Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzureichende Sachaufklärung bei Nichterhebung von Beweisen. Fehlen einer Revisionsbegründung bezüglich eines selbständigen Klageanspruchs
Orientierungssatz
1. Das LSG verletzt seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG, wenn es eine beantragte Beweiserhebung (hier: Einholung eines fachärztlichen Gutachtens) unterläßt, obwohl sie ergeben könnte, daß nach § 1 BVG anerkannte Schädigungsfolgen insgesamt unter Berücksichtigung von erheblichen Auswirkungen eines Lungensplitters im Zusammenwirken mit einer Ellenbogenverletzung die Erwerbsfähigkeit des Klägers nach § 30 Abs 1 BVG um wenigstens 25 vH mindern.
2. Macht der Kläger über anerkannte Schädigungsfolgen hinaus weitere Gesundheitsstörungen als Folgen schädigender Einwirkungen iS des § 1 BVG geltend und hat das LSG über diesen selbständigen Klageanspruch entschieden, so wird bei Fehlen der Revisionsbegründung bezüglich dieses Anspruchs die Revision nicht durch die erfolgreiche Begründung, die einen Rentenanspruch wegen der Anerkennung der Schädigungsfolgen betrifft, zulässig (vgl BSG 1958-03-04 9 RV 126/55 = BSGE 7, 35, 38 ff).
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1974-07-30, § 160 Abs 2 Nr 3 Fassung: 1974-07-30, § 56 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs 2 S 1 Fassung: 1974-07-30; BVG § § 1, 30 Abs 1, § 31 Abs 1 S 1, § 31 Abs 2
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 04.11.1980; Aktenzeichen L 4 V 1164/78) |
SG Wiesbaden (Entscheidung vom 21.07.1978; Aktenzeichen S 6 V 6/78) |
Tatbestand
Die Verwaltung hat beim Kläger verschiedene Folgen von Splitterverletzungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ohne rentenberechtigenden Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) anerkannt, ua einen "reizlos und folgenlos eingeheilten bohnengroßen Lungenstecksplitter". Ein Herzinfarkt im Jahre 1969 bei Gefäßsklerose, Hyperlypoproteinämie, Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule, Übergewichtigkeit, Verdacht eines Morbus-Boeck sind nach einer weiteren Feststellung nicht durch schädigende Einwirkungen iS des § 1 BVG verursacht worden (Bescheid vom 27. April 1977 und Teilanerkenntnis vom 15. September 1980/4. November 1980). Widerspruch, Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 1977, Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 21. Juli 1978 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 4. November 1980). Das Berufungsgericht hat aufgrund der vorliegenden ärztlichen Gutachten die schädigungsbedingte MdE mit weniger als 25 vH beurteilt und deshalb einen Grundrentenanspruch vereint. Die weiteren Gesundheitsstörungen, die zusammen mit den anerkannten Schädigungsfolgen einen Anspruch auf eine Beschädigtenrente begründen sollten, seien nicht durch Kriegseinwirkungen verursacht worden. Weitere medizinische Gutachten seien nicht erforderlich.
Der Kläger rügt mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision als wesentlichen Verfahrensmangel eine unzureichende Sachaufklärung. Der anerkannte Lungenstecksplitter sei nicht reiz- und folgenlos eingeheilt, habe vielmehr in der Nachkriegszeit mehrere Lungenentzündungen verursacht. Dies hätte das LSG entsprechend dem Antrag des Klägers durch ein internistisches Gutachten aufklären müssen. Die unterlassene Beweiserhebung hätte ergeben, daß die Folgen des Lungenstecksplitters zusammen mit den anerkannten Schädigungsfolgen, insbesondere am linken Ellenbogen, eine MdE von mindestens 25 vH bedingten.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts und des
Sozialgerichts aufzuheben und die Beklagte unter
Änderung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen,
dem Kläger ab 1. März 1976 eine Beschädigtenrente nach
einer noch festzustellenden MdE wegen der Beschwerden
aufgrund eines Lungenstecksplitters, der Kraftlosigkeit
und Nervenstörungen des linken Armes nach Durchschuß,
der Wirbelsäulenveränderung und der Folgen eines 1969
erlittenen Herzinfarktes zu gewähren,
hilfsweise,
das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache
an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte hat sich nicht zu dem Revisionsvorbringen geäußert.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat Erfolg, soweit das LSG die Versagung einer Beschädigtenrente wegen der anerkannten Schädigungsfolgen bestätigt hat. Insoweit ist auf den Hilfsantrag das angefochtene Urteil aufzuheben sowie der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Jedoch ist die weitere Schädigungsfolgen betreffende Revision unzulässig.
Wie der Kläger zutreffend rügt, hat das LSG den Sachverhalt über die tatsächlichen Voraussetzungen für die Bewertung der schädigungsbedingten MdE nicht hinreichend von Amts wegen aufgeklärt und damit § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt. Das Gericht hätte der Behauptung des Klägers nachgehen müssen, der bohnengroße Lungenstecksplitter sei nicht folgen- und reizlos eingeheilt, sondern habe nach dem Krieg mehrfach Lungenentzündungen verursacht. Dies hätte durch ein fachärztliches Gutachten aufgeklärt werden müssen, wie der Kläger es in der Berufungsschrift vom 11. Oktober 1978 beantragt hatte. Die vorliegenden Gutachten hatten sich mit dieser Frage nicht auseinandergesetzt.
Das Berufungsurteil beruht auf diesem Verfahrensfehler. Die unterlassene Beweiserhebung hätte ergeben können, daß die nach § 1 BVG anerkannten Schädigungsfolgen insgesamt, insbesondere unter Berücksichtigung von erheblichen Auswirkungen des Lungenstecksplitters im Zusammenwirken mit der Ellenbogenverletzung, die Erwerbsfähigkeit des Klägers nach § 30 Abs 1 BVG um wenigstens 25 vH mindern. Dann bestände ein Anspruch auf Grundrente (§ 31 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 BVG), den das LSG verneint hat.
Für eine Entscheidung zugunsten des Klägers gemäß seinem Hauptantrag fehlen die erforderlichen Tatsachenfeststellungen. Bezüglich des Anspruchs auf Grundrente wegen der schon anerkannten Schädigungsfolgen ist das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen, damit das LSG die unterlassene Beweiserhebung nachholen kann.
Hingegen ist das Rechtsmittel, das der Kläger nicht als Teilrevision unter Beschränkung auf jenen Klageanspruch eingelegt hat, im übrigen unzulässig, dh soweit der Kläger über die anerkannten Schädigungsfolgen hinaus weitere Gesundheitsstörungen als Folgen schädigender Einwirkungen iS des § 1 BVG geltend macht. Dabei handelt es sich um einen gesonderten Klageanspruch, den der Kläger gem § 56 SGG zusammen mit dem Anspruch auf eine Beschädigtenrente wegen der anerkannten Schädigungsfolgen erhoben hat, und zwar ungeachtet der verschiedenen Klagearten (vgl dazu § 54 Abs 1, 2 Satz 1 und Abs 4, § 95, § 55 Abs 1 Nr 3 SGG; BSGE 9, 80; 21, 167 = SozR Nr 38 zu § 55 SGG; BSGE 41, 218 = SozR 3100 § 35 Nr 3; SozR Nr 32 zu § 55 SGG; Nr 81 zu § 1 BVG; 1500 § 78 Nr 4; 1500 § 54 Nr 16). Bei sachdienlichem Verständnis des Berufungsantrages, der anders hätte formuliert werden müssen (§§ 123, 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG), hat der Kläger nicht bloß den durch Anerkenntnis ergänzten Bescheid und den Widerspruchsbescheid angefochten, die Aufhebung der Rentenablehnung verlangt sowie die Verurteilung zur Gewährung einer Beschädigtenrente wegen der anerkannten Gesundheitsstörungen begehrt. Er hat außerdem die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen geltend gemacht, wie dies in dem vor dem SG formulierten Antrag zum Ausdruck gekommen ist. Über diesen selbständigen Klageanspruch hat das LSG in der Begründung des die Berufung zurückweisenden Urteils entschieden. Die dagegen gerichtete Revision ist nach § 169 Satz 1 und 2 SGG als unzulässig zu verwerfen; denn der Kläger hat insoweit die in § 164 Abs 2 Satz 3 iVm § 162 SGG vorgeschriebene Form der Revisionsbegründung nicht fristgerecht (§ 164 Abs 2 Satz 1 und 2 SGG) beachtet. Er hat nicht dargelegt, welche Rechtsnorm durch diesen Teil des Berufungsurteils verletzt sein soll. Die auf diesen Anspruch bezogene Revision ist nicht etwa durch die erfolgreiche Begründung, die einen Rentenanspruch wegen der Anerkennung von Schädigungsfolgen betrifft, zulässig geworden (BSGE 7, 35, 38 ff). Möglicherweise hat der Kläger im Berufungsverfahren weitere Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen lediglich zur Begründung eines Anspruchs auf höhere Rente geltend gemacht. Dann bestände ein gesonderter Klageanspruch in dem entsprechenden abtrennbaren Teil der MdE, der die Rentenhöhe bestimmt. Auch dann ist dieser Teil der Revision unzulässig.
Das Fehlen einer Revisionsbegründung, die weitere Schädigungsfolgen betrifft, erübrigt eine Entscheidung darüber, ob die Revision insoweit außerdem deshalb unzulässig ist, weil der entsprechende Teil der Urteilsgründe nicht der Rechtskraft fähig wäre und infolgedessen den Kläger nicht beschwerte (BSGE 9, 17, 19 ff).
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen