Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Krankenunterlagen
Orientierungssatz
Geht das LSG von einem einmonatigen Lazarettaufenthalt eines Beschädigten aus und schließt es daraus auf eine nicht schwere Verwundung, während der Lazarettaufenthalt tatsächlich mehr als fünf Monate betrug, so ist die Beweiswürdigung des Gerichts fehlerhaft.
Normenkette
SGG § 128
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 30.11.1967) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 30. November 1967 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Gründe
Der Kläger stellte im September 1950 einen Versorgungsantrag wegen "Splitter im Kopf". Das Versorgungsamt (VersorgA) zog einen Untersuchungsbefund von Prof. Dr. H bei und veranlaßte eine Begutachtung durch Prof. Dr. H. Durch Bescheid vom 29. Dezember 1953 wurde als Schädigungsfolge anerkannt: "Reaktionslos verheilte Weichteilnarbe über dem rechten Scheitelbein"; eine Rentengewährung wurde abgelehnt, da eine MdE im gesetzlichen Mindestgrad von 25 v. H. nicht erreicht werde. Im Widerspruchsverfahren wurde durch Bescheid vom 22. Juli 1954 die Leidensbezeichnung ergänzt: "2. Reizlos eingeheilte Metallsplitterchen in den Weichteilen der Nasenwurzel rechtsseitig sowie an der Außenseite der rechten Keilbeinhöhle (beide Splitter außerhalb der Schädelhöhle)". Eine Rentengewährung wurde weiterhin abgelehnt. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage durch Urteil vom 16. Januar 1956 ab. Das Landessozialgericht (LSG hob diese Entscheidung durch Urteil vom 11. Juni 1958 auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurück. Im erneuten Klageverfahren wurden neurologisch-psychiatrische Gutachten von Dr. W und von Prof. Dr. S/Dr. G sowie ein fachinternistisches Gutachten von Dr. N eingeholt und eine Auskunft der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) beigezogen. Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wurden Gutachten von dem Facharzt für Nervenleiden Dr. D, dem Facharzt für innere Medizin Dr. D und der Nervenärztin Dr. W erstattet. Der Beklagte brachte Stellungnahmen von den Fachärzten für Neurologie und Psychiatrie Frau Dr. B und Dr. W bei. Die Schwester des Klägers, M R, wurde als Zeugin vernommen. Das SG hat sodann durch Urteil vom 21. Oktober 1966 den Beklagten verurteilt, "3. Hirnverletzung mit zentralen Regulierungsstörungen, Hirnleistungsschwäche und Restparesen der linken Körperseite" als weitere Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen und dem Kläger Beschädigtenrente nach dem Gesamtgrade der MdE in Höhe von 60 v. H. seit dem 1. Juli 1950 zu zahlen.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und eine weitere Stellungnahme von Dr. W beigebracht. Der Kläger hat die Zurückweisung der Berufung und hilfsweise beantragt, gemäß § 109 SGG ein rein psychiatrisches Gutachten von Prof. Dr. S einzuholen.
Das LSG hat durch Urteil vom 30. November 1967 das Urteil des SG Berlin vom 21. Oktober 1966 aufgehoben und die Klage abgewiesen. In den Gründen wird ausgeführt, nach den übereinstimmenden Beurteilungen von Dr. W, Prof. Dr. S und Prof. Dr. H, die im wesentlichen durch die früheren Befunderhebungen von Prof. Dr. H, bestätigt würden, zeige der Kläger keine neurologischen Ausfallserscheinungen und keine Zeichen einer traumatischen Hirnschädigung. Auch das Luftencephalogramm und das Elektroencephalogramm hätten keine Hinweise auf eine Hirnverletzung oder Hirnschädigung ergeben. Der gegenteiligen Beurteilung von Dr. D und Frau Dr. W könne nicht gefolgt werden. Frau Dr. W habe auf die mehrmonatige Lazarettbehandlung hingewiesen und daraus eine schwere Verwundung hergeleitet. Nach der Auskunft der WASt könne jedoch von einer 5 1/2monatigen Lazarettbehandlung keine Rede sein. Der Kläger sei nach dieser Auskunft am 7. September 1942 am Kopf leicht verwundet und bereits am 8. Oktober als "g. v. H." zum Ersatztruppenteil Luneville entlassen worden, also nur einen Monat in Lazarettbehandlung gewesen. Bei dem Kläger bestehe nach den eingeholten Gutachten ein leichter angeborener Schwachsinn, der auch für die sehr primitive demonstrative Verhaltensweise maßgebend sei. Zur Einholung eines weiteren nervenfachärztlichen Gutachtens nach § 109 SGG habe keine Veranlassung bestanden, da auf Antrag des Klägers bereits zwei nervenfachärztliche Gutachten eingeholt worden seien und eine neue Sachlage nach Einholung des Gutachtens von Frau Dr. W nicht eingetreten sei.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Dieses Urteil ist dem Kläger am 4. Januar 1968 zugestellt worden; die dagegen mit Schriftsatz vom 31. Januar 1968 eingelegte Revision ist am 2. Februar 1968, die Revisionsbegründung vom 2. April 1968 ist am 3. April 1968 beim Bundessozialgericht eingegangen, nachdem dieses die Revisionsbegründungsfrist bis zum 4. April 1968 verlängert hatte.
Der Kläger beantragt,
in Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 30. November 1967 die Berufung des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen;
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 30. November 1967 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Der Kläger will die Statthaftigkeit der Revision aus § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG herleiten und rügt in seiner Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, eine Verletzung der "§§ 103, 106, 109, 128 u. a. m. SGG und §§ 1 ff BVG". Er trägt u. a. vor, das LSG habe sich davon leiten lassen, daß die nachgewiesene Kopfverletzung vom 7. September 1942 nur eine Lazarettbehandlung von einem Monat bedingt habe. Dieser vom LSG angenommene Sachverhalt sei jedoch nachweislich unrichtig. Nach der Auskunft der WASt sei er erst am 23. Februar 1943 aus dem Luftwaffenlazarett Berlin als g. v. H. zum Ersatztruppenteil Luneville entlassen worden, habe sich also insgesamt 5 1/2 Monate in Lazarettbehandlung befunden. Zweifellos wäre das Vordergericht zu einer für ihn günstigen Entscheidung gelangt, wenn es diesen wichtigen und sogar entscheidenden Tatbestand über die lange Dauer der Lazarettbehandlung nicht übersehen hätte. Das LSG habe auch eine weitere Anfrage an die WASt richten und versuchen müssen aufzuklären, ob er, wie er wiederholt behauptet habe, im Jahre 1944 wegen seiner Kopfverletzungsfolgen als dienstunfähig entlassen worden sei. Wenn das LSG die Auffassung vertreten habe, daß seine Einberufung zum Volkssturm gegen Ende des Krieges gegen das Vorhandensein einer Hirnschädigung spreche, so habe das Vordergericht übersehen, daß der Einberufung zum Volkssturm in den bedrohten Gebieten keinerlei Untersuchungen vorausgegangen und sogar ehemalige Wehrmachtsangehörige mit den Versehrtenstufen III oder IV wieder einberufen worden seien. Das Urteil des LSG sei auch widerspruchsvoll, soweit das LSG festgestellt habe, daß "auch die ärztliche Untersuchung durch Prof. Dr. H im Jahre 1949 im Befund keine eindeutigen Hinweise auf Symptome von Lähmungserscheinungen enthält", obwohl dieser Gutachter ausdrücklich die Diagnose gestellt habe: "Kopfschuß mit leichter linksseitiger Hemiparese". Das LSG habe auch die Bekundungen der Zeugin Maria R über Lähmungserscheinungen nicht richtig gewürdigt. Die Akte der Schwerbeschädigtenstelle mit den darin befindlichen Gesundheitszeugnissen hätte herangezogen werden müssen. Die Höhe der MdE für die anerkannten Schädigungsfolgen einschließlich des während des Gerichtsverfahrens zusätzlich anerkannten "leichten Zwerchfellhochstandes rechts nach feuchter Rippenfellentzündung" hätte geprüft werden müssen. Das LSG habe den Antrag gemäß § 109 SGG auf Einholung eines rein psychiatrischen Gutachtens von Prof. Dr. S zu Unrecht abgelehnt, obwohl er auf die Notwendigkeit eines Gutachtens dieser Fachrichtung ausdrücklich hingewiesen habe.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zu verwerfen.
Nach seiner Auffassung liegen die von dem Kläger gerügten Verfahrensmängel nicht vor. Wegen seines weiteren Vorbringens wird auf die Revisionserwiderung vom 3. Mai 1968 verwiesen.
Die Revision des Klägers ist frist- und formgerecht eingelegt und auch rechtzeitig begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist die Revision nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Der Kläger rügt in seiner Revisionsbegründung in mehrfacher Hinsicht einen Verstoß gegen die Vorschriften der §§ 103, 106, 109, 128 SGG. Werden mehrere Verfahrensmängel gerügt, so genügt es, wenn einer dieser Verfahrensmängel vorliegt und die Revision trägt. In einem solchen Fall kommt es für die Statthaftigkeit der Revision nicht mehr darauf an, ob auch die übrigen Rügen durchgreifen (ständige Rechtsprechung des BSG; s. dazu BSG in SozR SGG § 162 Nr. 122).
Der Kläger rügt als wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG u. a. eine Verletzung des § 128 SGG, die er darin erblickt, daß das LSG von einem relativ kurzfristigen Lazarettaufenthalt von einem Monat ausgegangen ist, während er tatsächlich nach der Auskunft der WASt im Anschluß an die Kopfverwundung 5 1/2 Monate im Lazarett gelegen habe. Diese Rüge greift auch durch. Nach § 128 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es hat in seinem Urteil die Gründe anzugeben, die für seine Überzeugung maßgebend gewesen sind. Ein Verfahrensfehler liegt insoweit dann vor, wenn das Gericht die Grenzen seines Rechts zur freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten hat (vgl. BSG 2, 236). Dies ist u. a. dann der Fall, wenn das Gericht den der Entscheidung zugrunde gelegten Unterlagen Angaben entnimmt, die darin nicht enthalten sind, und infolgedessen zu verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Schlußfolgerungen gelangt, die mit dem Inhalt dieser Unterlagen im Widerspruch stehen (vgl. BSG in SozR SGG § 128 Nr. 12). So liegt der Fall aber hier. Das LSG hat seine Auffassung, warum es der Beurteilung von Frau Dr. W nicht hat folgen können, u. a. damit begründet, daß Frau Dr. W "auf die mehrmonatige Lazarettbehandlung hingewiesen und daraus eine schwere Verwundung hergeleitet hat", während "nach der Auskunft der WASt jedoch von einer 5 1/2-monatigen Lazarettbehandlung keine Rede sein kann".
Nach dieser Auskunft sei der Kläger am 7. September 1942 am Kopf leicht verwundet und am 8. Oktober als "g. v. H." zum Ersatztruppenteil Luneville entlassen worden. Das LSG fährt dann fort: "Der Kläger ist also nur einen Monat in Lazarettbehandlung gewesen." Diese Feststellung des LSG über den nur einmonatigen Lazarettaufenthalt ist jedoch eindeutig unrichtig und steht im Widerspruch zu den Angaben der WASt. Bereits in der Auskunft dieser Dienststelle vom 11. August 1952, die sich auf Blatt 14 der Versorgungsakten befindet, ist - allerdings auf der Rückseite, aber bestätigt durch Siegel und Unterschrift - vermerkt: "8.10.1942 bis 23.2.1943 Lw. Laz. Berlin, Lkb. Nr. 1406, Kopfw. d. Inf. Gesch.". In der vom SG eingeholten weiteren Auskunft der WASt vom 25. November 1958 (Bl. 47 der SG-Akten) lautet die entsprechende Eintragung wörtlich:
"8.10.42 Luftw.-Laz. Berlin, Lkb. Nr. 1406, 7. September 42 Kopfw. d. Inf. Gesch.
Zug.: v. Abt. A
Abg.: 23.2.43 g. v. H. z. Inf. Ers. Btl. 464 Luneville."
Diese Eintragung wird auch in dem Tatbestand des Berufungsurteils auf Seite 2 richtig und vollständig wiedergegeben. Das LSG hat nicht dargelegt, daß ihm noch eine andere, davon abweichende Auskunft zur Verfügung gestanden hat. Wenn das LSG alsdann in den Entscheidungsgründen unter Bezugnahme auf die Auskunft der WASt zu anderen, davon abweichenden Feststellungen gekommen ist, so sind diese Feststellungen verfahrensrechtlich fehlerhaft zustande gekommen. Dabei handelt es sich auch nicht um eine unbedeutende, die Entscheidung nicht tragende Hilfserwägung, sondern das LSG hat der Dauer der Lazarettbehandlung ersichtlich besondere Bedeutung beigemessen und seine - fehlerhafte - Feststellung über die Länge bzw. Kürze der Lazarettbehandlung ausdrücklich zur Begründung dafür verwandt, daß es der Auffassung von Frau Dr. ... - die auf die mehrmonatige Lazarettbehandlung hingewiesen und daraus eine schwere Verwundung hergeleitet hat - nicht gefolgt ist. Die Rüge einer Verletzung des § 128 SGG trifft somit zu. Die Revision ist aus diesem Grunde statthaft. Das angefochtene Urteil beruht auch auf dem gerügten Verfahrensmangel, weil das LSG möglicherweise anders entschieden hätte, wenn es das Beweismittel verfahrensrechtlich einwandfrei gewürdigt hätte. Das Urteil des LSG war daher aufzuheben. In der Sache selbst konnte der Senat nicht entscheiden, weil es infolge der Rüge des Klägers an einer verfahrensrechtlich einwandfreien Feststellung über die Dauer der Lazarettbehandlung und als Folge davon an einer fehlerfreien Würdigung des Gutachtens von Frau Dr. W fehlt. Dadurch kann auch das Gesamtergebnis des Verfahrens beeinflußt sein. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen