Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Kontoristin. Revisionsbegründung

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage der Berufsunfähigkeit bei nur noch für Teilzeitarbeit ausreichendem Leistungsvermögen.

2. Eine Revisionsbegründung muß erkennen lassen, daß eine bestimmte Rechtsnorm als verletzt angesehen wird und um welche Vorschrift es sich dabei handelt.

 

Normenkette

AVG § 23 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 164 Abs. 2 S. 3 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.06.1975; Aktenzeichen L 13 An 56/75)

SG München (Entscheidung vom 26.09.1972; Aktenzeichen S 16 An 150/70)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Juni 1975 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zusteht (§ 23 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).

Die im Jahre 1924 geborene Klägerin war nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) von 1939 bis 1970 "vorwiegend als Kontoristin und Stenotypistin berufstätig". Ihren im Juli 1969 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte aufgrund des Ergebnisses der veranlaßten ärztlichen Untersuchung ab (Bescheid vom 13. Januar 1970).

Die hiergegen erhobene Klage hatte in den beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Nachdem das erste Urteil des LSG auf die Revision der Klägerin aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden war, holte das LSG zur Frage, ob der Teilzeitarbeitsmarkt für die Klägerin offen oder verschlossen sei, Auskünfte der Bundesanstalt für Arbeit (BA) und des Arbeitsamtes (AA) München ein. Es verneinte sodann die Berufsunfähigkeit der Klägerin im wesentlichen mit folgender Begründung: Da die Klägerin in ihrem Berufsleben vorwiegend als Kontoristin und Stenotypistin gearbeitet habe, sei ihr versicherter Beruf, an dem das noch verbliebene Leistungsvermögen zu messen sei, "einfache bis mittelschwierige Bürotätigkeit". Diese könne sie nach der übereinstimmenden Beurteilung der gehörten ärztlichen Sachverständigen noch wenigstens halbschichtig ausüben. Die Auskunft der BA vom 8. April 1975 rechtfertige nicht die Annahme, daß der insoweit für die Klägerin noch in Betracht kommende Teilzeitarbeitsmarkt im Sinne der Entscheidung des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167 ff.) verschlossen sei. Ein anderes Ergebnis könne nicht auf die Auskunft des AA München vom 7. Mai 1975 gestützt werden, zumal selbst bei dem - vom AA bejahten - verschlossenen lokalen Teilzeitarbeitsmarkt der Klägerin ein Umzug an einen "günstigeren Ort" zuzumuten sei. Auch ältere Versicherte seien nämlich nach der genannten Entscheidung des GS des BSG grundsätzlich auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes verweisbar (Urteil vom 25. Juni 1975).

Die Klägerin hat die mit Beschluß des Senats vom 31. März 1976 zugelassene Revision eingelegt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte sieht von einer Antragstellung ab.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist statthaft, weil sie der erkennende Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) zugelassen hat. Zwar hat die Klägerin ihre Revision ausdrücklich nur auf Verfahrensmängel durch das Berufungsgericht gestützt. Gleichwohl ist mit ihr auch eine Verletzung des § 23 AVG in der gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG vorgeschriebenen Form gerügt worden. Die Klägerin hat in ihrer Revisionsbegründung allerdings die verletzte materielle Rechtsnorm nicht unter Angabe von Gesetz und Paragraphennummer bezeichnet. Eine derartig genaue Angabe ist jedoch mit der in der genannten Formvorschrift verlangten "Bezeichnung der verletzten Rechtsnorm" nicht gemeint. Insoweit ist es vielmehr ausreichend, daß sich die verletzte Rechtsnorm aus dem Inhalt oder dem Zusammenhang der Darlegungen des Revisionsklägers, also aus der Art der Revisionsbegründung ergibt. Sie muß erkennen lassen, daß eine bestimmte Rechtsnorm als verletzt angesehen wird und um welche Vorschrift es sich dabei handelt (ebenso BSGE 8, 31, 32 unter Bezugnahme auf BSGE 1, 227). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Mit den Ausführungen in der Revisionsbegründung wendet sich die Klägerin gegen die Auffassung des LSG, für sie - die Klägerin - gebe es noch einen offenen Teilzeitarbeitsmarkt und sie sei deshalb nicht berufsunfähig. Damit rügt sie mit der erforderlichen Bestimmtheit eine fehlerhafte Auslegung des Begriffs der Berufsunfähigkeit, weil es nach dem Beschluß des GS des BSG vom 10. Dezember 1976 (Az.: GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76) bei Teilzeitarbeitskräften wie der Klägerin für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (= § 23 Abs. 2 AVG) erheblich ist, daß für die in Betracht kommenden Erwerbstätigkeiten Arbeitsplätze vorhanden sind, die der Versicherte mit seinen Kräften und Fähigkeiten noch ausfüllen kann.

Die somit formgerecht eingelegte Revision einer Verletzung des § 23 Abs. 2 AVG ist unter Beachtung des GS-Beschlusses vom 10. Dezember 1976 auch begründet. Das LSG ist bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, daß sich die noch halbschichtig einsetzbare Klägerin nach dem Beschluß des GS vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167 ff.) grundsätzlich auf das Arbeitsfeld des gesamten Bundesgebietes verweisen lassen müsse und ihr der Arbeitsmarkt erst dann praktisch verschlossen sei, wenn in diesem Verweisungsgebiet das Verhältnis der vorhandenen, für sie in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 : 100. Diese für die Entscheidung des LSG maßgebliche Rechtsauffassung hat indes der GS des BSG in seinem neuen Beschluß vom 10. Dezember 1976 aaO aufgegeben. Danach darf ein Versicherter in der Regel nur auf Teilzeitarbeitsplätze verwiesen werden, die er täglich von seiner Wohnung aus erreichen kann. Der Arbeitsmarkt ist ihm praktisch verschlossen, wenn ihm ein derartiger Arbeitsplatz weder vom Rentenversicherungsträger noch vom zuständigen Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrags angeboten werden kann.

Da die sonach für die Frage der Berufsunfähigkeit der Klägerin rechtserheblichen Feststellungen fehlen und vom LSG noch zu treffen sind, muß das angefochtene Urteil entsprechend dem von der Klägerin allein gestellten Revisionsantrag aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Im Hinblick darauf, daß in der bereits eingeholten Auskunft des AA München vom 7. Mai 1975 ein für die Klägerin verschlossener, örtlicher Teilzeitarbeitsmarkt bejaht worden ist, dürfte sich primär eine außergerichtliche Erledigung anbieten.

Da die Revision wegen der aufgezeigten unrichtigen Anwendung des materiellen Rechts durch das Berufungsgericht begründet ist, brauchen die von der Revision außerdem noch gerügten Verfahrensmängel (Verletzungen der §§ 103, 128 Abs. 1 Satz 2, 170 Abs. 5 SGG) nicht mehr geprüft zu werden.

Die Entscheidung über die außergerichtliche Kostenerstattung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652564

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