Beteiligte
Pflegekasse bei der Kaufmännischen Krankenkasse |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. Januar 1998 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt Pflegegeld gemäß Pflegestufe II.
Die Klägerin ist am 21.Oktober 1992 geboren und war bei der beklagten Pflegekasse bis zum 3. August 1998 versichert. Wegen einer Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus Typ I) ist sie als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung von 50 und dem Merkzeichen H anerkannt.
Im Juli 1995 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Pflegegeld gemäß Pflegestufe II nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI). Nach einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) vom September 1995 lag als krankheitsbedingter Mehraufwand gegenüber gleichaltrigen gesunden Kindern das Vorbereiten, Mischen und Setzen der Insulinspritzen vor; außerdem müßten bei der Verabreichung der genau vorgeschriebenen Essensmengen erhebliche Widerstände des Kindes überwunden werden. Der Gesamtaufwand an Grundpflege liege jedoch unter 45 Minuten täglich. Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag in vollem Umfang ab (Bescheid vom 22. November 1995 und Widerspruchsbescheid vom 27. März 1996).
Im Klageverfahren legte die Beklagte ein weiteres Gutachten des MDK vom 18. April 1996 vor, wonach auch bei einem gesunden dreijährigen Kind die Gewöhnung an regelmäßige Mahlzeiten schwierig sei. Die Vorbereitung der Mahlzeiten übersteige hier jedoch das normale Maß und sei als hauswirtschaftliche Versorgung zu berücksichtigen. Im Bereich der Grundpflege komme ein vermehrter Aufwand bei der Nahrungsverabreichung in Betracht. Blutzuckerkontrollen und Insulininjektionen gehörten jedoch zur nicht berücksichtigungsfähigen Behandlungspflege. Die Voraussetzungen der Pflegestufe I seien daher nicht erfüllt. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteile vom 30. Oktober 1996 bzw 22. Januar 1998). Das LSG hat schon die Pflegestufe I als nicht erfüllt angesehen, weil es an einem Hilfebedarf für wenigstens zwei Verrichtungen der Grundpflege fehle; allenfalls im Bereich der Nahrungsaufnahme liege ein Hilfebedarf vor. Die von der Klägerin vorgetragenen weiteren Aufwendungen lägen im wesentlichen im Bereich der nicht berücksichtigungsfähigen Behandlungspflege (Messungen des Blutzuckers, Insulinspritzen). Das gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholte Gutachten gehe von denselben tatsächlichen Voraussetzungen aus, rechne unter Verkennung der gesetzlichen Regelungen jedoch die gesamte Betreuung der Klägerin mit; daher habe es auch nicht der beantragten persönlichen Anhörung des Gutachters bedurft.
Mit ihrer Revision trägt die Klägerin vor, sie bedürfe der Hilfe außer beim Aufnehmen der Nahrung auch beim mundgerechten Zubereiten (wozu auch das Berechnen, Zusammenstellen und Abwiegen der Portionen sowie das Insulinspritzen gehöre), schließlich bei der Blutzucker- und Urinmessung einschließlich Dokumentation. Im Katalog des § 14 Abs 4 SGB XI seien diese Verrichtungen zwar nicht ausdrücklich enthalten, aber der Sache nach vorausgesetzt. Die Hilfeleistungen dienten primär der Aufrechterhaltung von Vitalfunktionen; insbesondere sei der Zusammenhang zwischen Ernährung und Insulinspritzen zwingend. Demnach liege auch ein Hilfebedarf bei zwei Verrichtungen vor. Es sei verfassungswidrig, die – ggf von Geburt an – chronisch Kranken und Behinderten wegen der bei ihnen erforderlichen atypischen Hilfeleistungen auszuschließen.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. Januar 1998 und des Sozialgerichts Koblenz vom 30. Oktober 1996 sowie den Bescheid vom 22. November 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. März 1996 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr für den Zeitraum vom 1. Juli 1995 bis 3. August 1998 Pflegegeld nach Pflegestufe II des SGB XI zu zahlen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Wie das LSG zutreffend entschieden hat, hat die Klägerin keinen Anspruch auf Pflegegeld, und zwar nicht einmal gemäß der Pflegestufe I, weil ein täglicher Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege nur bei einer Verrichtung (der Nahrungsaufnahme) besteht, also nicht – wie vom Gesetz gefordert – bei mindestens zwei derartigen Verrichtungen.
Der Anspruch auf Pflegegeld, den die Klägerin ab dem 1. Juli 1995 geltend macht, setzt voraus, daß Pflegebedürftigkeit iS des § 14 SGB XI zumindest in dem Ausmaß vorliegt, das in § 15 Abs 1 Nr 1 SGB XI festgelegt ist. Danach sind Pflegebedürftige der Pflegestufe I solche Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität (sog Grundpflege) für wenigstens zwei Verrichtungen mindestens einmal täglich und zusätzlich bei der hauswirtschaftlichen Versorgung mehrfach wöchentlich der Hilfe bedürfen. Die gesetzliche Regelung für die Pflegestufe II (§ 15 Abs 1 Nr 2 SGB XI) verlangt dem Wortlaut nach dreimal täglich Hilfe zu verschiedenen Tageszeiten bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität, ohne dies auf wenigstens zwei Verrichtungen aus diesen Bereichen zu beziehen wie bei der Pflegestufe I. Da die Pflegestufe II aber auf der Pflegestufe I aufbaut, erfordert sie ebenfalls im Bereich der Grundpflege einen Pflegebedarf bei wenigstens zwei Verrichtungen (aA Wilde in Hauck/Wilde, SGB XI, Stand Februar 1999, § 15 RdNr 12; Klie in LPK-SGB XI, 1998, § 15 RdNr 14; vgl auch Vay in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, Stand September 1996, § 15 RdNr 6). Da die Klägerin nicht die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt, weil sie Hilfebedarf nur bei einer maßgeblichen Verrichtung hat, kommt auch die Pflegestufe II nicht mehr in Betracht.
Nach § 14 Abs 4 SGB XI gehören nur bestimmte Verrichtungen zur Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), Ernährung (mundgerechtes Zubereiten, Aufnahme der Nahrung) und Mobilität (selbständiges Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung) iS von § 15 Abs 1 Nr 1 SGB XI. Nach § 14 Abs 3 SGB XI kann die Hilfe in der vollständigen bzw teilweisen Übernahme der Verrichtung durch die Pflegeperson, in der Unterstützung des Pflegebedürftigen bei der Verrichtung oder in der Beaufsichtigung bzw Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Erledigung durch den Pflegebedürftigen bestehen.
Wie das LSG zutreffend entschieden hat, bedarf die Klägerin im Bereich der Grundpflege allenfalls bei einer Verrichtung, nämlich der Nahrungsaufnahme der Hilfe, und zwar durch Beaufsichtigung und Anleitung (einschließlich Widerstandsüberwindung), um den Verzehr der genau zugemessenen Nahrungsmittel sicherzustellen.
Die Revision will auch anderen – unstreitig vorliegenden – Hilfebedarf der Klägerin einbezogen haben und wendet sich gegen die bisherige Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl Urteile vom 19. Februar 1998 - BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2 und SozR 3-3300 § 14 Nr 3; vom 17. Juni 1999, B 3 P 10/98 R – Diabeteskind – und vom 29. April 1999, B 3 P 13/98 R – Mukoviszidose –, beide zur Veröffentlichung vorgesehen). Ihre Ausführungen sind aber nicht geeignet, von dieser Rechtsprechung abzuweichen, weil sie keine neuen Gesichtspunkte aufzeigen, die der Senat noch nicht erwogen hat. Deshalb gilt weiterhin:
1. Das von der Klägerin geltend gemachte aufwendige Zusammenstellen, Berechnen, Zubereiten, Abwiegen und Portionieren der Nahrung gehört nicht zur Grundpflege. Im Bereich der Ernährung unterscheidet § 14 Abs 4 SGB XI zwischen der mundgerechten Zubereitung und der Aufnahme der Nahrung einerseits (wobei ein Hilfebedarf bei diesen Verrichtungen der Grundpflege nach Nr 2 zuzuordnen ist) und den Verrichtungen „Einkaufen” und „Kochen” andererseits (die dem Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung nach Nr 4 zugewiesen sind). Die Vorschrift differenziert allein nach dem äußeren Ablauf der Verrichtungen; sie knüpft nicht an das mit der Verrichtung angestrebte Ziel an. Bezogen auf den Lebensbereich „Ernährung” bedeutet dies, daß nicht umfassend alle Maßnahmen einzubeziehen sind, die im konkreten Einzelfall im weitesten Sinn dem Ernährungsvorgang zugeordnet werden können. Zur Grundpflege gehört nach § 14 Abs 4 Nr 2 SGB XI vielmehr nur die Hilfe bei der Nahrungsaufnahme selbst sowie die letzte Vorbereitungsmaßnahme, soweit eine solche nach der Fertigstellung der Mahlzeit krankheits- oder behinderungsbedingt noch erforderlich wird (BT-Drucks 12/5262, S 96, 97; Wilde: aaO, § 14 RdNr 34b).
2. Die Blutzuckertests, die Urinkontrollen, das Spritzen von Insulin (einschließlich Vorbereiten der Spritze) und die entsprechende Dokumentation zählen ebenfalls nicht zur Grundpflege. Es sind krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen (Behandlungspflege), die nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie einer der in § 14 Abs 4 SGB XI genannten Verrichtungen zugerechnet werden können (Urteile vom 19. Februar 1998, B 3 P 3/97 R, BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2 und B 3 P 11/97 R = SozVers 1998, 253). Die Messungen des Blutzucker- und Urinspiegels und das Führen des Blutzucker-Tagebuchs dienen als Vorbereitungshandlung dem Berechnen, Zusammenstellen sowie Abwiegen und Portionieren der Mahlzeiten und damit allenfalls dem Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung („Kochen”). Das Spritzen von Insulin ist zu weit vom natürlichen Vorgang des Essens entfernt, um noch unter „Aufnahme der Nahrung” (§ 15 Abs 4 Nr 2 SGB XI) subsumiert zu werden; es handelt sich vielmehr um eine selbständige Maßnahme der Behandlungspflege ohne Bezug zu einer der Verrichtungen des Katalogs in § 14 Abs 4 SGB XI. Für ihre gegenteilige Ansicht kann sich die Klägerin auch nicht auf das Urteil des 10. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. August 1998 - B 10 KR 4/97 R - (BSGE 82, 276 = SozR 3-3300 § 14 Nr 7) stützen, wonach krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen bei der Feststellung des Pflegeaufwands zu berücksichtigen sind, wenn sie entweder Bestandteil der Hilfe für die Katalog-Verrichtungen des § 14 Abs 4 SGB XI sind oder wenn sie im unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe erforderlich werden. Der 10. Senat hat in seiner Entscheidung ausdrücklich hervorgehoben, er folge den Entscheidungen des erkennenden (3.) Senats vom 19. Februar 1998 und sehe in seiner „fortführenden” Entscheidung keine rechtliche Abweichung. Da der erkennende Senat in diesen Entscheidungen die Blutzuckermessungen und die Verabreichung der Insulinspritzen ausdrücklich als nicht berücksichtigungsfähige Behandlungspflege bezeichnet hat, kann das Urteil des 10. Senats nur so verstanden werden, daß auch er hierzu keine andere Entscheidung getroffen und die von ihm aufgestellten Voraussetzungen des unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhangs mit einer Katalog-Verrichtung nicht als erfüllt angesehen hätte.
3. Es ergibt sich auch nichts anderes daraus, daß die Klägerin darauf hinweist, daß der Zusammenhang zwischen der Insulinverabreichung und dem Bereich „Ernährung” zwingend und eine sog „Vitalfunktion” oder „Grundfunktion” betroffen sei. Der Senat hat bereits entschieden (Urteil vom 29. April 1999, B 3 P 13/98 R, SozR 3-3300 § 14 Nr 11), daß hinsichtlich der „Vitalfunktionen” nicht mehr auf die noch zum alten Recht (§ 57 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch) ergangene Entscheidung vom 17. April 1996 (3 RK 28/95 = SozR 3-2500 § 53 Nr 10) abzustellen ist. Vielmehr müssen nach dem ab 1. Januar 1995 geltenden neuen Recht (SGB XI) auch insoweit die allgemein entwickelten Kriterien (Urteil vom 19. Februar 1998, B 3 P 3/97 R, BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2; vgl auch Urteil des 10. Senats vom 27. August 1998, B 10 KR 4/97 R, BSGE 82, 276 = SozR 3-3300 § 14 Nr 7) erfüllt sein, daß die betreffenden Hilfetätigkeiten Bestandteil der Hilfe für die sog Katalog-Verrichtungen sind oder in unmittelbarem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dieser Hilfe erforderlich werden. Die hier relevanten Blutzuckertests, Urinkontrollen, Insulinspritzungen (einschließlich Vorbereitungen der Spritzen) und entsprechenden Dokumentationen können, müssen aber nicht in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme erfolgen und erfüllen die genannten Kriterien daher nicht.
4. Die verfassungsrechtlichen Ausführungen der Klägerin zur Nichtberücksichtigung „atypischer Hilfeleistungen”, insbesondere bei chronisch Kranken und Behinderten (vgl dazu neuerdings auch eingehend Klie in LPK-SGB XI § 14 RdNr 7 und § 15 RdNr 8 sowie Lachwitz SGb 1999, 306; wie hier Hauck/Wilde, aaO, § 15 RdNr 28) weisen ebenfalls keine neuen Gesichtspunkte auf (vgl BSGE 82, 27, 34 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2; BSG SozR 3-3300 § 15 Nr 1; Urteil vom 26. November 1998, B 3 P 13/97 R, SozR 3-3300 § 14 Nr 8, mit kritischen Ausführungen zur Gesetzeslage hinsichtlich des Aufsichts- und Betreuungsbedarfs bei geistig Behinderten). Es ist Sache des Gesetzgebers, den Versicherungsfall der Pflegebedürftigkeit zu definieren und damit den Kreis der Pflegebedürftigen so abzugrenzen, daß mit der gesetzlich festgelegten Beitragshöhe die Leistungen zu finanzieren sind. Dabei steht ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der nicht schon dann überschritten ist, wenn im Detail bessere oder gerechtere Lösungen vorstellbar wären. Das durch Art 3 Grundgesetz (GG) gesetzte Willkürverbot ist mit der bestehenden Gesetzeslage nicht verletzt.
5. Nach alledem kann dahinstehen, ob sich der Hilfebedarf der Klägerin im Bereich der Grundpflege auf mehr als 45 Minuten täglich beläuft (§ 15 Abs 1 Nr 1 und Abs 3 Nr 1 SGB XI idF des am 25. Juni 1996 in Kraft getretenen 1. SGB XI-Änderungsgesetzes – zu den entsprechenden zeitlichen Anforderungen für den Zeitraum davor vgl BSG SozR 3-3300 § 15 Nr 1).
Da es bereits am notwendigen Grundpflegebedarf für die Pflegestufe I fehlt, kann ebenfalls offenbleiben, in welchem Ausmaß die Klägerin der Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung bedarf.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen