Beteiligte
Deutsche Angestellten-Krankenkasse |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. November 1994 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 16. November 1992 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Rechtsstreit.
Gründe
I
Streitig ist ein Anspruch nach § 33 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V) auf Versorgung mit einem Farberkennungsgerät als Hilfsmittel der Krankenversicherung (KV).
Die bei der beklagten Krankenkasse (KK) krankenversicherte Klägerin ist von Geburt an blind. Sie und ihr stark sehbehinderter, farbenblinder Ehemann sind beim Deutschen Blindenverband eV in Bonn beschäftigt und leben mit ihrer nicht sehbehinderten siebzehnjährigen Tochter in einem gemeinsamen Haushalt, den die Klägerin führt.
Im November 1991 beantragte die Klägerin, ihr ein Farberkennungsgerät zur Verfügung zu stellen. Sie bezog sich dabei auf ein Gerät der Firma C. D. GmbH mit der Bezeichnung „Colortest”, das damals 1.470,– DM kostete und ihr augenärztlich verordnet worden war. Die Herstellerfirma hat ihr ein solches Gerät bis zum Abschluß dieses Rechtsstreits leihweise zur Verfügung gestellt.
Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 12. November 1991; Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1992). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin „das Farberkennungsgerät Colortest zu leisten” (Urteil vom 16. November 1992). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. November 1994). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, es handele sich bei dem Farberkennungsgerät nicht um ein erforderliches Hilfsmittel iS des § 33 Abs 1 SGB V. Das Gerät habe nur einen sehr eingeschränkten Funktionsbereich. Die mit seiner Nutzung verbundenen Gebrauchsvorteile seien nicht so wesentlich, daß sie den Grundbedürfnissen des Menschen zugeordnet werden könnten, was bei ersetzenden Hilfsmitteln aber Voraussetzung für die Leistungspflicht der KV sei. Besondere Umstände, zB familiärer Art, die eine gegenteilige Entscheidung rechtfertigten, seien nicht erkennbar.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der Vorschrift des § 33 Abs 1 SGB V. In einer Welt, die auf optische Informationen abgestellt sei, wobei Farben eine wesentliche Rolle spielten, sei es zur Befriedigung des allgemeinen Grundbedürfnisses auf Gewinnung und Erweiterung eines geistigen Freiraumes erforderlich, Informationen über Farben von Gegenständen und Oberflächen zu erhalten. Diese Informationen führten in Verbindung mit den sonstigen Kenntnissen und Fähigkeiten blinder Menschen zu einer nicht unerheblichen Erleichterung bei der Bewältigung ihres Alltags. Angesichts eines täglichen Einsatzes des Farberkennungsgerätes bei zehn bis 30 Gelegenheiten sei auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V Genüge getan.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. November 1994 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 16. November 1992 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
II
Die Revision der Klägerin ist begründet; sie führt zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
1. Die Klägerin hat, wie vom SG zu Recht entschieden, Anspruch auf Überlassung eines Farberkennungsgerätes als Hilfsmittel. Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V idF durch das Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (2. Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind.
Ein Farberkennungsgerät ist kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Darunter fallen grundsätzlich nur solche Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet, dh üblicherweise von einer großen Zahl von Personen regelmäßig genutzt werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 7 – Rollstuhlboy – mwN).
Ein Anspruchsausschluß nach § 34 Abs 4 SGB V idF durch das GRG, der durch Gesetz vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 2266) einziger Absatz der Vorschrift wurde, greift ebenfalls nicht ein. Nach dieser Vorschrift idF durch das GRG vom 20. Dezember 1988 kann der Bundesminister für Arbeit, nach der Fassung durch Gesetz vom 20. Dezember 1991 (BGBl I 2325) kann der Bundesminister für Gesundheit durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Heil- und Hilfsmittel von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis bestimmen, deren Kosten die KK nicht übernimmt (Satz 1). In der aufgrund dieser Ermächtigung erlassenen Verordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis in der gesetzlichen KV (KVHilfsmittelV) vom 13. Dezember 1989 (BGBl I 2237), die idF durch die Verordnung vom 17. Januar 1995 (BGBl I 44) gilt, sind Farberkennungsgeräte nicht erfaßt. Es kann daher offenbleiben, ob die Worte „von geringem therapeutischen Nutzen” nur die Hilfsmittel zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung iS der 1. Alternative des § 33 Abs 1 SGB V betreffen, was naheliegt, oder ob die Ermächtigung auch für den Fall gilt, daß ein Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung iS der 2. Alternative nur von geringem Nutzen ist.
Ein Ausschluß der Farberkennungsgeräte aus der Leistungspflicht der KKn ergibt sich auch nicht aus den Vorschriften zum Hilfsmittelverzeichnis. Diese ermächtigen nicht dazu, den Anspruch des Versicherten einzuschränken, sondern nur dazu, eine für die Gerichte unverbindliche Auslegungshilfe zu schaffen. Nach § 128 SGB V idF durch das GRG erstellen die Spitzenverbände der KKn gemeinsam ein Hilfsmittelverzeichnis (Satz 1), in dem die von der Leistungspflicht umfaßten Hilfsmittel aufzuführen sind (Satz 2). Nach § 128 S 2 SGB V idF durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (2. SGB V-ÄndG) vom 20. Dezember 1991 (BGBl I 2325) sind in dem Verzeichnis auch die für die von der Leistungspflicht umfaßten Hilfsmittel vorgesehenen Festbeträge oder vereinbarten Preise anzugeben. Das Hilfsmittelverzeichnis schließt Farberkennungsgeräte nicht aus (Hilfsmittelverzeichnis vom 29. Januar 1993, BAnz Beilage 1993, Nr 50a 1-140 mit Ergänzungen, zuletzt BAnz Beilage 1995, Nr 150a 1-19 vom 11. Mai 1995; vgl auch Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln nach dem Recht der gesetzlichen KV vom 15. August 1990, ErsK 1990, 454).
Das SG hat das Farberkennungsgerät zu Recht als ein – bezogen auf den individuellen Bedarf der Klägerin – geeignetes Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung iS der 2. Alternative des § 33 Abs 1 S 1 SGB V angesehen. Ob der Begriff der Sehhilfe in § 33 Abs 1 S 1 SGB V nur solche Hilfsmittel erfaßt, die wie zB eine Brille das Restsehvermögen verstärken und nicht die Körperfunktion des Sehens durch eine andere Körperfunktion ersetzen, wie dies bei den Farberkennungsgeräten der Fall ist, kann offenbleiben. Das Farberkennungsgerät ist jedenfalls ein sonstiges Hilfsmittel, da der allgemeine Hilfsmittelbegriff iS der 2. Alternative als Ausgleich der Behinderung auch den ersetzenden Ausgleich umfaßt (vgl BSG SozR 2200 § 182b Nr 17 – Blattwendegerät –, Nr 25 – Kopfschreiber – und Nr 26 – Schreibtelefon; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 7 – Rollstuhlboy). Auch das Optacon-Lesegerät, das die Rechtsprechung als geeignetes Hilfsmittel anerkannt hat (BSG, 8. Senat, SozR 2200 § 182b Nr 34 – 1. Optacon-Entscheidung –; BSG, 11a Senat, SozR 5420 § 16 Nr 1 – 2. Optacon-Entscheidung –), dient dem ersetzenden Ausgleich. Gleiches gilt für ein elektronisches Lese-Sprechgerät (BSG Urteil vom 23. August 1995 – 3 RK 7/95 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Desgleichen ist es unerheblich, daß das Farberkennungsgerät nicht unmittelbar am Körper des Behinderten ausgleichend wirkt, sondern daß der Ausgleich indirekt auf andere Weise erzielt wird (BSG SozR 2200 § 182b Nr 12 – Fernsehlesegerät; BSG SozR 3-2500 Nr 7 – Rollstuhlboy). Die Rechtsprechung hat zwar Hilfsmittel, die nicht unmittelbar an der Behinderung ansetzen, sondern bei deren Folgen auf beruflichem, gesellschaftlichem oder auch nur privatem Gebiet nicht als Hilfsmittel der KV anerkannt und insoweit zwischen Hilfsmitteln der KV und solchen der Eingliederungshilfe unterschieden (vgl zu einer elektrischen Schreibmaschine bei einer Phokomelie der oberen Gliedmaßen: BSG SozR 2200 § 187 Nr 1 und zu einer Blindenschrift-Schreibmaschine: BSG SozR 2200 § 182b Nr 5). Dies gilt aber nur für Hilfsmittel, die ausschließlich oder nahezu ausschließlich für nur eines dieser Gebiete eingesetzt werden. Soweit jedoch Grundbedürfnisse betroffen sind, fällt auch der Ausgleich der Folgen der Behinderung auf den genannten Gebieten in die Leistungspflicht der KV, wie zum Clos-o-mat entschieden (BSG SozR 2200 § 182 Nr 10, ständige Rechtsprechung).
Das Farberkennungsgerät kann keinem der vorgenannten Bereiche zugeordnet werden. Es dient der Farberkennung durch eine sehunfähige oder auch nur farbenblinde Person „in allen Lebenslagen” und ist stets und überall einsetzbar.
Der Einsatz dieses Hilfsmittels ist auch der alltäglichen Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse eines Menschen zuzuordnen. Zu den Grundbedürfnissen gehört ganz allgemein die Schaffung eines körperlichen und geistigen Freiraums (BSG SozR 2200 § 182 Nr 10; BSG SozR 2200 § 182b Nr 30; BSGE 66, 245, 246 = SozR 3-2500 § 33 Nr 1; ständige Rechtsprechung). Zu diesem Freiraum zählt auch die Fähigkeit, sich selbständig und möglichst ohne fremde Hilfe im eigenen Umfeld orientieren, zurechtfinden und bewegen zu können. Die dazu notwendige Wahrnehmung der Umwelt erfolgt beim sehfähigen Menschen in erster Linie durch den Sehsinn, seine anderen Sinne (Gehör, Gefühl, Geruch, Geschmack) ergänzen die visuelle Wahrnehmung. Ein blinder Mensch ist hingegen vollständig auf die in diesem Zusammenhang sekundären Sinne beim Erkennen und Unterscheiden von Gegenständen angewiesen. Er ist bei der Wahrnehmung seiner Umwelt und damit bei der Schaffung einer Grundvoraussetzung für die zu seinem Freiraum gehörende Fähigkeit, sich im eigenen Umfeld zu orientieren, zurechtzufinden und zu bewegen, wesentlich eingeschränkt und behindert. Das Farberkennungsgerät dient dem teilweisen ersetzenden Ausgleich dieses behinderungsbedingten Defizits bei der alltäglichen Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse. Die Farbe ist ein wesentliches Merkmal zum Erkennen und Unterscheiden eines Gegenstandes. Das Gerät vermittelt dem blinden Menschen hierüber auf akustischem Wege eine Vorstellung: Wird das „Auge” des Geräts mit einem Gegenstand in Berührung gebracht, so wird auf einen ersten Knopfdruck hin über eine künstliche Sprachausgabe die Farbe genannt (zB „orange” oder „hellblau”); nach einem zweiten Knopfdruck werden die Anteile der Grundfarben (zB „rot 15 %, grün 10 %, blau 75 %”) und der Helligkeitswert (Skala 1 bis 100) angegeben. Auf einen dritten Knopfdruck hin wird eine Kennzahl genannt, unter der man in einer Tabelle eine genaue Bezeichnung der Farbe bzw der Farbmischung (zB „azurblau”, „graugrün”) „nachlesen” kann. Der spät erblindete Mensch erhält so über sein Erinnerungsvermögen eine Vorstellung von der farblichen Gestaltung eines Gegenstandes. Aber auch ein von Geburt an blinder Mensch, der – wie die Klägerin – niemals Farben gesehen hat und nicht weiß, wie eine bestimmte Farbe aussieht, hat gelernt, welche Farben es gibt und daß bestimmte Farben mit bestimmten Gegenständen bzw mit Zweckbestimmungen von Gegenständen verbunden sind. Auch ihm wird daher durch die sprachliche Angabe der Farbe und der Helligkeitsstufe ein wesentliches Kriterium für das richtige Erkennen und Einordnen des untersuchten Gegenstandes geliefert.
2. In die Leistungspflicht der KV fallen nach dem Grundsatz des § 12 SGB V, der auch für die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln gilt, nur solche Hilfsmittel, deren Verwendung wirtschaftlich und notwendig ist, was neben der in § 33 SGB V geforderten Erforderlichkeit zu prüfen ist. Die Einsatzfähigkeit des Gerätes wird vom SG und LSG übereinstimmend beschrieben mit der Einschränkung, daß mit ihm nach der Feststellung des LSG entgegen der Auffassung des SG nicht festgestellt werden kann, ob in einem Raum die elektrische Beleuchtung brennt und beim Verlassen des Raumes gelöscht werden muß. Das LSG hat jedoch, abweichend vom SG, das Farberkennungsgerät nicht als erforderlich angesehen und auch seine Wirtschaftlichkeit bezweifelt. Bei der rechtlichen Bewertung sieht es das LSG als entscheidend an, daß die Klägerin die durch das Gerät vermittelten Erkenntnisse durch eine vermehrte Gedächtnisleistung und durch die Hilfe Dritter ebenfalls erhalten kann, und will nur die zusätzlich vermittelten Erkenntnisse berücksichtigen. Dem vermag der Senat nicht zuzustimmen. Ungeachtet der Tatsache, daß das Farberkennungsgerät nicht in allen Fällen der Farbbestimmung zuverlässig einsetzbar ist (zB bei bunten Oberflächen), gibt es im täglichen Leben doch zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten, in denen das Gerät verläßliche Aussagen über die farbliche Gestaltung eines Gegenstandes liefert und die ihrerseits für den Benutzer wichtige Hinweise zum Erkennen und unterscheiden des untersuchten Gegenstandes enthalten. Die vom SG und LSG aufgezeigten vielfältigen Anwendungsfälle (zB die in vielen Situationen, insbesondere für das Wäschewaschen, wichtigen Farbbestimmungen von Kleidungsstücken und Haushaltstextilien; die Inhaltsbestimmung bei Lebens- und Genußmitteln) mögen jeweils für sich genommen die Einstufung des Farbgeräts als für einen blinden Menschen möglicherweise nur zweckmäßig, aber nicht notwendig rechtfertigen. Maßgeblich kann hierbei aber nur eine Gesamtschau, eine Würdigung der Gesamtheit der Anwendungsmöglichkeiten sein. In der Gesamtschau muß das Farberkennungsgerät als notwendiges Hilfsmittel angesehen werden. Der blinde Mensch, der auf die visuelle Wahrnehmung seiner Umwelt verzichten muß, auf sein Erinnerungsvermögen angewiesen ist und sich zur Erleichterung beim Erkennen, Wiederauffinden und Unterscheiden von Gegenständen vielfach einer strengen Ordnung bei der Ablage und Verwahrung von Gegenständen unterwirft, ist auf zusätzliche Erkennungshilfen immer dann angewiesen, wenn die aufgezeigten Erkennungsmöglichkeiten versagen, nicht ausreichen oder keine sicheren Schlüsse zulassen. Das Wissen um die Farbe und den Helligkeitswert eines Gegenstandes kann hier vielfach weiterhelfen, Unsicherheiten beseitigen und von fremder Hilfe weniger abhängig machen, was im übrigen auch der Stärkung des Selbstwertgefühls dient. Dem kann auch nicht mit dem Hinweis auf sonstige Ordnungs- und Kennzeichnungsmöglichkeiten begegnet werden, die bei der Identifizierung von Gegenständen hilfreich sein können und im Einzelfall die zusätzliche Kenntnis über die Farbe des Gegenstandes entbehrlich werden lassen könnten. Zum einen sind diesen Möglichkeiten Grenzen gesetzt; sie lassen sich bei weitem nicht in allen Fällen einsetzen, und auch das Erinnerungsvermögen eines Menschen ist nicht grenzenlos und unfehlbar. Zum anderen würde damit dem ohnehin behinderten Menschen eine Mehrbelastung, eine zusätzliche Tätigkeit (zB Kennzeichnung von Wäsche und Kleidung) auferlegt, die an die Grenzen der Zumutbarkeit stoßen kann und sehfähigen Menschen nicht abverlangt wird. Der Einsatz eines Farberkennungsgerätes vermittelt somit nicht nur zusätzliche Kenntnisse über die Umwelt, sondern führt aufgrund ersparter Mühen auch zu einer bedeutsamen Erleichterung in der Lebensführung eines blinden Menschen. Beide Komponenten dienen der Erweiterung des geistigen Freiraums und sind gleichermaßen als Gebrauchsvorteil des Gerätes zu werten.
3. Die Klägerin kann auch nicht auf die Mithilfe ihrer Familienangehörigen verwiesen werden. Es läßt sich innerhalb der gesetzlichen KV keine generelle vorrangige Selbsthilfe bzw Hilfe von Angehörigen gegenüber Versicherungsansprüchen begründen (Schulin, Handbuch der Sozialversicherung Band I, 1994, § 6 RdNr 62 f). Wesentliches Merkmal der Sozialversicherung ist die Bemessung der Leistungen am versicherten Risiko. Nur ausnahmsweise gilt der in der Sozialhilfe vorherrschende Nachranggrundsatz, nach dem eine Leistung nicht zu bewilligen ist, wenn der Betroffene sich selbst helfen kann oder die erforderliche Hilfe von anderen erhält (Schulin, aaO RdNr 64). Eine solche Ausnahme hat der Gesetzgeber im Rahmen der häuslichen Krankenpflege und Haushaltshilfe (§§ 37, 38 SGB V) normiert, wonach kein Anspruch auf die vorgenannten Leistungen besteht, soweit Familienangehörige zu Hilfeleistungen zur Verfügung stehen. Die Rechtsprechung hat diese Ausnahme auf den Heil- und Hilfsmittelbereich ausgeweitet; auch hier gehöre es zu den Pflichten jedes Versicherten und der mit ihm in einem Haushalt lebenden Familienangehörigen, alles Zumutbare zu tun, um neben den vorgesehenen Leistungen der KKn zur Behebung des Krankheitszustandes beizutragen (Keine Entschädigung der nicht erwerbstätigen Ehefrau für deren Mithilfe bei der Heimdialyse: BSGE 44, 139, 141 = SozR 2200 § 185 Nr 1 und BSGE 45, 130 = SozR 2200 § 185 Nr 2; ähnlich zur kostenlosen häuslichen Krankenpflege eines Kindes durch seine Mutter: BSGE 28, 253, 254 = SozR Nr 33 zu § 182 RVO; ähnlich zum Bad-Helfer: BSG SozR 2200 § 187 Nr 3, eine Entscheidung, die den Rechtszustand vor dem Rehabilitationsangleichungsgesetz betrifft). Eine solche Verweisung ist indes unter dem Gesichtspunkt der Solidarität nur gerechtfertigt, soweit für die Angehörigen eine kostenfreie Familienversicherung besteht (Schulin, aaO RdNr 64) und diesen deswegen eine solche Mithilfe zuzumuten ist (BSG, Urteil vom 23. August 1995 – 3 RK 7/95 –, zur Veröffentlichung vorgesehen; Höfler, KassKomm § 37 RdNr 19 und § 38 RdNr 20). Maßgebend ist der im Einzelfall bestehende Bedarf. Auch wenn man unterstellt, die Tochter der Klägerin sei über ihre Mutter kostenfrei krankenversichert und ihre Mithilfe bei der alltäglichen Lebensbewältigung ihrer Mutter sei, auch aus dem Gesichtspunkt der familienrechtlichen Mitwirkungspflicht im Haushalt nach § 1619 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), zumutbar, so kann dies grundsätzlich aber nur für jene Zeiten gelten, in denen die Tochter anwesend ist. Der Hilfebedarf der Klägerin bei der Erkennung und Unterscheidung von Gegenständen ist potentiell aber immer vorhanden; er kann jederzeit akut werden und läßt sich bei Abwesenheit der Tochter nur in wenigen Fällen auf Zeiten verschieben, in denen die Tochter wieder anwesend ist und zur Hilfestellung bereitsteht. Von daher kann die Mithilfe der Tochter nicht als hinreichender „Ersatz” für das Hilfsmittel angesehen werden. Es erübrigen sich daher Feststellungen dazu, ob die Tochter der Klägerin in den Genuß einer kostenfreien Familienversicherung kommt (etwa als Schülerin) oder selbst krankenversicherungspflichtig beschäftigt ist oder ob sonstige Umstände der umfassenden Mithilfe der Tochter entgegenstehen. Eine Verweisung auf die Mithilfe des Ehemannes der Klägerin scheitert bereits daran, daß er selbst stark sehbehindert und farbenblind ist.
4. Das Farberkennungsgerät ist auch wirtschaftlich iS einer begründbaren Relation zwischen Kosten und Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels (vgl dazu BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 4 mwN – Bildschirmlesegerät –; BSG Urteil vom 23. August 1995 – 3 RK 7/95 – Lese-Sprechgerät, zur Veröffentlichung vorgesehen). Das von der Klägerin erprobte Gerät kostete 1991 1.470,– DM zuzüglich Mehrwertsteuer; der Preis ist rückläufig. Seine Gebrauchsfähigkeit ist nicht begrenzt; es muß lediglich nach etwa 300 Gebrauchsvorgängen wieder aufgeladen werden. Für die Bewertung des – oben aufgezeigten – Gebrauchsvorteils sind ua die Häufigkeit der voraussichtlichen Nutzung und die Bedeutung der vermittelten Informationen maßgebend. Zwar hat das LSG keine Feststellungen zur Häufigkeit der täglichen Anwendungen des Farberkennungsgeräts durch die Klägerin getroffen. Aus den aufgezeigten Anwendungsmöglichkeiten, insbesondere bei der täglichen Haushaltsführung, ist aber mit hinreichender Deutlichkeit zu schließen, daß das Gerät durchschnittlich fünf- bis zehnmal täglich eingesetzt werden wird. Diese Einschätzung findet ihre Bestätigung in der Erklärung der Klägerin, sie benutze dieses Gerät täglich mindestens zehnmal. Angesichts des bedeutsamen Informationswerts der Farbangabe eines Gegenstandes für einen blinden Menschen und der aus ersparten Mühen resultierenden Erleichterung in dessen Lebensführung sieht der Senat eine durchschnittliche Nutzung des Geräts fünf- bis zehnmal täglich als jedenfalls ausreichend an, um es auch als wirtschaftlich iS des § 12 SGB V zu bezeichnen. Die Frage, ob auch bei einer geringeren Nutzungshäufigkeit das Wirtschaftlichkeitsgebot erfüllt ist, kann hier offenbleiben.
5. Es bleibt der Beklagten überlassen, ob sie der Klägerin das Farberkennungsgerät dauerhaft leiht oder übereignet (§ 33 Abs 5 Satz 1 SGB V). Sie entscheidet auch über die Auswahl des Fabrikats. Der Urteilsausspruch ist nicht so zu verstehen, daß sie auf jeden Fall verpflichtet ist, der Klägerin das Farberkennungsgerät „Colortest” der Firma C. D. GmbH zur Verfügung zu stellen. Die Nennung dieses Produktes im Antrag der Klägerin und im Urteilsausspruch des SG beruht allein darauf, daß seinerzeit, soweit ersichtlich ist, nur dieses Produkt auf dem Markt war. Es handelt sich weder bei der Klägerin noch beim SG um eine Produktkennzeichnung iS einer konkreten, beabsichtigten Auswahl unter mehreren gleichartigen Erzeugnissen. Daher kann die Klägerin aus Gründen der Wirtschaftlichkeit auch ein dem Fabrikat „Colortest” gleichwertiges Farberkennungsgerät der Firma C. D. GmbH oder eines anderen Herstellers der Klägerin überlassen, sollte ein solches auf dem Markt sein. Darüber bestand zwischen den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 17. Januar 1996 auch Einigkeit.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen
BB 1996, 1511 |
Breith. 1996, 633 |