Leitsatz (amtlich)
In der Kriegsopferversorgung besteht ein Anspruch auf Festsetzung eines ziffernmäßig bestimmten Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht, wenn die Erwerbsminderung weniger als 25 % beträgt.
Orientierungssatz
Die Zurückverweisung einer Sache an die Verwaltungsbehörde ist nach dem SGG unzulässig und ein wesentlicher Mangel des Verfahrens. Die Verwaltungsbehörden der Kriegsopferversorgung können jedenfalls insoweit bindende Feststellungen treffen, als die festzustellenden Umstände nach dem materiellen Versorgungsrecht selbständige Bedeutung neben Ansprüchen auf Leistungen haben. Das trifft in den Fällen des BVG § 10 Abs 2 zu.
Normenkette
BVG § 29 Fassung: 1950-12-20; SGG § 55 Fassung: 1953-09-03; BVG § 10 Abs. 2 Fassung: 1950-12-20; SGG § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 25. März 1955 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger begehrt Versorgung wegen eines Magenleidens. Er wurde 1938 nach B. II wegen eines Magengeschwürs operiert. Im Oktober 1941 wurde er zum Wehrdienst eingezogen. Er tat Dienst in der Heimat und ab Februar 1949 in Dänemark. Ende 1941, von Juli bis Oktober 1942, Anfang 1945 und im Juni 1945 war er in Lazarettbehandlung wegen Magengeschwüren.
Das Versorgungsamt (VersorgA.) I Berlin hat nach versorgungsärztlicher Untersuchung mit Bescheid vom 26. September 1952 Versorgung abgelehnt, weil es sich bei dem Magenleiden um ein konstitutionelles Leiden handele. Die während der Dienstzeit aufgetretenen Verschlimmerungen seien vorübergehend, aber nicht richtunggebend gewesen. Die jetzt feststellbaren Veränderungen seien nur eine Folge des 1937 aufgetretenen Leidens. Das Landesversorgungsamt (LVersorgA.) Berlin hat den Einspruch zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG.) Berlin hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG.) Berlin hat mit Urteil vom 25. März 1955 entschieden: "Auf die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. Berlin vom 6. Oktober 1954 wird die Sache zur erneuten Prüfung und Bescheiderteilung an die Versorgungsbehörde zurückverwiesen". Das LSG. hat ausgeführt, die bisherige Prüfung der Sache durch die Versorgungsbehörde sei keine ausreichende Grundlage für eine Entscheidung. Die Frage einer bis heute fortwirkenden Verschlimmerung des Leidens durch den Wehrdienst sei nicht ausreichend geprüft. Die Stellungnahme der Wehrmachtsärzte des Reservelazaretts L. (Holstein), die 1946 Wehrdienstbeschädigung im Sinn der Verschlimmerung und Versehrtenstufe I angenommen hätten, und die Angaben des Klägers, er sei seit Entlassung in ärztlicher Behandlung gewesen, seien nicht genügend berücksichtigt worden. Die Zulässigkeit der Zurückverweisung an die Versorgungsbehörde folge aus der Befugnis der Verwaltungsgerichte, die Behörde zur Vornahme eines Verwaltungsakts zu verurteilen, oder die Entscheidung auf den Grund des Anspruches zu beschränken. Die Versorgungsbehörde müsse auch bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) unter 25 v.H. einen genauen Vomhundertsatz feststellen. Durch die Beschädigung könne zusammen mit anderen Einzelschäden verschiedener Ursache möglicherweise Anspruch auf den Schutz des Schwerbeschädigtengesetzes bestehen.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen die Entscheidung des SG. Berlin vom 6. Oktober 1954 zurückzuweisen, hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils, die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Der Beklagte stützt die Revision auf einen wesentlichen Verfahrensmangel und eine Verletzung des Gesetzes im Sinn des § 162 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Er rügt die Zurückverweisung an die Versorgungsbehörde zur nochmaligen Entscheidung. Im SGG fehle eine Vorschrift wie § 126 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 10. Januar 1922 und wie § 1715 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Auch sei keine dem § 159 SGG entsprechende Bestimmung über die Zurückverweisung an die Verwaltungsbehörde vorhanden. Das SG. und LSG. hätten als Tatsachengerichte nach § 103 SGG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Das Gericht sei daher verpflichtet, den Sachverhalt bis zur Entscheidungsreife aufzuklären. Wenn das LSG. der Auffassung gewesen sei, die Frage der richtunggebenden Verschlimmerung sei von dem Versorgungsarzt, der dazu ausdrücklich Stellung genommen habe, zu Unrecht verneint worden, so hätte es gemäß §§ 103, 106 SGG ein fachärztliches Gutachten einholen müssen.
Der Beklagte rügt ferner eine Verletzung der §§ 1, 9 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Eine besondere Feststellung des Grades der MdE. sei im BVG nicht vorgesehen. Die VersorgÄ. seien nicht Feststellungsbehörden im Rahmen des Schwerbeschädigtengesetzes. Die Feststellung der Schwerbeschädigteneigenschaft liege bei den Hauptfürsorgestellen. Diese setzten die Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit nach Einholung einer fachärztlichen Stellungnahme oder Untersuchung fest. Auch die laufende Überwachung des Fortbestehens der Schwerbeschädigteneigenschaft sei Aufgabe der Hauptfürsorgestellen. Die Auffassung des LSG. würde bedeuten, daß die Versorgungsbehörden auch bei einer MdE. unter 25 v.H. Nachuntersuchungen zur Feststellung einer etwaigen Besserung des Gesundheitszustandes vornehmen müßten. Das sei nicht möglich weil nach § 62 BVG Bescheide nur abgeändert werden könnten, wenn die Höhe der Versorgungsbezüge neu festzustellen sei. Eine Abänderung der MdE. im Hinblick auf § 24 des Schwerbeschädigtengesetzes sei weder aus dem BVG noch aus dem Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG) der Kriegsopferversorgung (KOV.) vom 2. Mai 1955 herzuleiten.
Der Kläger hat in dem am 2. August 1955 eingegangenen Schriftsatz vom 30. Juli 1955 erklärt, daß er zu dem Schriftsatz des Beklagten keine Anträge stelle. Er schließe sich der Rechtsauffassung des Beklagten an.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 Abs. 2 SGG). Das LSG. hat sie nicht zugelassen. Sie findet daher nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des LSG. gerügt wird und vorliegt, oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 SGG, BSG. 1 S. 150 und 254).
Mit dem Vorbringen, das LSG. habe die Sache nicht an die Versorgungsbehörde zurückverweisen dürfen, wird ein wesentlicher Verfahrensmangel durch Verstoß gegen §§ 153, 103, 54 Abs. 1 SGG gerügt. Dieser Verfahrensmangel liegt vor. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß die Zurückverweisung einer Sache an die Verwaltungsbehörde nach dem SGG unzulässig ist und einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt (BSG. 2 S. 94). Das LSG. als Tatsacheninstanz ist verpflichtet, einen nach seiner Ansicht nicht genügend aufgeklärten Sachverhalt selbst von Amts wegen soweit zu erforschen, daß es über den erhobenen Versorgungsanspruch entscheiden kann (vgl. auch BSG. vom 11.11.1956 - 10 RV 425/54 -). Es muß bei Vorliegen der formalen Voraussetzungen sachlich entscheiden. Die Revision ist somit statthaft, weil der gerügte Verfahrensmangel vorliegt (BSG. 1 S. 150).
Da die Revision statthaft ist, hatte das Bundessozialgericht (BSG.) das angefochtene Urteil in vollem Umfang materiellrechtlich nachzuprüfen (BSG. 3 S. 180 [185 f.f.]). Dabei kann der Rechtsauffassung des LSG., die Versorgungsbehörde müsse, auch wenn die MdE. 25 v.H. nicht erreiche, einen ziffernmäßig bestimmten Vomhundertsatz feststellen, nicht gefolgt werden.
Die Versorgungsbehörde hat über die im BVG geschaffenen Versorgungsansprüche zu entscheiden. Diese sind in § 9 BVG aufgezählt. Sie sind auf Leistungen gerichtet. Einen sachlichrechtlichen Anspruch allein auf Zuerkennung eines bestimmten Grades der MdE. gibt es nicht. Der Grad der MdE. ist nur von Bedeutung hinsichtlich der Bemessung der Rente (§ 29 BVG) und bei dem Anspruch auf Heilbehandlung für Gesundheitsstörungen, die nicht Folge einer Schädigung sind (§ 10 Abs. 5 BVG). Eine andere selbständige Bedeutung hat die Höhe der MdE. nicht. Sie ist nur eines von mehreren Tatbestandsmerkmalen bei bestimmten Ansprüchen.
Der Durchführung der in § 9 BVG aufgezählten Leistungsansprüche dient das Gesetz über das VerwVG der KOV. vom 2. Mai 1955. Ob und in welchen Fällen verfahrensrechtlich nur die Feststellung bestimmter Verhältnisse ohne Leistungen verlangt werden kann, ist im VerwVG nicht ausdrücklich geregelt. In den Verwaltungsvorschriften (VV.) Nr. 3 zu § 1 VerwVG wird die Feststellung, daß eine Gesundheitsstörung Folge einer Schädigung im Sinn des § 1 BVG ist, für zulässig erachtet, wenn der Anspruch auf Versorgung nicht geltend gemacht werden kann. Da Ziel und Zweck der Tätigkeit der VersorgÄ. die Verwirklichung der Ansprüche der Kriegsopfer ist, müssen die Versorgungsbehörden jedenfalls insoweit auch bindende Feststellungen treffen können, als die festzustellenden Umstände nach materiellen Versorgungsrecht selbständige Bedeutung neben Ansprüchen auf Leistungen haben. Dies trifft im Fall des § 10 Abs. 2 BVG zu, wonach Heilbehandlung auch gewährt wird, wenn die anerkannten Schädigungsfolgen den Bezug einer Rente nicht rechtfertigen. Hieraus und aus § 10 Abs. 3 BVG ergibt sich, daß die Feststellung, daß Gesundheitsstörungen Schädigungsfolgen sind, schon begehrt werden kann, bevor die Leistung, nämlich Heilbehandlung im Sinn des § 11 BVG, notwendig wird. Insoweit sind jedenfalls Feststellungen zulässig.
Auch aus § 55 Abs. 1 SGG folgt, daß in der KOV. Feststellungen in gewissem Umfang möglich sind. Diese Vorschrift betrifft unmittelbar nur eine Klage vor den Gerichten. Voraussetzung der Feststellungsklage, wie einer jeden Klage, ist ein Rechtsschutzbedürfnis (§ 53 SGG). Es besteht, wenn der Verpflichtete, hier die Versorgungsbehörde, dem Begehren des Klägers nicht stattgibt. Die Versorgungsbehörde muß, um die Klage zu vermeiden, im Stande sein, über das Feststellungsbegehren des Klägers zu entscheiden. Das ist dann erforderlich, wenn es sich um ein Feststellungsbegehren handelt, das der Kläger auch im Weg der Klage erzwingen könnte. Der Grad der MdE. wird von § 55 Abs. 1 SGG jedoch nicht umfaßt. Das BSG. hat bereits entschieden, daß Gegenstand der Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht die einzelnen Faktoren sein können, aus denen später etwa eine Rente zu errechnen ist (BSG. 4 S. 184).
Im Schwerbeschädigtengesetz und in den Durchführungsverordnungen (DurchfVO), insbesondere in der ersten DurchfVO vom 18. März 1954, ist nicht gesagt, ob in den Fällen des Zusammentreffens mehrerer Schädigungen verschiedener Ursache (§ 1 Abs. 1 Buchst. e SchwBG) eine eigene verbindliche Feststellung der Schwerbeschädigteneigenschaft zu erfolgen hat und welche Stelle sie trifft. Für die Versorgungsbehörde jedenfalls ergibt sich eine selbständige Verpflichtung zur Feststellung des Grades der MdE. weder aus dem BVG noch aus dem SGG noch aus einem sonstigen Gesetz.
Die Revision ist begründet, weil das Urteil auf einem wesentlichen Verfahrensmangel, nämlich der Zurückverweisung an die Versorgungsbehörde, beruht (§ 162 Abs. 2 SGG). Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Der Senat konnte nicht selbst entscheiden, denn zur Entscheidung bedarf es noch Feststellungen tatsächlicher Art zu dem angegebenen Magenleiden des Klägers. Diese sind dem BSG. nicht möglich. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 2340699 |
BSGE, 126 |
NJW 1958, 1157 |