Leitsatz (amtlich)

Im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit ist bei einer zugelassenen und zulässigen Revision das angefochtene Urteil sachlich-rechtlich auch dann - im Rahmen der Revisionsanträge - nachzuprüfen, wenn nur die Verletzung formellen Rechts - ordnungsmäßig - gerügt, diese Rüge aber unbegründet ist (SGG § 202, ZPO § 559; RG 1935-11-01 VI 453/34 = RGZ 149, 157, 165).

 

Leitsatz (redaktionell)

Mindestanforderungen nach SGG § 151 Abs 1 bei Unterzeichnung der Berufungsschrift:

1. Mit dem Begriff der Unterzeichnung verbindet der Sprachgebrauch ein Gebilde aus Buchstaben, wobei die Lesbarkeit des Schriftzuges zwar nicht erforderlich ist, die Mängel jedoch nicht so weit gehen dürfen, daß der Schriftzug nicht mehr als solcher angesehen werden kann; es müssen zumindest Buchstaben als solche zu deuten sein, und das Schriftbild muß ein individuelles charakteristisches Merkmal aufweisen, so daß ein Dritter, der den Namen des Unterzeichnenden kennt, diesen Namen noch aus dem Schriftbild herauslesen kann.

2. Mindestanforderungen an eine rechtsgültige Unterschrift.

 

Normenkette

SGG § 164 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 559; SGG § 151 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. Mai 1967 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist die Witwe des im Jahre 1901 geborenen Arbeiters E H (H.). Sie erstrebt Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlaß des Todes ihres am 31. Januar 1957 verstorbenen Ehemannes.

H. war zunächst als Landarbeiter, anschließend bis 1923 als Schlepper, Gesteinshauer und Schachthauer im Bergbau und von 1924 bis Januar 1938 in einer Faßkranfabrik beschäftigt. Im Anschluß daran war er bis zum Frühjahr 1945 in der Versuchswerkstatt der Erprobungsstelle der Luftwaffe in M tätig; dort hatte er beim Füllen von Kampfstoff-Bomben unmittelbaren Kontakt mit Kampfstoffen der Gelb- und Blaukreuzklasse. Am 3. Oktober 1938 meldete er sich krank wegen einer Dermatitis toxica I. und II. Grades im Bereich des Gesichts und beider Hände sowie einer Schädigung der oberen Atemwege als Folge der Einwirkung von Kampfstoffen. Vom 26. April 1939 an war H. wiederum arbeitsunfähig krank wegen einer Dermatitis toxica I. und II. Grades im Bereich des rechten Unterarmes mit taubeneigroßen Blasenbildungen, wegen entzündlicher Schwellungen und außerordentlich starker ödematöser Schwellungen der axillären Lymphdrüsen sowie einer Dampfschädigung der gesamten Atemorgane. Im Januar 1940 hatte eine Dermatitis toxica den ganzen Körper des Ehemannes der Klägerin mit schweren Kreislauf-Kollapszuständen als Folge einer Schädigung durch Adamsit ergriffen. Nach dem Abklingen des akuten Stadiums war er mit einer Kur in Bad R und - im September 1942 - mit einer Nachkur in M/Tirol behandelt worden.

Wie er im September 1956 in einem Rentenverfahren der Bergbau-Berufsgenossenschaft gegenüber dem Facharzt für innere Krankheiten Dr. Sch sowie gelegentlich einer stationären Behandlung vom 3. Dezember 1956 bis 10. Januar 1957 im Krankenhaus S angab, waren sämtliche äußeren Zeichen der Kampfstoffvergiftung nach Ablauf der Kuren geschwunden. Da H. gegen Blau- und Gelbkreuz hochgradig überempfindlich geworden war, hatte man ihn im Jahre 1942 aus dem Gefahrenbereich entfernt und nur noch als Lagerverwalter eingesetzt. Nach dem Kriege war er Lagermeister einer Getreide-Großhandlung.

Im Jahre 1952 ergab eine Röntgen-Reihenuntersuchung bei H. Veränderungen der Lunge. Daneben traten zeitweilig Erscheinungen einer Bronchitis auf. Der Facharzt für innere Krankheiten Dr. Sch kam in einem am 10. September 1954 erstatteten Gutachten zu dem Ergebnis, der Lungenbefund lasse außer einer alten inaktiven Tuberkulose in den Randpartien beider Oberfelder spärlich linsengroße Verdichtungen an den Kreuzungspunkten der angedeutet netzförmig vermehrten Lungengrundstruktur erkennen, die als Silikose 0 bis 1. Grades anzusprechen seien; die Silikose habe aber bisher keinen greifbaren Funktionsausfall des Lungensystems hervorgerufen, auch das Herz-Kreislaufsystem zeige keine pathologischen Veränderungen. 1954 unterzog sich H. einer Kur in Bad S wegen eines Bronchialleidens, 1956 stand er wegen Bronchitis und Herzinsuffizienz in Behandlung. In der Zeit vom 3. Dezember 1956 bis 10. Januar 1957 wurde er stationär in der inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses Soltau wegen einer schweren, rezidivierenden asthmatoiden Bronchitis mit Insuffizienz des rechten Herzens behandelt. Neben der Herzbehandlung erfolgte die Behandlung der Bronchitis mit Supracillin; wegen der asthmatischen Komponente des Beschwerdebildes wurden ihm auch Decortintabletten verabreicht. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus setzte der Hausarzt die Decortinbehandlung fort. Am 25. Januar 1957 wurde H. mit Zeichen einer akuten Baucherkrankung in die chirurgische Abteilung des Kreiskrankenhauses S eingeliefert. Die Operation am 26. Januar 1957 ergab einen hochakut entzündeten, nicht perforierten Blinddarm, der entfernt wurde. Am 29. Januar 1957 stellten sich Zeichen einer Peritonitis ein. An diesem Tage wurde deshalb eine Inspektions-Laparatomie vorgenommen. Die behandelnden Ärzte gaben an, sie hätten Zeichen einer postoperativen Mesenterialvenen-Thrombose mit Ileus (Darmverschluß) und Peritonitis (Bauchfellentzündung) festgestellt. Am 31. Januar 1957 starb H. an einem Herz-Kreislaufversagen. Aufgrund der Sektion kam Prof. Dr. N zu folgendem Ergebnis: Bei H. habe eine Silikose I. und II. Grades vorgelegen, außerdem eine chronische Bronchitis und eine Lungenblähung, die zum Teil konstitutionell bedingt gewesen sei. Beide Erkrankungen seien nicht tödlich gewesen. Insbesondere sei die Lungenblähung nach der vorausgegangenen internistischen Behandlung kompensiert gewesen. H. sei allein an einer Darmlähmung im Anschluß an die akute Wurmfortsatzentzündung verstorben. Ergänzend führte Prof. Dr. N in einem Schreiben an Prof. Dr. W vom 11. August 1959 aus, die Obduktion der Leiche von H. habe keine Anzeigen für eine Peritonitis oder eine Mesenterialvenen-Thrombose ergeben.

Mit Bescheid vom 28. Mai 1957 lehnte die Bergbau-Berufsgenossenschaft die Gewährung von Witwenrente mit der Begründung ab, der Tod des Ehemannes der Klägerin sei nicht die Folge einer Berufskrankheit (BK). Durch Bescheid vom 16. Juni 1959 gewährte sie der Klägerin aber gemäß § 614 der Reichsversicherungsordnung (RVO aF) wegen einer Staublungenerkrankung ihres Ehemannes (Nr. 27 a der Anlage zur 5. Berufskrankheiten-Verordnung - BKVO -) vom 1. Februar 1956 bis 31. Januar 1957 eine Rente in Höhe von 40 v. H. der Vollrente.

Im Januar 1958 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Witwenrente mit der Begründung, der Tod ihres Ehemannes sei Folge der Kampfstoffeinwirkungen (Nrn. 4 und 8 der Anlage zur 5. BKVO). Die Beklagte zog Gutachten von Prof. Dr. W, Chefarzt des Krankenhauses E in H, vom 12. April 1960 und von Prof. Dr. H/Priv.-Doz. Dr. H Chirurgische Universitätsklinik G, vom 27. Juli 1960 nebst zustimmender Stellungnahme des Niedersächsischen Landesgewerbearztes Dr. W vom 10. August 1960 ein. Prof. Dr. W kam zu dem Ergebnis, es bestehe insofern die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, als die Behandlung mit Prednisonpräparaten die Blinddarmentzündung verursacht habe und daher die mittelbare Ursache für den Tod H. s gewesen sei. Prof. Dr. H/Priv. Doz. Dr. H und der Landesgewerbearzt traten dieser Beurteilung entgegen.

Mit Bescheid vom 23. November 1960 lehnte die Beklagte eine Entschädigung der Klägerin aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes mit der Begründung ab, dieser sei nach operativer Behandlung einer akuten Wurmfortsatzentzündung an den Folgen einer Darmlähmung gestorben. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der zum Tode führenden Blinddarmentzündung und den früheren Kampfstoffschädigungen bestehe nicht.

Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Nach Beweiserhebung durch Einholung von Gutachten der Ärzte Prof. Dr. B/Prof. Dr. E/Dr. R, II. Medizinische Klinik der Universität M, vom 11. Mai 1962, des Facharztes für Chirurgie Dr. Sch-B G Allgemeines Krankenhaus H, vom 17. Juli 1962, der Prof. Dr. W vom 1. August 1962 nebst Ergänzungen, des Privatdozenten Facharzt für Chirurgie Dr. H, Evangelisches Krankenhaus O, vom 30. Mai 1963, des Prof. Dr. B/Doz. Dr. N, Medizinische Universitätsklinik T, vom 10. März 1964 und - auf Antrag der Klägerin (§ 109 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) - des Prof. Dr. Dr. N, Chefarzt des Toxikologischen Instituts der Universität W, vom 18. März 1965 hat das Sozialgericht (SG) Lüneburg mit Urteil vom 3. Juni 1965 unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 23. November 1960 festgestellt, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin mittelbare Folge einer Kampfstoffschädigung sei; es hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 1. Februar 1957 an Hinterbliebenenrente zu zahlen.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 19. August 1965 fristgerecht Berufung eingelegt. Die Berufungsschrift weist unterhalb des den Textabschließenden Zusatzes "Im Auftrage" als Unterschrift einen - von dem zur Vertretung des beklagten Versicherungsträgers berechtigten Oberregierungsrat (ORR) G stammenden - Schriftzug auf, den das Landessozialgericht (LSG) als "eine mit Kopierstift angebrachte schlangenförmige Linie" bezeichnet hat.

Das LSG Niedersachsen hat auf die Berufung der Beklagten die erstinstanzliche Entscheidung durch Urteil vom 10. Mai 1967 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat dazu ausgeführt: Die Berufungsschrift der Beklagten sei nicht unterschrieben. Auf ihr befinde sich unterhalb des den Text abschließenden Zusatzes "Im Auftrage" nur eine einmal unterbrochene Schlangenlinie von gleicher Höhe, insbesondere ohne Ober- oder Unterschleifen. Buchstaben seien - auch im Ansatz - nicht zu erkennen. Ein Namenszug sei aus dieser Schlangenlinie nicht herauszulesen. Diese Schlangenlinie sei daher keine Unterschrift; die Berufungsschrift sei mithin nicht unterschrieben. Trotzdem sei die Berufung formgerecht eingelegt. Denn entgegen der herrschenden Meinung, wie sie insbesondere auch vom Bundessozialgericht (BSG) vertreten werde, erfordere die Schriftform des § 151 SGG keine Unterschrift, insbesondere keine handschriftliche Unterzeichnung. Es reiche vielmehr aus, daß die Berufungsschrift den Aussteller und dessen Willen, das Rechtsmittel einzulegen, erkennen lasse. Bei Behörden genüge die Verwendung eines Briefbogens der Behörde mit vorgedrucktem Briefkopf und des Siegels. Diese Merkmale weise die Berufungsschrift der Beklagten auf. Die Berufung sei auch begründet. Entgegen der Ansicht des SG sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht erwiesen, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin Folge seiner früheren Gasvergiftungen gewesen sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen, weil es bei der Beurteilung der Frage, ob eine Berufungsschrift unterschrieben sein muß, von der Rechtsprechung des BSG abgewichen ist.

Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie rügt nur die Verletzung formellen Rechts (§§ 151, 158 Abs. 1 SGG), indem sie vorträgt: In Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil sei davon auszugehen, daß die Berufung nicht formgerecht im Sinne des § 151 Abs. 1 SGG eingelegt sei; denn der Berufungsschriftsatz sei, wie im Berufungsurteil ausgeführt, "nicht unterschrieben". Insofern sei "die für das Revisionsgericht in § 163 SGG normierte Bindungswirkung" eingetreten. Soweit das LSG jedoch dahin entschieden habe, daß es auf eine handschriftliche Unterzeichnung der Berufungsschrift nicht ankomme, im besonderen "... bei Behörden ... die Verwendung eines Briefbogens der Behörde mit vorgedrucktem Briefkopf und des Siegels ... genüge", müsse dieser Ansicht entgegengetreten werden, weil sie im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung stehe.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil des LSG Niedersachsen aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Lüneburg vom 3. Juni 1965 als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen,

und im Wege der Anschlußrevision,

1. auf ihre Berufung das Urteil des SG Lüneburg vom 3. Juni 1965 aufzuheben und die Klage gegen ihren Bescheid vom 23. November 1960 abzuweisen,

2. die Entscheidung zu 1) im Gegensatz zu den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils damit zu rechtfertigen, daß die Berufungsschrift vom 19. August 1965 ordnungsgemäß unterschrieben sei,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil mit dem ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie ist der Ansicht, der Schriftzug unter der Berufungsschrift vom 19. August 1965 sei eine Unterschrift. Die Berufung sei deshalb formgerecht eingelegt worden. Zur Anschlußberufung müsse sie vorsorglich davon ausgehen, daß das Revisionsgericht die Rechtsansicht der Klägerin teile und die Feststellung des Berufungsgerichts, wonach "die Berufungsschrift nicht unterschrieben" sein soll, für eine solche tatsächlicher Art halte. In diesem Falle sei sie durch diese tatsächliche Feststellung beschwert.

Die Klägerin beantragt,

die Anschlußrevision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.

II

Die nach § 162 Abs. 1 Satz 1 SGG statthafte Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.

Die Rüge der Klägerin, das LSG habe insofern gegen § 151 Abs. 1 und gegen § 158 Abs. 1 SGG verstoßen, als es die anstelle einer Unterschrift nur eine Schlangenlinie aufweisende Berufungsschrift nicht als formgerecht hätte ansehen dürfen und deshalb das Rechtsmittel als unzulässig hätte verwerfen müssen, genügt der Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG über den Begründungszwang.

Nach § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung gegen ein Urteil des SG - von dem hier nicht in Betracht kommenden Fall der Beurkundung durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle und dem Fall der telegrafischen Einlegung eines Rechtsmittels abgesehen - beim LSG "schriftlich" einzulegen. Für die hier zu treffende Entscheidung kann dahinstehen, ob entgegen der Ansicht des LSG der in der Rechtsprechung und dem Schrifttum herrschenden Meinung zu folgen ist, die Berufungsschrift müsse, wenn sie dem Erfordernis der Schriftform entsprechen soll, handschriftlich unterzeichnet sein (BSG 1, 243; 5, 110; 6, 256; 16, 242; BFH, NJW 1970, 1151; weitere Nachweise bei Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 236 y f.; a. A. OLG Saarbrücken, NJW 1970, 434 und 1051 mit Anmerkung von Vollkommer und Brandenburg). Der Schriftzug des ORR G unter der Berufungsschrift vom 19. August 1965 ist entgegen der Ansicht der Klägerin und des LSG als eine Namensunterschrift anzusehen. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 30. Juni 1970 (SozR Nr. 12 zu § 151 SGG) unter Anführung weiterer Rechtsprechung entschieden hat, verbindet der Sprachgebrauch mit dem Begriff der Unterzeichnung ein Gebilde aus Buchstaben, einen Schriftzug, während die Lesbarkeit des Schriftzuges selbst nicht erforderlich ist, so daß Undeutlichkeiten und sogar Verstümmelungen nicht schaden. Die Mängel dürfen jedoch nicht so weit gehen, daß der "Schriftzug" nicht mehr als solcher angesprochen werden kann, weil seine Entstehung aus der ursprünglichen Schrift in Buchstaben nicht einmal andeutungsweise zu erkennen ist. Es muß vielmehr ein Mindestmaß an Ähnlichkeit mit dieser Schrift in dem Sinne erhalten geblieben sein, daß ein Dritter, der den Namen des Unterzeichnenden kennt, diesen Namen aus dem Schriftbild noch herauslesen kann, der Unterzeichnende also erkennbar bleibt. Es müssen Buchstaben als solche zu deuten sein, und das Schriftbild muß auch ein individuelles charakteristisches Merkmal aufweisen. Diese an eine rechtsgültige Unterschrift zu stellenden Mindestanforderungen erfüllt die Unterschrift des ORR G unter der Berufungsschrift vom 19. August 1965 gerade noch. Der Schriftzug ist nicht, wie das LSG meint, nur eine Schlangenlinie. Ihm ist vielmehr der Charakter einer Unterschrift nicht abzusprechen. Der Schriftzug besteht aus zwei Teilen, einem links stehenden kürzeren, mit dem die Unterschrift beginnt, und einem rechts daneben gesetzten, etwa dreimal so langen Teil. Der Schriftzug zeigt Bögen sowie angedeutete Ober- und Unterschleifen mit dazwischen befindlichen kurzen senkrechten und zum Teil auch punktartigen Teilen. Die Bögen und Teile folgen in einem bestimmten Rhythmus aufeinander. Hiernach weist der Schriftzug Eigentümlichkeiten auf, die erkennen lassen, daß sie ein Schriftbild abgeben wollen, das als Name des Unterzeichners zumindest für denjenigen deutbar ist, der diesen Namen schon kennt. Der Schriftzug enthält auch für den Prozeßbevollmächtigten der Beklagten, ORR G, charakteristische Eigentümlichkeiten. ORR G hat, wie die Akten ergeben, mit Datum vom 21. Mai 1965 für die mündliche Verhandlung am 3. Juni 1965, aufgrund deren das Urteil des SG ergangen ist, dem Verwaltungsdirektor Dr. Sch Terminsvollmacht erteilt und diese in gleicher Weise handschriftlich unterzeichnet wie die Berufungsschrift vom 19. August 1965. In der Terminsvollmacht befindet sich unter der handschriftlichen Unterschrift von ORR G dessen Name noch einmal in Maschinenschrift. Hinzu kommt, daß vor Erlaß des angefochtenen Berufungsurteils der Ausführungsbescheid der Beklagten vom 1. Juli 1966 zu den Akten des LSG gelangt ist, der in gleicher Weise wie die Terminsvollmacht vom 21. Mai 1965 von ORR G unterzeichnet ist und ebenfalls die Schreibmaschinenerläuterung zur handschriftlichen Unterschrift trägt. In Verbindung mit diesen Unterlagen und der darin enthaltenen Erläuterung der handschriftlichen Unterzeichnung durch die Namenswiedergabe des Unterzeichners in Maschinenschrift war für das Berufungsgericht aus dem Schriftzug unter dem Berufungsschriftsatz vom 19. August 1965 der Namenszug des ORR G herauszulesen. Die Berufung der Beklagten ist damit formgerecht im Sinne des § 151 Abs. 1 SGG eingelegt. Entgegen der Ansicht der Klägerin hat das LSG mit den Worten, die "Schlangenlinie (sei) keine Unterschrift, die Berufungsschrift mithin nicht unterschrieben", keine Feststellung tatsächlicher Art getroffen, an die das Revisionsgericht nach § 163 SGG gebunden wäre. Die Ausführungen des LSG enthalten vielmehr nur eine rechtliche Beurteilung des handschriftlichen Gebildes unter der Berufungsschrift vom 19. August 1965.

Die von der Klägerin erhobene Verfahrensrüge einer Verletzung der §§ 151, 158 Abs. 1 SGG ist somit unbegründet.

In sachliche-rechtlicher Hinsicht beschränkt sich die Revisionsbegründung darauf, daß beantragt wird, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Lüneburg vom 3. Juni 1965 als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen. Für die hier zu treffende Entscheidung kann dahinstehen, ob die Klägerin damit auch die Verletzung materiellen Rechts formgerecht im Sinne des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gerügt hat. Ohne Rücksicht hierauf hat in einem Falle, wie dem vorliegenden, in dem bei einer zugelassenen Revision eine Verfahrensrüge ordnungsmäßig (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) erhoben worden ist, das Revisionsgericht gemäß § 559 der Zivilprozeßordnung, der im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit über § 202 SGG entsprechend anzuwenden ist (BSG 25, 251, 253), das angefochtene Urteil auch dann - im Rahmen der Revisionsanträge - von Amts wegen nachzuprüfen, wenn die Verfahrensrüge unbegründet ist (vgl. RG, JW 1907, 181 Nr. 23; JW 1928, 1139 Nr. 10; RGZ 87, 5; 149, 158, 165; Stein/Jonas, 19. Aufl., ZPO § 559 Anm. V; Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 30. Aufl., § 559 Anm. 3).

Das Berufungsgericht ist aufgrund der für seine Überzeugungsbildung in Bezug genommenen ärztlichen Gutachten und Stellungnahmen zu dem Ergebnis gekommen, daß der Ehemann der Klägerin nach operativer Behandlung einer akuten Wurmfortsatzentzündung an den Folgen eines Herz- und Kreislaufversagens gestorben und daß zwischen diesem Versagen und den in der Zeit von 1938 bis 1940 mehrfach aufgetretenen Vergiftungen an Gasen der Gelb- und Blaukreuzklasse weder ein unmittelbarer noch ein mittelbarer ursächlicher Zusammenhang nachgewiesen sei. Das LSG hat danach aufgrund tatsächlicher Feststellungen bereits den ursächlichen Zusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne zwischen dem Herz- und Kreislaufversagen, das zum Tode geführt hat, und den Gasvergiftungen verneint. Diese tatsächlichen Feststellungen sind von der Klägerin nicht mit zulässigen und begründeten Rügen angegriffen worden, somit also für das BSG bindend (§ 163 SGG). Unter diesen Umständen kann das LSG durch die Versagung des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs das Gesetz nicht verletzt haben; denn die Zuerkennung einer Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hätte die Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne zwischen jenen Vergiftungen und dem Tode des Versicherten vorausgesetzt.

Die Revision der Klägerin ist somit unbegründet.

Die Anschlußrevision der Beklagten ist als unselbständige Anschließung an die Revision der Klägerin statthaft und zulässig (BSG 8, 24, 29). Der Wirksamkeit der Anschlußrevision steht nicht entgegen, daß sie nur vorsorglich - hilfsweise - eingelegt worden ist, nämlich für den Fall, daß das BSG in Übereinstimmung mit der Rechtsauffassung der Klägerin die Würdigung des LSG, die Berufungsschrift entbehre der Unterschrift, als eine Feststellung tatsächlicher Art angesehen hätte (BSG 24, 247, 249). Da der Senat jedoch dieser Auffassung der Klägerin nicht gefolgt ist und darüber hinaus ihre Revision als unbegründet erachtet und damit die Klagabweisung in vollem Umfang bestätigt hat, ist für einen Urteilsausspruch über die hilfsweise eingelegte Anschlußrevision kein Raum. Die Entscheidung des Revisionsgerichts hat sich vielmehr nach den vorstehenden Ausführungen in der Zurückweisung der Revision der Klägerin (§ 170 Abs. 1 SGG) zu erschöpfen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669120

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