Leitsatz (amtlich)
1. Das für den Anspruch auf Erziehungsgeld maßgebliche „voraussichtliche” Einkommen im Kalenderjahr der Geburt ist anhand der bis zum Abschluß des Verwaltungsverfahrens einschließlich eines Widerspruchsverfahrens bekannten Tatsachen festzustellen. Liegt beim Abschluß des Verwaltungsverfahrens erst im Folgejahr das endgültige Einkommen bereits fest, ersetzt dieses das „voraussichtliche” Einkommen.
2. Der Verzögerung des Widerspruchsverfahrens über einen Erziehungsgeldbescheid durch Nichtabgabe einer Begründung kann durch Setzen einer angemessenen Frist begegnet werden.
Stand: 15. Mai 2000
Beteiligte
Landesversorgungsamt Nordrhein-Westfalen |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Juni 1998 geändert und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 6. August 1997 zurückgewiesen.
Das beklagte Land hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt höheres Erziehungsgeld (Erzg) für den siebten bis zwölften Lebensmonat (6. Januar bis 5. Juli 1997) ihres am 6. Juli 1996 geborenen zweiten Kindes.
Die Klägerin war nach der Geburt des Kindes nicht erwerbstätig. Auf ihren Antrag bewilligte das beklagte Land Erzg für den ersten bis sechsten Lebensmonat ungekürzt, für den siebten bis zwölften Lebensmonat aber nur noch in Höhe von 484 DM monatlich (Bescheid vom 8. August 1996); dabei berücksichtigte es das voraussichtliche Jahreseinkommen des Ehemannes der Klägerin im „Kalenderjahr der Geburt” (1996) in Höhe von 52.787 DM, und zwar nach dessen Verdienstbescheinigung vom Juli 1996, die den gezahlten Lohn von Januar bis Juli sowie das geschätzte Einkommen von August bis Dezember (einschließlich Urlaubs- und Weihnachtsgeld) aufführte. Die Klägerin legte am 7. September 1996 wegen der Höhe des Erzg für den siebten bis zwölften Lebensmonat Widerspruch ein, bat um Fristverlängerung für die Begründung des Widerspruchs und begründete diesen am 3. Februar 1997 damit, daß das tatsächliche Bruttoeinkommen um 1.874,72 DM geringer sei als das prognostizierte Einkommen; dazu reichte sie die inzwischen vollständig vorliegenden monatlichen Lohnbescheinigungen des Jahres 1996 ein.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben und das beklagte Land verurteilt, Erzg nach dem tatsächlichen Bruttoeinkommen von 50.912 DM „nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen” zu gewähren (Urteil vom 6. August 1997). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. Juni 1998): Der Zeitpunkt des Bewilligungs-, nicht derjenige des Widerspruchsbescheides sei maßgeblich; das gelte vor allem wegen des unter Umständen langen Zeitraums zwischen Bescheid und Widerspruchsbescheid, wie auch der vorliegende Fall zeige. Soweit – wie hier – kein Härtefall vorliege, habe der Gesetzgeber keine Abweichung vom prognostizierten Einkommen zugelassen.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere von § 6 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG). Grundlage der Prognose müßten alle bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides erkennbaren Umstände sein. Bei dem Vorgehen des beklagten Landes sei sie (die Klägerin) durch das um ca 2.000 DM geringer ausgefallene Einkommen und das entgangene Erzg doppelt benachteiligt. Nach dem Prinzip der Meistbegünstigung müsse es ihr überlassen bleiben, ob sie das prognostizierte oder das tatsächliche Einkommen wähle. Andernfalls werde sie im Vergleich zu denjenigen ungleich behandelt, die wegen späterer Einkommensverbesserung ein zu hohes Erzg erhielten und behalten dürften. Im übrigen liege auch eine Härte vor.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Juni 1998 abzuändern und die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 6. August 1997 zurückzuweisen.
Das beklagte Land beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des LSG war aufzuheben, das Urteil des SG wiederherzustellen. Die Klägerin hat Anspruch auf Berechnung des Erzg für den siebten bis zwölften Lebensmonat des Kindes nach dem bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides feststehenden tatsächlichen Bruttoeinkommen ihres Ehemannes im Jahre 1996.
Da der Sohn der Klägerin am 6. Juli 1996 geboren wurde, ist das BErzGG in der ab 1. Januar 1994 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (BGBl I, 180) anzuwenden. Gemäß § 5 Abs 2 Satz 2 BErzGG wird das Erzg vom Beginn des siebten Lebensmonats an gemindert, wenn das Einkommen iS von § 6 BErzGG bei Verheirateten, die von ihrem Ehegatten nicht dauernd getrennt leben, 29.400 DM übersteigt; diese Einkommensgrenze erhöht sich um 4.200 DM für jedes weitere Kind der Berechtigten oder ihres nicht dauernd von ihr getrennten Ehegatten, für das ihr oder ihrem Ehegatten Kindergeld gewährt wird oder ohne die Anwendung des § 8 Abs 1 Bundeskindergeldgesetz gewährt werden würde. Nach § 6 Abs 2 Satz 1 BErzGG ist für die Minderung im ersten bis zwölften Lebensmonat des Kindes „das voraussichtliche Einkommen im Kalenderjahr der Geburt” (hier: 1996) maßgebend. Voraussetzung ist, daß die für das Geburtsjahr bekannten Einkommensdaten eine verläßliche Prognose des Jahreseinkommens zulassen (BSG SozR 3-7833 § 4 Nr 1 und BSG SozR 3-7833 § 6 Nr 15).
Allein die spätere Erzielung eines niedrigeren tatsächlichen Bruttoeinkommens hätte der Klägerin keinen Anspruch gegeben, die auf der dargelegten Basis erstellte Einkommensprognose nachträglich korrigieren zu lassen und so ein höheres Erzg zu erlangen. Die Verbindlichkeit der gemäß § 6 Abs 2 Satz 1 BErzGG von der Verwaltung getroffenen Einkommensprognose kann grundsätzlich nicht mehr dadurch in Frage gestellt werden, daß sich im Nachhinein ein anderes (tatsächliches) Einkommen ergibt; vielmehr müssen – wie bei jeder Prognose – Restzweifel und -ungenauigkeiten in Kauf genommen werden. Diese Auslegung ergibt sich aus Sinn und Zweck der Neuregelung des Erzg-Rechts zum 1. Juli 1993 durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms (FKPG) vom 23. Juni 1993 (BGBl I, 944, 947).
Nach der bis zum 30. Juni 1993 geltenden Regelung (§ 6 BErzGG idF vom 25. Juli 1989, BGBl I, 1550) war für die Einkommensermittlung nicht das aktuelle, sondern grundsätzlich „das vorletzte Kalenderjahr vor der Geburt” maßgeblich gewesen. Dabei waren die positiven Einkünfte „so, wie sie der Besteuerung zugrunde gelegt worden sind” (§ 6 Abs 1 Satz 1 BErzGG 1989) heranzuziehen, notfalls aufgrund einer vorläufigen Ermittlung und Gewährung von Erzg unter dem Vorbehalt der Rückforderung (§ 6 Abs 1 Satz 1 und 3, Abs 4 Satz 3 BErzGG); die endgültige Bewilligung wurde nach Vorlage des Steuerbescheides vorgenommen, was allerdings zu einer Doppelbelastung der Verwaltung führte.
Mit der Reform des § 6 BErzGG durch das FKPG, das nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers der Entlastung der öffentlichen Haushalte dienen sollte (BT-Drucks 12/4401, S 4, 46, 64), hat der Gesetzgeber zwar weiterhin an der Einkommensermittlung nach den Vorschriften des Einkommenssteuerrechts festgehalten. Zur Verwaltungsvereinfachung, vor allem ausdrücklich aber auch zur Ausgabenersparnis wegen des in aller Regel höheren Einkommens im „aktuellen Jahr” (BT-Drucks 12/4401, S 46), hat der Gesetzgeber jedoch an dieses angeknüpft. Weil das endgültige Einkommen häufig erst Monate nach Ablauf des betreffenden Jahres feststeht, wenn auch der Einkommenssteuerbescheid vorliegt, hat der Gesetzgeber, um gleichwohl eine baldige Entscheidung über das Erzg zu ermöglichen, der Verwaltung aufgegeben, das Einkommen im laufenden Jahr zu prognostizieren. Zur Vermeidung eines doppelten Verwaltungsaufwandes hat der Gesetzgeber aber nicht die Lösung gewählt, das Erzg zunächst nur vorläufig und erst nach Vorliegen des Einkommenssteuerbescheides endgültig festzusetzen; er hat vielmehr nur für Härtefälle in § 6 Abs 7 BErzGG die Berücksichtigung einer von der Prognose abweichenden Einkommensentwicklung zugelassen. Die von der Klägerin geltend gemachte „Meistbegünstigung” würde daher den Intentionen des Gesetzgebers widersprechen und ist auch nicht vom Gleichheitssatz geboten, da die angestrebte größere Verwaltungseffizienz einen ausreichenden Differenzierungsgrund darstellt (vgl dazu ausführlich und unter Bezugnahme auf die Gesetzesmotive: BSG SozR 3-7833 § 6 Nr 13). Bei dieser gesetzlichen Vorgabe kann der Verwaltung nur die Verpflichtung auferlegt werden, die für die Einkommensprognose maßgeblichen Faktoren zu ermitteln und in die Abschätzung einzubeziehen. Eine von der Verwaltung getroffene Einkommensprognose kann nur mit der Begründung angegriffen werden, daß sie von einer unzutreffenden oder unvollständigen Tatsachengrundlage ausgegangen ist (vgl zum Ganzen die Urteile des BSG aaO sowie vom 2. Oktober 1997, 14 REg 10/96 = BSG SozR 3-7833 § 6 Nr 15). Das war hier nicht der Fall. Die Verdienstbescheinigung des Arbeitgebers des Ehemannes über den bis Juni 1996 gezahlten Arbeitslohn als Maurer und das für den Rest des Jahres zu erwartende Einkommen war sorgfältig erstellt und wies auch für die geschätzten Zahlen keine pauschalen Annahmen, sondern monatlich differierende Berechnungen auf. Daß das tatsächliche Einkommen später geringer war, lag im wesentlichen an einem um fast 2.000 DM niedrigeren Weihnachtsgeld. Diese Fehlschätzung war nicht zu vermeiden und hielt sich der Größenordnung nach in einem Rahmen, daß – obwohl eine Einbuße an Erzg in Höhe von ca 70 DM damit verbunden gewesen wäre –, noch nicht von einem Härtefall gesprochen werden könnte (vgl dazu Urteil vom gleichen Tage – B 14 EG 3/98 R – zur Veröffentlichung vorgesehen).
Durch die fast achtmonatige Dauer des Widerspruchsverfahrens gelang es der Klägerin allerdings, noch vor Erlaß des Widerspruchsbescheides die endgültigen Daten des Familieneinkommens für das Jahr 1996 in das Verfahren einzubringen. Daher waren diese Zahlen maßgebend geworden. Dabei handelte es sich nicht etwa um das Begehren einer nachträglich unzulässigen Umstellung vom bindend prognostizierten auf das tatsächliche Einkommen. Vielmehr hat die Klägerin im Rahmen der Ermittlung des zu prognostizierenden Einkommens lediglich neue und bessere (weil endgültige) Daten eingebracht. Daß derartige Stellungnahmen und Unterlagen noch bis zum Abschluß des Verwaltungsverfahrens, also spätestens bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides, zu berücksichtigen sind, hat der erkennende Senat in der bereits zitierten Entscheidung vom 2. Oktober 1997 (14 REg 10/96 = BSG SozR 3-7833 § 6 Nr 15) ausgeführt; daran ist festzuhalten. Dadurch wird, wörtlich genommen, zwar häufig kein „voraussichtliches” Einkommen mehr zugrunde gelegt. Dies ist aber kein Grund, die endgültigen Zahlen, wenn sie bekannt sind, zu übergehen. Das „voraussichtliche” Einkommen soll vielmehr nur deshalb herangezogen werden, weil eine bessere Grundlage im Regelfall nicht zur Verfügung steht; es ist eine gesetzliche Behelfslösung, die entbehrlich ist, wenn das Einkommen im Zeitpunkt der Entscheidung bereits feststeht.
Daß die Klägerin unter Hinweis auf die bald vorzulegende Widerspruchsbegründung den Erlaß des Widerspruchsbescheides hinausgezögert hat, kann ihr nicht entgegengehalten werden. Das beklagte Land hätte dies verhindern können, wenn es der Klägerin eine kürzere (aber noch angemessene) Frist zur Begründung und Einreichung weiterer Unterlagen gesetzt hätte (vgl § 26 Abs 2, 5 und 7 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch ≪SGB X≫), nach deren Ablauf der Widerspruchsbescheid hätte erlassen werden können. Mit einer derartigen Fristsetzung kann der Gefahr begegnet werden, daß Antragsteller das Verwaltungsverfahren so lange verzögern, bis feststeht, ob das prognostizierte oder das tatsächliche Einkommen die günstigere Berechnungsbasis darstellt. Da es für die Rechtmäßigkeit der Prognose nur auf den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides ankommt, könnte ein nachfolgendes Klageverfahren dann nicht mehr dazu führen, daß später feststehende Einkommensdaten zugrunde zu legen sind. Die Geltendmachung eines Härtefalls bleibt davon unberührt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
AuS 2000, 70 |
SozSi 2000, 435 |