Leitsatz (redaktionell)

Geisteskrankenabkommen als nicht revisibles Landesrecht.

RAM-Erl 1942-09-05 (AN 1942, 490) - Halbierungserlass - ist kein zwingendes, sondern dispositives Recht; er kann also von den beteiligten Leistungsträgern durch vertragliche Regelungen geändert und ersetzt werden.

Als revisible Vorschriften des Bundesrechts iS des SGG § 162 Abs 2 sind alle nach den Grundsätzen des öffentlichen Rechts geschaffenen Normen anzusehen. Darunter fallen auch Verwaltungsvorschriften, allgemeine Geschäftsbedingungen und ähnliche Vereinbarungen, die nicht nur interne Anweisungen an Behörden sind, sondern objektives Recht enthalten.

Eine von den beteiligten Leistungsträgern getroffene Regelung, die den Halbierungserlaß ersetzt, ist nicht revisibles Landesrecht; das BSG ist mithin an die vom LSG vorgenommene Auslegung einer solchen Vereinbarung gebunden.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; RAM/RMdIErl 1942-09-05

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Februar 1968 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse dem klagenden Bezirk M als Sozialhilfeträger Hausgeld anläßlich des Aufenthalts der bei ihr versicherten I B wegen Schizophrenie in der Heil- und Pflegeanstalt E zu zahlen hat. Die Beklagte hat dies unter Hinweis auf § 6 der Vereinbarung anstelle des Halbierungssatzes abgelehnt, die am 28. Februar 1962 zwischen den bayerischen Bezirken (Sozialhilfeverwaltungen) einerseits und den Landesverbänden der Ortskrankenkassen, der Betriebskrankenkassen, der Innungskrankenkassen in Bayern, dem Verband der Landkrankenkassen in Bayern sowie dem Verband der Angestellten-Krankenkassen eV H, dem Verband der Arbeiter-Ersatzkassen eV H und der Süddeutschen Knappschaft andererseits getroffen wurde. Nach dieser Vorschrift gewähren die Krankenkassen Hausgeld nach § 186 der Reichsversicherungsordnung (RVO), soweit nach ihren Feststellungen die Voraussetzungen des § 184 RVO gegeben sind. Nach Ansicht der Beklagten liegen die Voraussetzungen des § 184 RVO aber nicht vor.

Daraufhin hat der Kläger Klage auf Zahlung von 319,20 DM (das der Versicherten in der streitigen Zeit zustehende Hausgeld) erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Nach § 1531 RVO könne der Träger der Sozialhilfe, der nach gesetzlicher Pflicht einen Hilfsbedürftigen für eine Zeit unterstützt habe, für welche dieser Anspruch nach diesem Gesetz habe, bis zur Höhe des Anspruchs nach den §§ 1532 bis 1537 RVO Ersatz verlangen. Würden gegen Krankheit versicherte Geisteskranke von anderen Stellen als von den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung in Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen, so träten die Fürsorgeverbände als Kostenträger auf und es seien nach dem gemeinsamen Erlaß des Reichsarbeitsministers und des Reichsinnenministers vom 5. September 1942 (AN 1942, 490) - sogenannter Halbierungserlaß - die durch die Unterbringung entstandenen Kosten je zur Hälfte vom Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Fürsorgeverband zu tragen. Dieser Halbierungserlaß sei kein zwingendes Recht, so daß die Beteiligten eine andere Regelung treffen könnten (vgl. BSG 9, 112 ff). Dies sei im vorliegenden Fall durch die Vereinbarung anstelle des Halbierungserlasses vom 28. Februar 1962 geschehen. Dieser enthalte bezüglich Hausgeld eine besondere Vorschrift in § 6, wonach die Krankenkassen Hausgeld nach § 186 RVO zu gewähren hätten, soweit nach ihren Feststellungen die Voraussetzungen des § 184 RVO gegeben seien. Da im vorliegenden Falle die Beklagte festgestellt habe, daß bei der Versicherten die Voraussetzungen des § 184 RVO nicht vorgelegen hätten, bestehe somit im Verhältnis zwischen ihr und dem Kläger kein Anspruch auf Hausgeld. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Er trägt vor:

Der Text des § 6 der Vereinbarung anstelle des Halbierungserlasses, wonach die Krankenkassen Hausgeld nach § 186 RVO gewährten, soweit nach ihren Feststellungen die Voraussetzungen des § 184 RVO gegeben seien, könne nicht so verstanden werden, daß die Entscheidung der Krankenkassen im sozialgerichtlichen Verfahren nicht nachprüfbar wäre. Es komme deshalb für die Begründetheit des geltend gemachten Ersatzanspruchs darauf an, ob trotz Vorliegens einer Einweisung aus Gründen der gesetzlichen Sicherheit und Ordnung ein Behandlungsfall im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung vorläge. Dies müsse im sozialgerichtlichen Verfahren nachgeprüft werden.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des SG Nürnberg vom 29. November 1965 und des Bayerischen LSG vom 8. Februar 1968 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, für die Dauer der stationären Behandlung der Versicherten I B aus dem Hausgeldanspruch Ersatz in Höhe von 319,20 DM zu leisten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

sie zurückzuweisen.

Sie ist in erster Linie der Auffassung, daß die Zulassung der Revision offensichtlich gegen das Gesetz verstoße und daher unwirksam sei, weil es sich im vorliegenden Fall nur um die Auslegung von Landesrecht handele.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Sie ist entgegen der Ansicht der Beklagten zulässig, weil die Zulassung des Rechtsmittels nicht gegen das Gesetz verstößt und deshalb für das Bundessozialgericht (BSG) bindend ist (vgl. BSG 10, 240). Zwar hat das BSG in BSG 13, 140 ausgesprochen, daß Vorabentscheidungen nach § 590 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) als Zwischenurteile im Sinne des § 303 ZPO nur mit dem Endurteil angefochten werden könnten und daß die Zulassung der Revision gegen ein solches Zwischenurteil daher unwirksam sei. Weiter ist in BSG 13, 32 entschieden, daß gegen ein Zwischenurteil über eine Prozeßvoraussetzung die Revision nicht gegeben sei, wenn das Vorliegen dieser Prozeßvoraussetzung verneint werde, und zwar dann, wenn das LSG die Revision zugelassen habe. Das BSG hat auch weiter angenommen, daß die Zulassung der Revision gegen ein Zwischenurteil, das die örtliche Zuständigkeit des Gerichts bejaht hat (§ 512a ZPO), unwirksam sei (BSG 10, 233).

Um einen derartigen Fall handelt es sich aber nicht. Denn das LSG hat zuerst geprüft, ob der Halbierungserlaß vom 5. September 1942 (AN 1942, 490), also nunmehriges Bundesrecht, anwendbar oder ob hier eine anderweitige vertragliche Regelung zulässig sei. Das LSG hat eine vertragliche Abänderung des Halbierungserlasses für zulässig angesehen und ist deshalb zu dem Ergebnis gekommen, daß die Vereinbarung vom 28. Februar 1962 gültig sei. Das LSG hat also den vorliegenden Fall nicht nur unter dem Gesichtspunkt irrevisiblen Rechts, sondern auch bezüglich der Anwendung revisiblen Rechts geprüft. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 4. Juni 1969 (Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, 1969, 478), worin ausgesprochen ist, die Zulassung der Revision sei ohne Wirkung, wenn sie wegen einer gemäß § 549 ZPO irrevisiblen Rechtsfrage erfolgt sei. Weil das LSG also hier eine Prüfung revisiblen und irrevisiblen Rechts vorgenommen hat, ist nicht ersichtlich, daß die Revision nur wegen einer nach § 549 ZPO irrevisiblen Rechtsfrage zugelassen worden ist. Es liegt also keine Zulassung gegen das Gesetz vor, so daß der Ausspruch der Zulassung für das BSG bindend ist.

Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet. Das LSG hat zunächst im Anschluß an BSG 9, 112 ff zutreffend entschieden, daß der Halbierungserlaß nicht zwingendes Recht, sondern dispositives Recht ist und daß es den Beteiligten überlassen bleibt, eine andere Regelung zu treffen. Dies ist im vorliegenden Falle in der Vereinbarung vom 28. Februar 1962 geschehen. Die Entscheidung hängt also davon ab, wie § 6 dieser Vereinbarung auszulegen ist.

Nach § 162 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann die Revision nicht darauf gestützt werden, daß die Entscheidung auf der Nichtanwendung oder unrichtigen Anwendung einer Vorschrift beruht, die sich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Vereinbarung, die nur in Bayern, also nicht über den Bezirk des Bayerischen LSG hinaus, gilt. Diese Vereinbarung muß als eine "Vorschrift" im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG angesehen werden. Denn unter Vorschriften sind alle nach den Grundsätzen des öffentlichen Rechts geschaffenen Normen anzusehen. Darunter fallen auch Verwaltungsvorschriften, allgemeine Geschäftsbedingungen und ähnliche Vereinbarungen, die nicht nur interne Anweisungen an Behörden sind, sondern objektives Recht enthalten (vgl. Baumbach-Lauterbach, ZPO, 27. Aufl., § 549 Anm. 4 A). Der Charakter der genannten Vereinbarung vom 28. Februar 1962 als nicht revisibles Landesrecht hat zur Folge, daß das BSG an die Auslegung, die das LSG der streitigen Vorschrift gegeben hat, gebunden ist. Das LSG ist nun zu dem Ergebnis gekommen, bei der Frage, ob Hausgeld zu gewähren sei, komme es auf die Feststellungen der Krankenkasse über die Voraussetzungen des § 184 RVO an; die Beklagte habe aber festgestellt, daß diese Voraussetzungen nicht gegeben seien. Die Revision ist daher unbegründet (vgl. Baumbach-Lauterbach, aaO, § 549 ZPO Anm. 1 A).

Das Rechtsmittel mußte daher, ohne daß noch zu prüfen war, ob der Kläger zum Ausgleich für den verauslagten Mietzins überhaupt das Hausgeld in Anspruch nehmen kann (vgl. § 1533 Nr. 3 RVO), zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284927

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