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates umfaßt. Denn es verbietet sich schon vom Ergebnis her, etwa die Verhaftung eines Straftäters im Ausland nur deshalb als feindliche Maßnahme anzusehen, weil sie durch einen ehemaligen Feindstaat erfolgt. Es ist daher an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten, daß es sich um Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates handeln muß, die sich allgemein gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland richteten. Diese Zielsetzung wurde in der bisherigen Rechtsprechung dann als gegeben angesehen, wenn die Maßnahme hauptsächlich Bevölkerungsteile mit deutscher Volkszugehörigkeit traf oder gerade die Ausreise nach Deutschland verhinderte (Urteile des erkennenden Senats BSGE 43, 218, 220; Urteil des 1. Senats BSGE 47, 113, 115 mit weiteren Nachweisen; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Auslegung vg Beschluß des Dreier-Ausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 1980 - 1 BvR 707/79 -). Wurde auf im Ausland wohnende Volksdeutsche ein für die Bewohner allgemein geltendes Ausreiseverbot angewandt, so hat die Rechtsprechung darin dagegen keine feindliche Maßnahme gesehen.
Die bisher anerkannten Unterfälle für die Bewertung einer Maßnahme als feindlich, dh gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland gerichtet, sind jedoch nicht als eine erschöpfende Aufzählung zu verstehen. Deshalb darf bei einem allgemeinen Ausreiseverbot eine feindliche Maßnahme nicht von vornherein immer mit der Begründung verneint werden, daß Verbot habe nicht hauptsächlich deutsche Volkszugehörige oder speziell die Ausreise nach Deutschland betroffen. Insoweit können neben der Zielsetzung des Ausreiseverbots auch die tatsächlichen Auswirkungen seiner Anwendung von Bedeutung sein. Dementsprechend hat der Senat in seinem Urteil vom 8. März 1977 eine feindliche Maßnahme auch anerkannt im Falle eines Kriegsgefangenen, der zur Arbeitsleistung in die Ostgebiete entlassen und wegen des allgemeinen Ausreiseverbots an der Rückkehr in die Bundesrepublik gehindert worden war (BSGE 43, 218). Entscheidend ist nämlich auch, ob der fremde Staat für einzelne Deutsche oder eine Gruppe von Deutschen eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung hätte zulassen müssen. Eine solche war nicht nur im Falle des genannten Kriegsgefangenen geboten; eine Ausnahme war ferner für die Evakuierten zu erwarten, die ihren Wohnsitz außerhalb der Vertreibungsgebiete hatten, sich bei Kriegsende aber noch in den Vertreibungsgebieten befanden und an ihren Wohnsitz zurückkehren wollten (ähnlich Breuer in AmtlMitt LVA Rheinprovinz 1979, 357, 367). Wenn der ehemalige Feindstaat auch diese Gruppe in das allgemeine Ausreiseverbot einschloß, so lag in dieser Erstreckung gerade eine Richtung gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland, die das Ausreiseverbot in der Auswirkung auch auf die Evakuiertengruppe als feindliche Maßnahme kennzeichnet.
Diese Auslegung trägt zugleich der Absicht des Gesetzgebers Rechnung, mit der Neufassung des Ersatzzeittatbestandes durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz diejenigen Versicherten zu begünstigen, die insbesondere während des Krieges in die deutschen Ostgebiete evakuiert und nach Kriegsende dort festgehalten worden sind (vgl BT-Drucks IV/2572 S. 25). Würde die Anwendung eines allgemeinen Ausreiseverbots auf Evakuierte nicht als feindliche Maßnahme angesehen, so würden die in die deutschen Ostgebiete Evakuierten zumindest in der Regel den für sie geschaffenen Ersatzzeittatbestand nicht erfüllen können. Denn sowohl für Polen als auch für die CSSR galt ein allgemeines Ausreiseverbot (zu Polen vgl Urteil des LSG NW in Breithaupt 1977, 236; zur CSSR vgl Urteil des BSG vom 15. Juni 1976 - 11 RA 104/75 - in AmtlMitt LVA Rheinprovinz 1977, 37).
Die Anwendung des allgemeinen Ausreiseverbots auf die Klägerin, die sich als Evakuierte unter Beibehaltung ihres Wohnsitzes in Berlin im Vertreibungsgebiet nur vorübergehend aufgehalten hat, stellt sich somit als feindliche Maßnahme dar, wie schon das LSG zutreffend entschieden hat.
Die Revision der Beklagten war daher mit der Kostenfolge aus § 193 Sozialgerichtsgesetz zurückzuweisen.
Fundstellen