Orientierungssatz

Hat ein Versorgungsberechtigter außer der Amputation des rechten Unterschenkels nur einen teilweisen Verlust des linken Fußes (Absetzung nach Chopart) erlitten, so ist er nicht Doppelamputierter und kann einem solchen auch nicht (durch ausdehnende Auslegung der VV BVG § 35 Nr 8) gleichgestellt werden.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1; BVGVwV Nr. 8 Fassung: 1969-06-26

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. März 1967 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger erhält wegen Verlustes des linken Fußes im Chopart'schen Gelenk mit Bewegungseinschränkung des linken Fußgelenkes und Spitzfußstellung sowie wegen Verlustes des rechten Beines in der Mitte des Unterschenkels Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H.. Sein Antrag, ihm die Pflegezulage nach Stufe I zu gewähren, da er einem Doppelunterschenkelamputierten gleichzustellen sei, wurde vom Versorgungsamt mit Bescheid vom 8. November 1961 abgelehnt, weil Hilflosigkeit i. S. des § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht vorliege. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 1963).

Das Sozialgericht (SG) sprach dem Kläger mit Urteil vom 6. Februar 1964 die Pflegezulage der Stufe I vom 1. Dezember 1960 an zu. Obwohl es den nach der Verwaltungsvorschrift (VV) Nr. 8 zu § 35 BVG erforderlichen vollständigen Verlust eines Gliedes bei der Amputation nach Chopart verneinte, hielt es die Gleichstellung mit einem Doppelamputierten für angebracht, weil die Verhältnisse am linken Fuß für den Kläger nachteiliger seien als ein vollständiger Verlust (Amputation nach Pirogoff).

Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 9. März 1967 das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen. Zur Prüfung der Hilflosigkeit i. S. des § 35 BVG und der Voraussetzungen der VV Nr. 8 hat das LSG die ärztlichen Sachverständigen Dr. K/Dr. M sowie Prof. Dr. K von der Chirurgischen Klinik des Klinikums E der Universität M, ferner in der mündlichen Verhandlung vom 15. September 1966 den Facharzt für Chirurgie Dr. W und auf Antrag des Klägers gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Prof. Dr. H von der Orthopädischen Universitätsklinik K. gehört. Dr. K und Dr. M haben es aufgrund des Befundes des linken Fußstumpfes für glaubhaft gehalten, daß der Kläger nach längerem Laufen die orthopädischen Hilfsmittel (orthopädischer Schuh links und Unterschenkelprothese rechts) zu Hause alsbald abzulegen bestrebt sei. Dadurch trete ein Zustand ein, der ihn bei den täglichen Verrichtungen behindere. Da eine längere Belastbarkeit des linken Amputationsstumpfes nicht möglich sei, könne sich der Kläger ohne fremde Hilfe alsdann nur auf den Knien fortbewegen. Er könne nicht allein die Toilette oder das Bad aufsuchen, er könne sich auch nicht stehend waschen und nach Ablegen der orthopädischen Hilfsmittel ohne fremde Hilfe nicht den Platz wechseln. Er dürfte demnach als hilflos anzusehen sein. Im übrigen sei der Kläger mangels ausreichender Belastbarkeit des Amputationsstumpfes des linken Fußes einem Doppelamputierten - in diesem Falle einem Pirogoffunterschenkelamputierten - gleichzustellen. Prof. Dr. K hat dieser Auffassung in seinem Gutachten vom 14. November 1965 zugestimmt. Dr. W hat dagegen aufgrund seiner Untersuchung und der von ihm beigezogenen Röntgenfilme der Städtischen Krankenanstalten E die Ansicht vertreten, nach dem Untersuchungsbefund könne der Kläger die Verrichtungen des täglichen Lebens ohne fremde Hilfe selbst ausführen, der er nur bei der Benutzung des Bades bedürfe. Nach den vorliegenden Befunden sei es nicht verständlich, warum der Kläger bestrebt sei, seine Prothesen möglichst bald abzulegen. Erfahrungsgemäß verursache die Verwendung von Prothesen jedem Amputierten Beschwerden. Durch entsprechendes orthopädisches Maßschuhwerk werde bei dem vorhandenen Fußstumpf eine ausreichende Belastbarkeit des linken Beines erreicht. Aus medizinischer Sicht sei der Kläger einem Doppelamputierten nicht gleichzustellen. Prof. Dr. H hat in seinem Gutachten vom 12. Januar 1967 ebenfalls verneint, daß der Kläger für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedürfe; er benötige sie nur bei der Benutzung des Bades. Funktionell befinde sich der Kläger zwar in einer ähnlichen Lage wie ein Doppelamputierter, aber nicht anatomisch, da es sich nicht um den Verlust des ganzen Fußes handele, so daß die Voraussetzungen für eine Gleichstellung mit einem Doppelamputierten nicht gegeben seien. Das LSG hat sodann in Übereinstimmung mit den ärztlichen Sachverständigen Dr. W und Prof. Dr. H die Voraussetzungen der Hilflosigkeit i. S. des § 35 BVG verneint. Es hat aufgrund der ärztlichen Befunde auch eine Anerkennung des Klägers als Doppelamputierter im Sinne der VV Nr. 8 zu § 35 BVG oder die Gleichstellung mit einem solchen abgelehnt. Die Anerkennung als Doppelamputierter setze den vollständigen Verlust zweier Gliedmaßen voraus. Die Amputation des linken Fußes nach Chopart habe aber nicht den vollständigen Verlust des Fußes zur Folge. Die dadurch verursachte Funktionsstörung sei für die Auslegung des Begriffs "Doppelamputierter" nicht entscheidend und lasse eine Gleichstellung nicht zu. Dies gelte im vorliegenden Fall um so mehr, als Prof. Dr. H durch operative Korrekturen eine Verbesserung des Amputationszustandes für möglich halte. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil es der Frage der Gleichstellung mit einem Doppelamputierten beim Zusammentreffen eines Gliedverlustes mit Funktionseinbußen eines anderen Gliedes grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat.

Der Kläger hat gegen das ihm am 26. April 1967 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 8. Mai 1967, beim Bundessozialgericht am 9. Mai 1967 eingegangen, form- und fristgerecht Revision eingelegt.

Er beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des Landessozialgerichts Essen vom 9. März 1967 das beklagte Land gemäß dem Klageantrage zu verurteilen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils samt den ihm zugrunde liegenden Feststellungen die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Essen zurückzuverweisen.

In der Revisionsbegründung vom 22. Juni 1967, die am 23. Juni 1967 beim BSG eingegangen ist, rügt der Kläger eine Verletzung der VV Nr. 8 zu § 35 BVG. Er ist der Auffassung, der Begriff "Doppelamputierter" sei nicht in erster Linie nach dem "Substanzverlust", sondern nach dessen Auswirkungen zu beurteilen. In diesem Sinne habe sich der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) in seinem Rundschreiben im Bundesversorgungsblatt 1958, 153 zum Pirogoffstumpf geäußert. Aus den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" (z. B. S. 59, 120, 124, 127, 128) ergebe sich ebenfalls, daß die Funktionsfähigkeit dem vollständigen Gliedverlust gleichgesetzt werde. Es entspreche auch den natürlichen Gegebenheiten, daß ein Körperteil, der seine Funktion verloren habe, nicht mehr als Teil des menschlichen Körpers im Sinne eines lebendigen Organismus betrachtet werden könne.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.

Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Die Revision ist daher zulässig, sie ist aber nicht begründet.

Nach § 35 Abs. 1 BVG in der im vorliegenden Falle anwendbaren Fassung des Ersten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts (1. NOG vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) hat der Beschädigte Anspruch auf eine Pflegezulage, solange er infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf. Nach den nicht angegriffenen und daher bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) kann der Kläger die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens bis auf die Benutzung des Bades allein ausführen. Er bedarf dazu somit nicht in erheblichem Umfange dauernd fremder Hilfe, so daß die Voraussetzungen der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG nicht erfüllt sind. Insoweit ist die Entscheidung des LSG auch nicht angefochten.

Der Kläger kann eine Pflegezulage der Stufe I aber auch nicht nach der VV Nr. 8 in der Fassung vom 14. August 1961 (Bundesanzeiger Nr. 161 vom 23. August 1961) zu § 35 BVG verlangen. Danach steht Doppelamputierten ohne weitere Gesundheitsstörungen im allgemeinen eine Pflegezulage nach Stufe I zu, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um paarige oder nicht paarige Gliedverluste (Oberarm, Unterarm, ganze Hand, Oberschenkel, Unterschenkel, ganzer Fuß) handelt. Rechtsgrundlage für die Gewährung einer Pflegezulage ist zwar allein § 35 BVG; in den VV dazu drückt die Verwaltung nur ihre Auffassung zur Anwendung der Vorschriften über die Pflegezulage aus. Die VV Nr. 8 läßt insofern eine Erleichterung bei der Anwendung der Vorschriften über die Pflegezulage zu, als sie es den Versorgungsbehörden erlaubt, bei Doppelamputierten die Voraussetzungen der Hilflosigkeit ohne weiteres als gegeben anzusehen und die Pflegezulage der Stufe I zu gewähren, ohne daß die Erfordernisse der Hilflosigkeit im einzelnen noch geprüft werden müßten (vgl. BSG 3, 217). Die VV bindet die Verwaltung, die demgemäß verpflichtet ist, bei Doppelamputierten in der vorgesehenen Weise zu verfahren und sich eine gleichmäßige Behandlung dieses Personenkreises angelegen sein zu lassen, da sie sonst den Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß Art. 3 des Grundgesetzes verletzen würde. Der Kläger kann aber nicht beanspruchen, als Doppelamputierter im Sinne der VV Nr. 8 zu § 35 Abs. 1 BVG behandelt zu werden. Die Anerkennung als Doppelamputierter setzt einen doppelten Gliedverlust voraus. Ein Gliedverlust in diesem Sinne liegt jedoch nur vor, wenn die Amputation zum vollständigen Verlust eines Gliedes geführt hat. Dieses Erfordernis ergibt sich aus den dem Begriff "Doppelamputierter" in Klammern beigefügten Beispielen" (... ganze Hand, ... ganzer Fuß)". Es entspricht aber auch dem Sinn der durch die VV Nr. 8 zu § 35 BVG für Doppelamputierte zugelassenen Regelung, die auf der Erwägung beruht, daß Doppelamputierte - aber nur diese - regelmäßig so erheblich behindert sind, daß sie fremder Hilfe bedürfen. Beim Kläger liegt außer der Amputation des rechten Unterschenkels in der Mitte eine Absetzung des linken Fußes nach Chopart vor. Dabei handelt es sich um eine Absetzung des Fußes im Gelenk zwischen der ersten und zweiten Reihe der Fußwurzelknochen, so daß der Kläger dadurch nur einen teilweisen Verlust des linken Fußes erlitten hat. Er ist infolgedessen nicht Doppelamputierter im Sinne der VV Nr. 8.

Der Kläger kann auch nicht "einem Doppelamputierten gleichgestellt" werden. Der durch die VV Nr. 8 bei Doppelamputierten erlaubte Verzicht auf einen Nachweis der Merkmale der Hilflosigkeit im einzelnen bedeutet schon ein sehr weitgehendes Entgegenkommen, das nur wegen der besonderen Erschwernisse vertretbar erscheint, in die Doppelamputierte durch einen doppelten vollständigen Verlust von Gliedmaßen regelmäßig geraten, wobei in Kauf genommen wird, daß die Voraussetzungen der Hilflosigkeit i. S. des § 35 Abs. 1 BVG unter Umständen streng genommen nicht erfüllt sind. Diese nach ihrem Wortlaut und ihrem Sinn nur für Doppelamputierte geltende Erleichterung läßt es aber nicht zu, die Pflegezulage ohne weiteres auch dann zu gewähren, wenn der vollständige Gliedverlust nur eines Gliedes vorliegt und dieser mit der schweren Schädigung eines anderen Gliedes zusammentrifft, selbst wenn damit ein Funktionsausfall verbunden wäre. Eine derartige Ausdehnung wäre mit dem Wortlaut und dem Sinn der VV Nr. 8 nicht vereinbar. Auch wenn der teilweise Verlust des linken Fußes beim Kläger zu einem Funktionsausfall geführt hätte, ist eine Gleichsetzung mit einem vollständigen Gliedverlust im Sinne der VV Nr. 8 nicht möglich. Unter diesen Umständen kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, in welchem Umfang durch die Absetzung nach Chopart überhaupt ein Funktionsausfall eingetreten ist und inwieweit dieser durch die Verwendung orthopädischer Hilfsmittel ausgeglichen werden kann.

Der Kläger kann sich für sein Begehren, wie ein Doppelamputierter im Sinne der VV Nr. 8 behandelt zu werden, auch nicht auf das Rundschreiben des BMA vom 20. Oktober 1958 (BVBl 1958, 153) stützen. In diesem Rundschreiben ist ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ein "Gliedverlust" im Sinne der VV Nr. 8 zu § 35 BVG nur beim vollständigen Verlust eines Gliedes - z. B. ganze Hand, ganzer Fuß - vorliegt, eine Amputation nach Pirogoff aber nicht als Verlust des ganzen Fußes gewertet werden kann und in diesem Falle die Gewährung einer Pflegezulage daher nicht ohne weiteres, sondern nur dann möglich ist, wenn unter Berücksichtigung der Auswirkungen des Verlustes der anderen Gliedmaßen infolge mangelhafter Stumpfverhältnisse im Pirogoffstumpf Hilflosigkeit i. S. des § 35 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz BVG nachgewiesen wird. Der BMA hat demnach entgegen der Meinung des Klägers bei einer Amputation nach Pirogoff die Voraussetzungen eines vollständigen Gliedverlustes ausdrücklich verneint und in diesem Falle die Gewährung einer Pflegezulage beim Zusammentreffen mit dem vollständigen Verlust eines anderen Gliedes vom Nachweis der Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 BVG abhängig gemacht.

Eine Gleichstellung der teilweisen Absetzung des linken Fußes mit dem vollständigen Verlust kann auch nicht auf die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen" gestützt werden. Ganz abgesehen davon, daß der Kläger die seinem Hinweis zugrunde gelegte Ausgabe der Anhaltspunkte nicht näher bezeichnet hat, können diese auch nicht zur Beurteilung der Frage herangezogen werden, ob ein vollständiger Gliedverlust vorliegt. Die erwähnten Anhaltspunkte sollen den ärztlichen Sachverständigen eine Hilfe bei der Erstattung von Gutachten sein und sicherstellen, daß gleichgelagerte Fälle nach gleichen Gesichtspunkten beurteilt und bewertet werden. Sie sind Maßstäbe für die Beurteilung der einzelnen Krankheitszustände und der dadurch verursachten MdE. Soweit darin bestimmte Krankheitszustände dem Verlust von Gliedmaßen gleichgeachtet werden, gilt dies nur für die Bewertung der MdE nach den dafür aufgestellten Grundsätzen. Im übrigen wird in der Ausgabe 1954 der Anhaltspunkte (vgl. S. 139 Nr. 149) die Absetzung nach Chopart ausdrücklich als "Teil-Absetzung des Fußes" bezeichnet, wobei der Hinweis darauf, daß die teilweise Absetzung "nach dem Grad der verbliebenen Gehfähigkeit in Verbindung mit dem orthopädischen Hilfsmittel zu beurteilen ist", nur einen Maßstab für die Beurteilung der MdE darstellt.

Da der Kläger sonach die Voraussetzungen der Hilflosigkeit gemäß § 35 Abs. 1 BVG nicht erfüllt und auch nicht zu den Doppelamputierten im Sinne der VV Nr. 8 zu § 35 BVG gehört oder diesen gleichgestellt werden kann, besteht kein Anspruch auf eine Pflegezulage. Die Revision ist somit nicht begründet und war daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669884

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