Leitsatz (redaktionell)
1. Die Leistungspflicht der KK wird nicht ausgeschlossen, sofern die häufig in einer Charakterschwäche wurzelnde Trunksucht selbst einer ärztlichen Behandlung zugänglich und bedürftig ist. Dabei darf allerdings der Begriff der ärztlichen Behandlung nicht zu eng, etwa iS einer lediglich oder vorwiegend medikamentösen Therapie, verstanden werden. Zu ihr gehören vielmehr gerade in Trunksuchtfällen auch psychotherapeutische Maßnahmen und der Einsatz von "natürlichen" Heilmitteln und -methoden wie einer ärztlich angeordneten und geleiteten Beschäftigungs- oder Arbeitsbehandlung.
2. Trunksucht ist auch dann als Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne anzusehen, wenn ein organischer Schaden noch nicht eingetreten ist; es genügt vielmehr, daß die Sucht, die sich im Verlust der Selbstkontrolle und in der zwanghaften Abhängigkeit von dem Suchtmittel äußert, ohne ärztliche Behandlung mit Aussicht auf Erfolg nicht geheilt, gebessert oder auch nur vor Verschlimmerung bewahrt werden kann.
3. Die Leistungspflicht der Krankenkasse entfällt nicht deshalb, weil der Versicherte aus polizeilichen Gründen - wegen gegenwärtiger Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung - zwangsweise in ein Krankenhaus eingewiesen wurde.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der beklagten Krankenkasse gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung der beklagten Krankenkasse, dem klagenden Sozialhilfeträger die durch die Unterbringung des Rentners F F (F.) im Rheinischen Landeskrankenhaus S vom 4. Juli bis 1. September 1963 entstandenen Kosten zu erstatten.
F., der 1900 geboren und bei der Beklagten pflichtversichert ist, wurde am 20. Mai 1963 als Trunksüchtiger wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach den Vorschriften des nordrhein-westfälischen Unterbringungsgesetzes durch Gerichtsbeschluß in das genannte Krankenhaus eingewiesen, und zwar zunächst für eine Zeit von 6 Wochen, die später zweimal verlängert wurde. Den Beschlüssen über die Fortdauer der Unterbringung lag ein psychiatrisches Gutachten des Krankenhausarztes Dr. K zugrunde, in dem es u.a. hieß, bei dem Versicherten hätten bei der Einlieferung neben einem schlechten Allgemeinzustand, einer motorischen Unruhe und Schlafstörungen auch erhebliche krankhafte Befunde physischer und psychischer Art vorgelegen. Der Alkoholabusus habe bereits zu einer erheblichen Leberschädigung geführt. Es sei zu deliranten Verwirrtheits- und Unruhezuständen gekommen, der geistige Gesamtzustand entspräche schon dem einer Geisteskrankheit. Im Hinblick auf die Schwere des körperlichen und psychischen Krankheitszustandes sei im Interesse des Kranken und der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Durchführung einer konsequenten und ausreichend lang bemessenen Entziehungs- und Entwöhnungskur notwendig. Am 1. September 1963 wurde F. nach Wegfall der Unterbringungsvoraussetzungen aus dem Krankenhaus entlassen.
Die beklagte Krankenkasse übernahm die Krankenhauskosten bis zum 3. Juli 1963, lehnte dies aber für die Folgezeit ab, weil es sich insoweit um eine reine Alkoholentziehungskur gehandelt habe; Trunksucht allein sei keine Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO), alle anderen Krankheitserscheinungen hätten hier ambulant behandelt werden können. Der klagende Sozialhilfeträger übernahm daraufhin zunächst die Kosten in Höhe von 722,40 DM und machte mit Schreiben vom 29. Juli 1963 seinen Ersatzanspruch bei der Beklagten geltend.
Das Sozialgericht (SG) Köln hat den Klaganspruch nach Einholung einer weiteren Auskunft des Krankenhauses für begründet gehalten: Die Behandlung einer fortgeschrittenen Trunksucht, wie sie bei F. vorgelegen habe, dürfe sich nicht auf die Bekämpfung der akuten krankhaften Veränderungen beschränken, sondern müsse die Beseitigung des Suchtzustandes selbst bezwecken, wenn dieser, wie hier, ohne eine stationäre Entziehungskur sehr wahrscheinlich erneut zu schwerer Krankheit führen würde (Urteil vom 9. September 1964).
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Der Versicherte F. sei zwar zwangsweise, nämlich aus polizeilichen Gründen, im Krankenhaus untergebracht worden; das schließe jedoch nicht aus, daß er wegen einer Krankheit krankenhauspflegebedürftig gewesen sei. Auch die Beklagte habe dies mit Recht für die Zeit bis zum 3. Juli 1963 angenommen. Zu Unrecht habe sie jedoch für die spätere Zeit Leistungen abgelehnt. Auch während dieser Zeit habe der Versicherte an einer Trunksucht vorgeschrittenen Grades mit einem erheblichen Leberschaden gelitten und sei deswegen mit Leberschutzpräparaten behandelt worden; im übrigen habe die Entziehungskur in einer Beschäftigungstherapie mit psychotherapeutischen Aussprachen bestanden. Eine erfolgversprechende Behandlung der Trunksucht habe hier nur stationär erfolgen können. Die Beklagte hätte deshalb bei richtiger Ermessensausübung Krankenhauspflege gewähren müssen und sei demgemäß dem Kläger ersatzpflichtig (Urteil vom 6. Oktober 1966).
Die Beklagte, die dem Kläger nach ihrem Vorbringen für die streitige Zeit den Abgeltungsbetrag von 1 DM täglich überwiesen hat (vgl. Abschn. III des Erlasses des RAM vom 2. November 1943), hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Nach Veröffentlichung des "Trunksucht-Urteils" des Senats vom 18. Juni 1968 (BSG 28, 114) hat sie sich die Kritik, die dagegen zum Teil in der Literatur erhoben worden ist, insbesondere die Ausführungen von Engel (DÄ 1969, 1046) und von Schiller (WzS 1969, 71), zu eigen gemacht.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 1966 und das Urteil des SG Köln vom 9. September 1964 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, unter Hinweis auf das genannte Urteil des Senats,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die Revision der beklagten Krankenkasse ist nicht begründet. Das LSG hat sie mit Recht verurteilt, dem Kläger die bisher von ihm getragenen, der Höhe nach nicht streitigen Kosten der Krankenhausbehandlung des F. vom 4. Juli bis 1. September 1963 zu erstatten.
Das LSG geht zutreffend davon aus, daß Trunksucht (chronischer Alkoholismus) eine Krankheit sein kann, die Leistungsverpflichtungen der gesetzlichen Krankenversicherung auslöst. Dabei braucht der Senat auch im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, wie der versicherungsrechtliche Krankheitsbegriff (vgl. BSG 26, 288, 289) in Trunksuchtfällen im einzelnen abzugrenzen ist, ob insbesondere die Trunksucht stets ein vorgeschrittenes Stadium erreicht haben muß, wie das LSG anzunehmen scheint (vgl. dazu Krasney in "partner", Monatszeitschrift des Ev. Gesamtverbandes zur Abwehr der Suchtgefahren, Heft 9, 1968). Nicht erforderlich ist jedenfalls, daß sie bereits zu organischen Schäden geführt hat, die ihrerseits der Heilbehandlung bedürfen. Es genügt vielmehr, daß die Sucht, die sich im Verlust der Selbstkontrolle und in der zwanghaften Abhängigkeit von den Suchtmitteln (im "Nichtmehraufhörenkönnen") äußert, ohne ärztliche Behandlung mit Aussicht auf Erfolg nicht geheilt, gebessert oder auch nur vor Verschlimmerung bewahrt werden kann (vgl. BSG 28, 114 und Urteil des Senats vom 22. November 1968, SGb 1969, 382, mit zustimmender Anmerkung von Schroeter). An dieser Auffassung hält der Senat auch nach nochmaliger Prüfung und unter Berücksichtigung der dagegen von einem Teil des Schrifttums erhobenen Bedenken fest.
Ob ein dem Alkohol verfallener Versicherter bereits das Stadium einer behandlungsbedürftigen Trunksucht und damit der Krankheit erreicht hat, mag im Einzelfall nicht immer leicht zu beurteilen sein (zu den verschiedenen Phasen des Alkoholismus, namentlich zur Unterscheidung von süchtigen und gewohnheitsmäßigen Trinkern, vgl. Mentzel, DÄ 1969, 2686, unter Hinweis auf amerikanische Forschungen von Jellinek; dazu ferner Stemplinger, DÄ 1969, 2690, und die Übersicht bei Feuerlein, Der Medizinische Sachverständige 1969, 59). Für einen erfahrenen, insbesondere psychiatrisch geschulten Arzt sind die genannten Kriterien (Verlust der Selbstkontrolle, zwanghafte Abhängigkeit vom Alkohol) nach der Überzeugung des Senats hinreichend "faßbar"; ihre Objektivierung wird im allgemeinen keine größeren Schwierigkeiten bereiten als die Feststellung sonstiger psychischer Störungen wie Wahnbildungen und ähnliches (ebenso Feuerlein, DÄ 1969, 2689; Bedenken dagegen bei Berg, BKK 1968, 567, 569; Sabel, WzS 1969, 21; Engel DÄ 1969, 1046).
Daß eine Trunksucht häufig in einer - allenfalls mit pädagogischen Mitteln beeinflußbaren - Charakterschwäche wurzelt, wie Engel aaO meint, schließt eine Leistungspflicht der Krankenkasse nicht aus, sofern nur die Trunksucht selbst einer ärztlichen Behandlung zugänglich und bedürftig ist. Dabei darf allerdings der Begriff der ärztlichen Behandlung nicht zu eng, etwa im Sinne einer lediglich oder vorwiegend medikamentösen Therapie, verstanden werden. Zu ihr gehören vielmehr gerade in Trunksuchtfällen auch psychotherapeutische Maßnahmen und der Einsatz von "natürlichen" Heilmitteln und -methoden wie einer ärztlich angeordneten und geleiteten Beschäftigungs- oder Arbeitsbehandlung (vgl. SozR Nr. 21 zu § 184 RVO am Ende; Peters, Handbuch zur Krankenversicherung, 16. Auflage, § 182 RVO, Anm. 4a unter "Beschäftigungstherapie" und "Psychotherapie"). Ist ein trunksüchtiger Versicherter in diesem Sinne (noch) behandlungsfähig und (schon) behandlungsbedürftig, so ist er ohne Rücksicht auf die Ursache seines Zustandes krank. Daß der Ursache der Behandlungsbedürftigkeit für das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich keine Bedeutung zukommt, hat der Senat schon früher entschieden (vgl. BSG 13, 240 und 18, 257 für eine durch übermäßigen Alkoholgenuß bzw. schuldhafte Beteiligung an einer Schlägerei verursachte Krankheit). Durchbrechungen dieses Grundsatzes bedürfen einer ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift (vgl. § 192 RVO, der unter bestimmten Voraussetzungen eine Versagung des Krankengeldes zuläßt). Für die - gänzliche oder teilweise - Versagung von Sachleistungen der Krankenversicherung fehlt es an einer entsprechenden Ausnahmenorm (vgl. demgegenüber BSG 21, 163 zum Wegfall des Rentenanspruchs bei alkoholbedingter Berufsunfähigkeit nach § 1277 RVO).
Andererseits ist mit Recht auf eine Bestimmung des Heilmittelwerbegesetzes vom 11. Juli 1965 (BGBl I, 604) hingewiesen worden, die bei den "Krankheiten und Leiden", für die eine Arzneimittelwerbung nur beschränkt zulässig ist, auch die Trunksucht anführt (Nr. A 9 der Anlage zu § 10; vgl. Kohlhaas in Deutsche Medizinische Wochenschrift 1969, 803). In die gleiche Richtung weist die Formulierung "suchtkranke Personen" in dem nordrheinwestfälischen Unterbringungsgesetz vom 16. Oktober 1956 (GV. NW. 1956 S. 300). Schließlich wird Trunksucht auch in anderen Rechtsordnungen als Krankheit angesehen, in der Schweiz z.B., wenn eine Entwöhnungskur auf ärztliche Verordnung und unter ärztlicher Leitung durchgeführt wird (Entscheidungen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 1969, 11, 12; Trunksucht habe in der Regel schon für sich genommen den Charakter der Krankheit, nicht erst dann, wenn sie Symptom oder Ursache einer anderen Erkrankung sei).
Dem LSG ist ferner darin beizutreten, daß die Leistungspflicht der Krankenkasse auch dann nicht entfällt, wenn der Versicherte aus polizeilichen Gründen - wegen gegenwärtiger Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (vgl. § 2 des nordrhein-westfälischen Unterbringungsgesetzes) - zwangsweise in ein Krankenhaus eingewiesen wird. Richtig ist zwar, daß die Krankenkasse selbst keinen Versicherten zur Inanspruchnahme von Krankenhauspflege zwingen kann. Sie hat vielmehr nur die Befugnis, die Gewährung von Krankenpflege und Krankengeld - unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne Zustimmung des Kranken (§ 184 Abs. 3 RVO) - durch Krankenhauspflege zu ersetzen mit der Folge, daß der Versicherte seinen Leistungsanspruch verliert, wenn er sich nicht ins Krankenhaus begibt (vgl. SozR Nr. 22 zu § 184 RVO). Einen unmittelbaren Zwang zum Aufsuchen eines Krankenhauses kann die Krankenkasse dagegen nicht ausüben. Das schließt jedoch entgegen der Ansicht von Schiller (WzS 1969, 71) und anscheinend auch des Bayerischen LSG (SozVers. 1968, 155) nicht aus, daß in Fällen, in denen ein Versicherter von einer anderen Stelle zwangsweise im Krankenhaus untergebracht wird, die Unterbringung zugleich der Behandlung einer Krankheit dient, und der Krankenkasse dann, wenn der Versicherte krankenhauspflegebedürftig ist, die Behandlungskosten zur Last fallen (vgl. BSG 28, 114, 117). Von dieser Auffassung geht auch das nordrhein-westfälische Unterbringungsgesetz in § 17 Abs. 1 aus; danach kann nämlich auch ein Träger der Sozialversicherung für eine nach diesem Gesetz durchgeführte Anstaltsunterbringung kostenpflichtig sein. Die gleiche Auffassung liegt ferner der Kostenregelung des sog. Halbierungserlasses bei Unterbringung von Geisteskranken zugrunde (vgl. dazu BSG 9, 112, 115 und BSG 16, 84). Auch im Recht der Tuberkulosehilfe nimmt ein zugleich mit der Heilbehandlung verfolgter polizeilicher Gesichtspunkt (Schutz der Allgemeinheit vor Ansteckung) der Krankenhauspflege nicht den Charakter einer Regelleistung der Krankenversicherung (SozR Nr. 21 zu § 184 RVO, Blatt A a 14). Daß ein Gesetzentwurf zur Neuregelung der Krankenversicherung (Bundestagsdrucks. IV/816) eine Bestimmung erhielt, nach der die Leistungen der Krankenkasse solange ruhen sollten, als der Versicherte auf Grund richterlicher Entscheidung in einem Krankenhaus oder in einer ähnlichen Anstalt aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung untergebracht oder zurückgehalten wird (§ 227 Abs. 1 Nr. 5), ist für die Auslegung des geltenden Rechts ebensowenig entscheidend, wie die - zum Teil vielleicht beachtlichen - Vorschläge für eine zweckmäßigere Verteilung der Kostenlast in Trunksuchtfällen (vgl. dazu Raspe, DÄ 1968, 155; Engel aaO; Kramm, DÄ 1969, 2857; Sabel, WzS 1969, 22).
Im vorliegenden Fall war F. bei seiner Unterbringung im Landeskrankenhaus Süchteln im Mai 1963 und während der hier streitigen Zeit (4. Juli bis 1. September 1963) nach der unangefochtenen Feststellung des LSG krankenhauspflegebedürftig, mag die Krankenhauspflege - nach dem Abklingen der akuten psychischen und physischen Störungen - auch nur eine Behandlung der Trunksucht bezweckt und im wesentlichen in einer Beschäftigungstherapie mit psychotherapeutischen Aussprachen bestanden haben. Daß auch solche Maßnahmen, wenn sie ärztlich angeordnet und geleitet werden, zur Krankenhausbehandlung gehören können, ist bereits ausgeführt worden. Die Beklagte hätte deshalb bei richtiger Ausübung ihres Verwaltungsermessens ihrem Mitglied F. die Gewährung von Krankenhauspflege auch über den 3. Juli 1967 hinaus nicht verweigern dürfen, und ist infolgedessen dem Kläger, der die streitigen Behandlungskosten vorläufig übernommen hat, nach §§ 1531 ff RVO ersatzpflichtig. Ihre Revision gegen das Urteil des LSG ist unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen