Orientierungssatz
Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bei nur für Teilzeitarbeit ausreichendem Leistungsvermögen.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 24 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 22.10.1975; Aktenzeichen L 13/An 207/73) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 23.07.1973; Aktenzeichen S 12/An 471/71) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Oktober 1975 aufgehoben, soweit es die Zurückweisung der Berufung der Klägerin betrifft.
Der Rechtsstreit wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht (§§ 23, 24 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).
Die im Jahre 1931 geborene Klägerin war nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) nach Beendigung ihrer dreijährigen kaufmännischen Lehrausbildung im März 1951 bis zum April 1966 als Kontoristin versicherungspflichtig beschäftigt. Ihren im September 1971 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte aufgrund des Ergebnisses der veranlaßten ärztlichen Untersuchung ab (Bescheid vom 30. November 1971).
Während des Klageverfahrens wurde die Klägerin vom 5. bis 12. April 1972 wegen einer Ovarial-Cyste links und vom 26. September bis 16. Oktober 1972 wegen eines Ovarial-Tumors links mit Uterus-Exstirpation und Entfernung der linken Adnexe im Stadtkrankenhaus K stationär behandelt. Die Beklagte erkannte daraufhin ab 20. September 1972 eine vorübergehende Berufsunfähigkeit bei der Klägerin an und gewährte vom 22. März bis 31. Mai 1973 entsprechende Rente (Bescheid vom 26. März 1973). Das darüber hinausgehende Klagebegehren wies das Sozialgericht (SG) ab (Urteil vom 23. Juli 1973).
Auf die Berufung der Klägerin holte das LSG in Ergänzung der vom SG durchgeführten medizinischen Sachaufklärung von dem Facharzt für innere Krankheiten Dr. R und von dem Facharzt für Chirurgie Dr. H Gutachten über den Gesundheitszustand der Klägerin ein. Hierauf erklärte sich die Beklagte bereit, vorübergehende Berufsunfähigkeit auch für die Zeit vom 3. Juli 1974 bis 30. April 1975 anzuerkennen und entsprechende Leistungen vom Beginn der 27. Woche an zu gewähren. Das LSG verpflichtete sodann die Beklagte, an die Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Oktober 1972 bis 30. April 1975 zu zahlen; im übrigen wies es die Berufung zurück. Zur Begründung führte das LSG im wesentlichen aus: Die zulässige Berufung der Beklagten sei nur zum Teil begründet, weil die Klägerin in der Zeit vom 20. September 1972 bis 30. April 1975 berufsunfähig im Sinne des § 23 Abs. 2 AVG gewesen sei. Unter Berücksichtigung der Entwicklung aller Gesundheitsstörungen und Ausfallerscheinungen sei der Klägerin in diesem Zeitraum über den 31. Mai 1973 und damit über das von der Beklagten abgegebene Anerkenntnis hinaus eine halbschichtige, wenn auch leichte Büroarbeit infolge der zusätzlichen qualitativen Einschränkungen der zeitlich begrenzten Leistungsfähigkeit nicht zumutbar gewesen. Dagegen habe die Klägerin nach den vorliegenden ärztlichen Begutachtungen bis zum September 1972 leichte körperliche und geistige Arbeiten bis zu sechs Stunden täglich verrichten können und seit Mai 1975 bestehe für die gleichen Arbeiten eine Leistungsfähigkeit von vier bis fünf Stunden. Damit könne die Klägerin den bisherigen Beruf einer Kontoristin fortführen. Nach den Erkenntnissen des Bundessozialgerichts (BSG) sei für weibliche Teilzeitarbeitskräfte, die Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufen angehören, der Arbeitsmarkt praktisch nicht verschlossen (Hinweis auf BSGE 30, 167 ff). Daran habe sich, wie zahlreichen Auskünften der Bundesanstalt für Arbeit (BA) zu entnehmen sei, auch durch die neuere Entwicklung am Arbeitsmarkt nichts geändert. Sei deshalb bei der Klägerin für die Zeit bis September 1972 und ab Mai 1975 Berufsunfähigkeit zu verneinen, so seien damit von vornherein die strengeren Voraussetzungen einer Erwerbsunfähigkeit nicht gegeben. Diese liege aber auch für die Zeit vom 1. Oktober 1972 bis 30. April 1975 nicht vor, weil die Klägerin in diesem Zeitraum unter Zugrundelegung der schlüssigen ärztlichen Gutachten noch drei bis vier Stunden täglich leichte Arbeiten habe ausführen können. Sie sei demnach noch imstande gewesen, einer Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit im Sinne des § 24 Abs. 2 AVG nachzugehen (Urteil vom 22. Oktober 1975).
Die Klägerin hat die mit Beschluß des erkennenden Senats vom 31. März 1976 zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine rechtsfehlerhafte Anwendung der §§ 23, 24 AVG.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Augsburg vom 23. Juli 1973 sowie die Bescheide der Beklagten vom 30. November 1971 und 26. März 1973 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, ihr Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß ihrem Antrag vom 22. September 1971 zu gewähren; hilfsweise beantragt sie, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist im Sinn der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begründet.
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und deshalb für den erkennenden Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG besteht bei der Klägerin nur noch ein eingeschränktes Leistungsvermögen für leichte körperliche und geistige Arbeiten, das bis zum September 1972 täglich bis zu sechs Stunden, von Oktober 1972 bis April 1975 nur täglich drei bis vier Stunden und seit Mai 1975 vier bis fünf Stunden täglich umfaßte. Das LSG ist bei seiner Entscheidung mit den Beschlüssen des Großen Senats (GS) des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167 ff, 192 ff) zutreffend davon ausgegangen, daß für die Frage, ob die Klägerin berufsunfähig im Sinne des § 23 Abs. 2 AVG oder erwerbsunfähig im Sinne des § 24 Abs. 2 AVG ist, es darauf ankommt, daß für sie nach ihrem jeweiligen Leistungsvermögen entsprechende Teilzeitarbeitsplätze vorhanden sind. Ob das LSG hierbei unter Zugrundelegung der Beschlüsse vom 11. Dezember 1969 aaO zu Recht einen für die Klägerin offenen Teilzeitarbeitsmarkt bejaht hat, der von Oktober 1972 bis April 1975 die Erwerbsunfähigkeit sowie in der Zeit bis September 1972 und von Mai 1975 an auch die Berufsunfähigkeit der Klägerin ausgeschlossen hat, kann dahingestellt bleiben. Der GS des BSG hat nämlich nunmehr abweichend von den Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 aaO entschieden, daß ein Versicherter in der Regel nur auf Teilzeitarbeitsplätze verwiesen werden darf, die er täglich von seiner Wohnung aus erreichen kann, und ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, wenn ihm weder der Rentenversicherungsträger noch das zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrags einen derartigen Arbeitsplatz anbieten kann (vgl. Beschluß des GS vom 10.12.1976, Az.: GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76).
Diese für die Frage der Berufsunfähigkeit bzw. der Erwerbsunfähigkeit der Klägerin rechtserheblichen Feststellungen (vgl. insbesondere Abschnitt B II 4 des GS-Beschlusses aaO) sind vom LSG nicht getroffen worden. Der Senat kann deshalb nicht in der Sache selbst entscheiden. Das angefochtene Urteil muß deswegen, soweit es die Zurückweisung der Berufung der Klägerin betrifft, aufgehoben und der Rechtsstreit insoweit an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG auch zu beachten haben, daß bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit es auf die Verhältnisse des Teilzeitarbeitsmarktes nicht ankommt, wenn der Versicherte nur noch geringe Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Diese vom LSG bisher nicht in Erwägung gezogene Möglichkeit ist aber jedenfalls bei dem in der Zeit von Oktober 1972 bis April 1975 festgestellten Leistungsvermögen von nur noch drei bis vier Stunden täglich nicht von vornherein ausgeschlossen. Insoweit hat der GS des BSG in seinem neuen Beschluß vom 10. Dezember 1976 aaO - abweichend von der bisherigen Rechtsprechung (vgl. BSGE 19, 147; 30, 192, 208) - als geringfügig im Sinne des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (= § 24 Abs. 2 AVG) nicht mehr Einkünfte angesehen, die niedriger als ein Fünftel des durchschnittlichen Bruttotariflohnes eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten sind. Vielmehr sind geringfügige Einkünfte im Sinne des § 24 Abs. 2 AVG dann zu bejahen, wenn sie ein Achtel der Beitragsbemessungsgrenze (§ 112 Abs. 2 AVG) nicht übersteigen.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen