Orientierungssatz
AVG § 28 nF (= RVO § 1251 nF) gilt nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen, die in der Zeit seit dem Inkrafttreten des AnVNG (= ArVNG) eingetreten sind.
Normenkette
RVO § 1251 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Januar 1962 wird aufgehoben. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 2. April 1958 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Kläger beantragten am 18. Mai 1957 die Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres Ehemannes bzw. Vaters E M (M.). M. war vor dem zweiten Weltkrieg selbständiger Landwirt in Ostpreußen; er leistete in den Jahren 1937 und 1938 aktiven Wehrdienst und von 1939 bis Kriegsende (1945) Kriegsdienst. Vom 1. Februar 1946 bis 28. Juni 1950 war M. in der Sowjetzone als Landwirt (Bewirtschaftung einer Kolchose) pflichtversichert; er entrichtete für 53 Monate Beiträge zur Sozialversicherung. M. starb am 28. Juni 1950. Die Kläger verzogen danach in die Bundesrepublik.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Hinterbliebenenrente mit Bescheid vom 14. Oktober 1957 ab, weil die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten nicht erfüllt sei; die Wehrdienstzeiten seien nicht als Ersatzzeiten anzurechnen, weil vorher keine Versicherung bestanden habe.
Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf wies die Klage durch Urteil vom 2. April 1958 ab.
Auf die Berufung der Kläger änderte das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen das Urteil des SG Düsseldorf ab; es verurteilte die Beklagte, den Klägern durch einen neuen Bescheid die Hinterbliebenenrente ab 1. Januar 1957 zu gewähren (Urteil vom 17. Januar 1962): Nach § 31 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF (in der vor dem 1. Januar 1957 geltenden Fassung) in Verbindung mit § 1263 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF sei zwar die Anrechnung der Wehrdienstzeit nicht möglich, weil eine Versicherung vor dem Wehrdienst des M. nicht bestanden habe; im Gegensatz zu dieser Vorschrift des AVG lasse jedoch § 28 Abs. 2 Buchst. a AVG nF die Anrechnung der Wehrdienstzeit als Ersatzzeit auch ohne Vorversicherungsverhältnis zu, wenn der Versicherte innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit aufgenommen habe. Diese Vorschrift sei auch auf Versicherungsfälle anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts, also vor dem 1. Januar 1957 (andererseits aber nach dem 31. März 1945) eingetreten sind. Mit den sich hiernach ergebenden weiteren Versicherungszeiten sei im vorliegenden Fall die Wartezeit erfüllt; der Anspruch der Kläger auf Hinterbliebenenrenten sei deshalb vom 1. Januar 1957 an gegeben. Das LSG ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte gegen das ihr am 13. Februar 1962 zugestellte Urteil am 28. Februar 1962 Revision ein; sie beantragte,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17. Januar 1962 aufzuheben und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des SG Düsseldorf zurückzuweisen.
Sie begründete die Revision ebenfalls am 28. Februar 1962. Das LSG habe § 28 AVG nF unrichtig angewandt; diese Vorschrift sei - wie das Bundessozialgericht bereits mehrfach entschieden habe - auf Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1957 nicht anzuwenden.
Die Kläger beantragten,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist nach §§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig; sie ist auch begründet.
Hinterbliebenenrenten werden nach § 40 Abs. 1 und 2 AVG nF gewährt, wenn für den Verstorbenen (Versicherten) zur Zeit seines Todes eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt ist oder die Wartezeit nach § 29 AVG als erfüllt gilt. Hier sind für den Versicherten - wie das LSG festgestellt hat - in der Zeit von Februar 1946 bis Juni 1950 Beiträge für 53 Monate zur Rentenversicherung entrichtet worden. Damit ist die gesetzliche Wartezeit nicht erfüllt. Tatbestände, die zur Folge haben, daß die Wartezeit als erfüllt gilt (§ 29 AVG nF), liegen nicht vor. Die Entscheidung über den Anspruch der Kläger hängt deshalb davon ab, ob Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit anzurechnen sind.
Das LSG hat angenommen, die Wehrdienstzeiten des Versicherten bis 1945 seien als Ersatzzeit anzurechnen, mit ihnen sei die gesetzliche Wartezeit von 60 Monaten erfüllt. Es hat sich dabei auf die Vorschriften des § 28 Abs. 1 und 2 AVG nF gestützt; darin ist - im Gegensatz zu § 31 AVG in der vor dem 1. Januar 1957 geltenden Fassung (aF) wo auf § 1263 RVO aF verwiesen wird - bestimmt, daß die Wehrdienstzeit auch ohne vorhergehende Versicherungszeiten anzurechnen ist, wenn - wie es hier der Fall gewesen ist - der Versicherte innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung des Wehrdienstes eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit aufgenommen hat (§ 28 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Buchst. a). § 28 AVG nF gilt jedoch - entgegen der Annahme des LSG - nur für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen, die in der Zeit seit dem Inkrafttreten des AnVNG, also seit dem 1. Januar 1957 eingetreten sind. Dies folgt aus der grundsätzlichen Regelung des AnVNG für Übergangsfälle; nach Art. 2 § 6 AnVNG ist auf Versicherungsfälle, die vor die vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts eingetreten sind, das bisherige Recht anzuwenden, soweit nicht in den Übergangsvorschriften etwas anderes bestimmt ist. Über die Anrechnung von Ersatzzeiten sagen aber die §§ 8 und 11 des Art. 2 AnVNG nichts; diese Vorschriften führen daher für die Versicherungsfälle, für die sie gelten, die Ersatzzeitenregelung des § 28 AVG nF nicht ein. Zwar weist Art. 2 § 8 AnVNG auf § 26 AVG nF hin. Dies bedeutet aber nicht, daß deshalb - über den Klammerzusatz in § 26 und über § 27 AVG - auch § 28 anzuwenden ist. Der Hinweis auf § 26 AVG in Art. 2 § 8 AnVNG betrifft, vielmehr allein die Anwartschaftsregelung des § 26 AVG, er betrifft aber nicht auch gleichzeitig die Ersatzzeitenregelung des § 28 AVG. Diese Rechtsansicht hat der 1. Senat des BSG bereits in mehreren Urteilen vertreten und aus dem Wortlaut, dem Zweck und dem Sinnzusammenhang der Gesetzesvorschriften und aus den Gesetzesmaterialien eingehend begründet (vgl. u. a. BSG 9, 62; Urteile vom 28. April 1959 - 1 RA 183/57 -, vom 21. Juli 1959 - 1 RA 18/59 - und vom 21. Juli 1959 - 1 RA 27/59 -). Der 4. Senat und der 12. Senat des BSG sind der Auffassung des 1. Senats beigetreten (BSG 10, 151; BSG 16, 38 und Urteil des BSG vom 30. Mai 1962, 12/3 RJ 60/59). Die drei Senate haben auch die Erwägungen erörtert, die das LSG zu einer abweichenden Ansicht veranlaßt haben; sie haben dargelegt, daß die andersartige Ersatzzeitenregelung im Knappschaftsversicherungs-Neuregelungsgesetz (Art. 2 § 6 KnVNG, § 7 KnVNG) keine Rückschlüsse auf den Sinngehalt des ArVNG und des AnVNG gestattet (Urteil des 1. Senats vom 28. April 1959 - 1 RA 183/57 und BSG 10, 151, 155, 156). Der erkennende Senat schließt sich nach erneuter Prüfung der Rechtslage der Auffassung des 1. Senats, des 4. und des 12. Senats an. § 28 AVG findet sonach im Falle der Kläger, in dem die Ansprüche auf einen im Jahre 1950 eingetretenen Versicherungsfall gestützt werden, keine Anwendung; die Wartezeit ist nicht erfüllt; die Kläger haben keinen Anspruch auf eine Rente. Die Revision der Beklagten ist danach begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben; die Berufung der Kläger gegen das zutreffende Urteil des SG ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen