Leitsatz (amtlich)
Ist der Zeitraum zwischen der Scheidung und dem Tod des Versicherten so kurz, daß er für die Beurteilung der Frage, ob der Versicherte seiner früheren Ehefrau Unterhalt nach dem Ehegesetz zu leisten hatte, ungeeignet ist, so muß auf andere Weise geprüft werden, ob durch den Tod des Versicherten eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten gegenüber seiner früheren Ehefrau iS des RVO § 1265 entfallen ist.
Leitsatz (redaktionell)
Liegen zwischen der Rechtskraft des Scheidungsurteiles und dem Tode des Versicherten nur 3 Tage, muß auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten vor der Scheidung, und zwar vor seiner Erkrankung, zurückgegriffen werden, soweit sie durch die Scheidung nicht berührt sind.
Normenkette
RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 26. April 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die im Jahre 1915 geborene Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (sg. Geschiedenen-Witwenrente) nach ihrem am 10. Juni 1957 im Alter von 47 Jahren verstorbenen früheren Ehemann, dem Versicherten. Die Ehe ist aus Alleinschuld des Versicherten geschieden worden. Das Urteil ist mit dem 7. Juni 1957 rechtskräftig geworden. Die Klägerin versorgt zwei unmündige Kinder, welche beide am 14. August 1950 geboren sind. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 6. Juni 1958 die Gewährung von Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO ab, weil der Versicherte zur Zeit seines Todes nicht unterhaltspflichtig gewesen sei; denn er sei arbeitsunfähig krank gewesen. Krankengeld und Hausgeld hätten nur für den Unterhalt des Versicherten und seiner beiden Kinder ausgereicht. Das Sozialgericht (SG) Bremen hat mit Urteil vom 6. Mai 1959 die Klage abgewiesen. Infolge Arbeitsunfähigkeit habe der Versicherte seit dem 18. Februar 1957 keine Unterhaltsleistung gewähren können. Das Anerkenntnis des Versicherten gegenüber dem Wohlfahrtsamt vom 18. April 1957, seine Familie zu unterhalten, sei nicht für den Fall der Ehescheidung abgegeben worden. Die von der Klägerin tatsächlich erlangte Geldleistung hätte deren Mindestlebensbedarf nicht gedeckt. Das Landessozialgericht (LSG) Bremen sprach auf die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 26. April 1961 dieser die Rente für die Zeit vom 1. Juni 1957 an zu. Die Hinterbliebenenrente habe Unterhaltsersatzfunktion. Die vom Versicherten zu erwartende geringe Rente hätte nur für seinen Unterhalt ausgereicht, aber keine Unterhaltspflicht auf Grund des Ehegesetzes (EheG) gegenüber der Klägerin begründet. Auch die einstweilige Unterhaltsanordnung des Landgerichts Bremen habe nur bis zur Ehescheidung Geltung gehabt. Der familienrechtliche Anspruch auf Unterhalt erlaube keinen Schluss auf eine Unterhaltsverpflichtung nach der Scheidung. Der Versicherte habe sich aber mündlich gegenüber der Klägerin verpflichtet, sie zu unterhalten. Die mündliche Unterhaltsverpflichtung bedeute eine freiwillige ernsthafte Bereitschaft zur Unterhaltsleistung. Wegen der kurzen Zeitspanne von drei Tagen zwischen Scheidung und Tod müßten andere Merkmale und weitere Umstände für den behaupteten Unterhaltsanspruch der Klägerin herangezogen werden. Diese Umstände erlaubten den Schluss, dass die Klägerin eine echte Einbusse an Unterhalt erlitten und deshalb Anspruch nach § 1265 RVO habe.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 6. Mai 1959 zurückzuweisen.
Sie rügt, das LSG habe seiner Sachaufklärungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) nicht genügt, weil es die Zimmergenossen des Versicherten im Krankenhaus nicht darüber vernommen habe, ob der Versicherte sich wirklich zur Unterhaltsleistung an die Klägerin verpflichtet habe. Die vorhandenen Beweise, insbesondere die Aussagen der Klägerin und ihrer Stieftochter könnten die Feststellung, der Versicherte hätte sich auf dem Krankenbett zur Unterhaltszahlung verpflichtet, nicht rechtfertigen. Die vom LSG verwerteten Beweise könnten vielmehr nur dahin gewürdigt werden, dass das gegenseitige Verhältnis der geschiedenen Eheleute eine leichte Besserung erfahren habe.
Das LSG habe ferner § 1265 RVO dadurch verletzt, dass es eine Unterhaltsverpflichtung "aus sonstigen Gründen" im Sinne des § 1265 RVO schon darin sehe, dass der geschiedene Ehemann geäußert habe, er werde für die Klägerin wieder sorgen. Dies sei eine zu weite Auslegung des § 1265 RVO. Das Versorgungsversprechen für die Klägerin und der Wunsch, wieder mit dieser zusammenzuleben, sei nicht dahin zu werten, dass der Versicherte für den Unterhalt der Klägerin Leistungen erbringen wolle. Die behauptete Äußerung sei vielmehr nur dahin zu verstehen, dass er das leisten wolle, was er der Klägerin ohnehin schon schulde. Überdies sei das mündliche Unterhaltsversprechen nur als Schenkungsversprechen zu werten und deshalb wegen Formmangels unwirksam. Die tatsächlichen Leistungen des Versicherten müssten bei richtiger Auslegung des § 1265 RVO auf die Zeit zwischen Rechtskraft des Scheidungsurteils (7. Juni 1957) und Tod des Versicherten (10. Juni 1957) begrenzt werden.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Klägerin hält die Verfahrensrügen für nicht durchgreifend. Die Zeugen, die nach Ansicht der Beklagten noch zu hören gewesen seien, könnten das Gespräch zwischen der Klägerin und dem Versicherten überhaupt nicht wiedergeben. Da die Zeugen nicht namentlich unter Angabe des Beweisthemas benannt seien, entspräche die Rüge zudem nicht der Form des § 162 Abs. 2 Satz 2 SGG. Die Unterhaltsverpflichtung als Schenkungsversprechen zu werten, sei irrig.
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Es kann sowohl dahingestellt bleiben, ob die Verfahrensrügen der Beklagten durchgreifen wie auch, ob die Begründung des angefochtenen Urteils zutreffend ist. Denn sowohl die angegriffenen Feststellungen wie auch die Begründung des angefochtenen Urteils betreffen im wesentlichen die 2. Alternative des § 1265 RVO ("sonstiger Grund"). Der Anspruch der Klägerin ist aber, selbst wenn man der Ansicht ist, dass die angegriffenen Feststellungen fehlerhaft und die Begründung des Urteils unzutreffend wären, aus einem anderen Grunde gegeben. Die für diese Entscheidung erforderlichen Feststellungen des Berufungsgerichts sind, wenn auch zum Teil nicht ausdrücklich, so doch immerhin mit hinreichender Deutlichkeit getroffen und nicht angefochten worden, so dass der erkennende Senat diese Entscheidung treffen konnte.
Der Versicherte ist wenige Tage nach Rechtskraft des Scheidungsurteils gestorben. Der Zeitraum zwischen Scheidung und Tod des Versicherten ist daher zu kurz, als dass er eine Beurteilungsmöglichkeit dafür bieten könnte, ob und inwieweit der Versicherte nach seinen Vermögens- und Einkommensverhältnissen fähig war, Unterhalt zu leisten und inwieweit die Klägerin unterhaltsbedürftig war. Da von der Unterhaltsfähigkeit und Unterhaltsbedürftigkeit aber die Entscheidung der Frage abhängt, ob der Versicherte der Klägerin gegenüber zum Unterhalt verpflichtet war, kann nur auf andere Weise-unter Anwendung der sich aus § 1265 RVO ergebenden Grundsätze- geprüft werden, ob die Klägerin durch den Tod des Versicherten einen Unterhaltsanspruch verloren hat. Es bleibt nur übrig, auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Versicherten während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor seinem Tode, das ist die Zeit vor seiner Magenerkrankung, zurückzugreifen. Die Zeit der Erkrankung an dem zum Tode führenden Leiden muss ebenso wie der Zeitpunkt des Todes außer Betracht bleiben, weil die Folgen des Todes - einschließlich der zum Tode führenden Krankheit - durch die Hinterbliebenenrente ersetzt werden sollen, also nicht selbst Maßstab dafür sein können, ob eine Unterhaltsverpflichtung durch den Tod des Versicherten entfallen ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn, wie hier, die zum Tode führende Krankheit nicht zu lange gedauert hat. Die Zeit der Magenerkrankung kann nicht maßgebend sein, weil sie nur vorübergehender Natur war, so dass aus den zu dieser Zeit gegebenen Einkommens- und Vermögensverhältnissen kein Schluss darauf möglich ist, ob eine Unterhaltsverpflichtung mit Dauerwirkung - und darauf allein kommt es hier an - durch den Tod des Versicherten entfallen ist. Während der hiernach maßgebenden Zeit war der Versicherte erwerbsfähig und daher imstande, die Klägerin zu unterhalten. Da die Klägerin wegen der Sorge für ihre beiden unmündigen Kinder einer Arbeit nicht nachgehen konnte und kein eigenes Einkommen hatte und haben konnte, war sie stets unterhaltsbedürftig. Der Versicherte war zudem in dem Scheidungsurteil für allein schuldig an der Scheidung erklärt worden. Somit steht fest, dass, falls der Versicherte nicht den Herzinfarkt erlitten und an diesem Leiden gestorben wäre, alle Voraussetzungen einer Unterhaltsverpflichtung nach § 58 ff EheG 46 vorgelegen hätten. Diese durch den Tod des Versicherten entfallene Unterhaltsverpflichtung war daher, wie das LSG im Ergebnis zu Recht entschieden hat, durch eine sog. Geschiedenen-Witwenrente zu ersetzen (vgl. auch SozR RVO § 1265 Bl. Aa 7 Nr. 8).
Die Revision der Beklagten war somit als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beklagten mussten nach § 193 SGG die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens auferlegt werden.
Fundstellen