Leitsatz (amtlich)

Der Kraftfahrer iS der Berufsgruppe M IV 2 des Anhangs zum Bundesrahmentarifvertrag für die Bauwirtschaft gehört nicht in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters (Fortführung von BSG 9.9.1986 5b RJ 82/85 = SozR 2200 § 1246 Nr 140).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 31.10.1985; Aktenzeichen L 3 J 329/84)

SG Lübeck (Entscheidung vom 10.10.1984; Aktenzeichen S 2 J 488/82)

 

Tatbestand

Der 1928 geborene Kläger hat keine förmliche Ausbildung erhalten und abgeschlossen. Nach einer vierjährigen Tätigkeit als Matrose arbeitete er von 1948 bis zum 30. April 1981 überwiegend im Tiefbau. Laut Mitteilung seines letzten Arbeitgebers war er seit Juli 1961 als Baumaschinist tätig und hat hierzu über die allgemeinen Kenntnisse der Arbeiten im Tiefbau verfügen müssen; außerdem hat er eine Anlernzeit von ca drei Monaten als Fahrer eines kleinen Baggers zurückgelegt. Er hat regelmäßig den Tariflohn eines Kraftfahrers mit dreijähriger Fahrpraxis nach der Berufsgruppe M IV 2 des Bezirkslohntarifvertrages für das Bauhauptgewerbe in Schleswig-Holstein erhalten. Den 1982 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 22. Oktober 1982 mit der Begründung ab, der Kläger könne noch leichte Arbeiten im Sitzen und im Stehen im Wechselrhythmus vollschichtig ohne häufiges Klettern oder Steigen, ohne Wechselschicht und ohne wirbelsäulenbelastende Arbeiten verrichten. Er sei auf das allgemeine Arbeitsfeld, aber auch auf die Tätigkeit als Hausmeister verweisbar.

Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen erhobene Klage durch Urteil vom 10. Oktober 1984 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 31. Oktober 1985 das Urteil des SG und den angefochtenen Bescheid dahin geändert, daß die Beklagte verurteilt wird, dem Kläger ab 1. Juli 1982 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, dem Kläger stehe der Berufsschutz eines schlichten Facharbeiters zu. Er sei während seiner mehr als 20-jährigen Tätigkeit bei seiner letzten Arbeitgeberin als Baumaschinist für die erforderlichen allgemeinen Kenntnisse der Arbeiten im Tiefbau und für das Bedienen eines Baggers angelernt worden, wobei die Einweisungszeit für das Baggerfahren etwa drei Monate betragen habe. Der Kläger sei in dem Betrieb in der Funktion eines Baumaschinisten tätig gewesen, wie den Arbeitgeberauskünften vom 14. Mai 1981 und 13. Oktober 1982 zu entnehmen sei. Auch seine tarifliche Entlohnung nach der Gruppe M IV 2 des Bezirkslohntarifvertrages für das Bauhauptgewerbe im Land Schleswig-Holstein lasse die berufliche Qualifikation als Facharbeiter erkennen. Endlich erfordere es der Gesichtspunkt der Beitragsgerechtigkeit, dem Kläger den gleichen Berufsschutz zuzuerkennen, wie den in die Gruppe M IV 1 eingestuften Facharbeitern. Er könne deshalb nur auf Anlerntätigkeiten verwiesen werden. Auf dieser Ebene gebe es aber keine Tätigkeiten, die er mit seinem Leistungsvermögen noch ausüben könne.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt Verletzungen der §§ 103 und 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 31. Oktober 1985 aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen; hilfweise beantragt sie, die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist aufgrund der materiell-rechtlichen Rüge im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Die Beklagte rügt zu Recht, das angefochtene Urteil verletze mit der Zuordnung des Klägers zur Gruppe der Facharbeiter § 1246 Abs 2 RVO. Nach dieser Bestimmung ist für den Anspruch auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente nicht die Höhe des erzielten Lohnes und die sich daraus ergebende Beitragshöhe zur Rentenversicherung maßgebend. Es kommt vielmehr auf den qualitativen Wert der vom Kläger verrichteten Tätigkeit an, wobei grundsätzlich von der Tätigkeit auszugehen ist, die im Arbeitsleben des Klägers den höchsten qualitativen Wert verkörpert hat. Ausgehend davon ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) diese Tätigkeit in ein Mehrstufenschema einzuordnen. Darin werden die Arbeiterberufe unterteilt in Gruppen, die durch die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des sonstigen Ausbildungsberufes bzw des Angelernten und des ungelernten Arbeiters charakterisiert werden. Dabei ist die Verweisung des Versicherten auf die Tätigkeiten der nächsten Gruppe unterhalb derjenigen begrenzt, der sein bisheriger Beruf zuzuordnen ist (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nr 138 mwN).

Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 9. September 1986 (SozR 2200 § 1246 Nr 140) bereits für die in die Gruppe IV 4 des Bezirkslohntarifvertrages des Baugewerbes Hamburg eingestuften "Baufacharbeiter" entschieden hat, wird die Berufsgruppe IV des Baugewerbes nicht vom Leitbild des Facharbeiters und somit nicht von dessen fachlicher Qualifikation geprägt. Entgegen der Auffassung des LSG gilt dies auch für die tarifliche Berufsgruppe M IV des Baugewerbes.

Nach dem Lohntarifvertrag des Baugewerbes in Schleswig-Holstein vom 8. Mai 1981, dessen zeitlicher Geltungsbereich im letzten Monat der Beschäftigung des Klägers im Tiefbau - April 1981 - beginnt, richten sich die Löhne der Berufsgruppen I bis VII nach dem Anhang zum Bundesrahmentarifvertrag. Danach besteht die Tarifgruppe M IV aus drei Untergruppen. Die Untergruppe 1 umfaßt Baumaschinenwarte und Berufskraftfahrer (mit Prüfung) in den ersten zwei Jahren. Die Untergruppe 2, nach welcher der Kläger entlohnt wurde, umfaßt Kraftfahrer gemäß Tarifgruppe M V 3 nach dreijähriger Fahrpraxis. Die dritte Untergruppe schließlich umfaßt Arbeitnehmer gemäß den Gruppen M V 1 und 2 nach zweijähriger Tätigkeit. In der Gruppe M V sind in erster Linie Arbeitnehmer erfaßt, die einen von den Tarifvertragsparteien anerkannten Baumaschinistenlehrgang mit Erfolg abgeschlossen haben oder einen entsprechenden Fertigkeitsnachweis unter Gegenzeichnung des Betriebsrats besitzen. Außerdem fallen unter diese Gruppe Arbeitnehmer, welche die Fahrprüfung der Führerscheinklassen III oder II abgelegt haben und als Kraftfahrer beschäftigt werden. Bei diesen Tätigkeiten handelt es sich bereits um Ausbildungsberufe, deren Qualität jedoch nicht derjenigen eines Lehrberufs entspricht. Diese Tätigkeiten sind deshalb zu den Anlerntätigkeiten im Sinne des vom BSG entwickelten Vierstufenschemas zu rechnen. In diese Gruppe werden schließlich auch diejenigen ungelernten Arbeitnehmer einbezogen, welche die in der Berufsgruppe VI genannten einfachen Wartungs- und Pflegearbeiten nach einer zweijährigen Tätigkeit in dieser Gruppe verrichten. Die Tarifvertragsparteien gehen hier wohl davon aus, daß die zweijährige berufliche Praxis innerbetriebliche Erfahrungen vermittelt, die eine Zuordnung zum Bereich der angelernten Tätigkeiten rechtfertigt. Die Gruppe M IV weist dagegen unterschiedlich qualifizierte Arbeitnehmer auf. In der Untergruppe 1 werden Arbeitnehmer aufgeführt, die einen für die Wartung, Betreuung und Instandsetzung von Baumaschinen und Geräten notwendigen Ausbildungsberuf im Sinne des Berufsbildungsgesetzes erlernt oder die Prüfung als Berufskraftfahrer abgelegt haben. Dabei handelt es sich um Facharbeiter. In den Untergruppen 2 und 3 handelt es sich dagegen, wie die Bezugnahme auf die Gruppen V 1 bis 3 erkennen läßt, um angelernte Arbeitnehmer mit zusätzlicher innerbetrieblicher Praxis, die bei den Kraftfahrern drei Jahre und bei den übrigen Arbeitnehmern zwei Jahre umfaßt. Die in der Untergruppe 1 erfaßten Arbeitnehmer unterscheiden sich von den Arbeitnehmern der Untergruppen 2 und 3 insbesondere auch dadurch, daß sie nach einer zweijährigen Tätigkeit in die Berufsgruppe M III 2 aufsteigen, während dies bei den Kraftfahrern und den Arbeitnehmern mit Fertigkeitsnachweis nur möglich ist, wenn sie entweder als Kraftfahrer die Befähigung erworben haben, selbständig Reparaturen auszuführen (Gruppe M III 3) oder aber als Arbeitnehmer mit Fertigkeitsnachweis die im einzelnen aufgezählten Tätigkeitsmerkmale eines Baumaschinenführers im Hochbau, Straßenbau oder im Erd- und Tiefbau erfüllen (Gruppe M III 4). Aus der Übernahme der Arbeitnehmer der Gruppe M IV 1 in die Gruppe M III 2 allein nach einer zweijährigen Tätigkeit im Gegensatz zu den für eine Übernahme in die Gruppe M III 3 und 4 erforderlichen zusätzlichen fachlichen Voraussetzungen ergibt sich, daß bei den an Baumaschinen tätigen Arbeitnehmern die Facharbeitergruppe die Gruppe M III ist. Denn in ihr befindet sich das Gros der Baumaschinenführer. Die Gruppe M IV 1 ist als Eingangsgruppe für diese Facharbeiter nur eine zeitlich begrenzte Durchgangsgruppe, die - entgegen der Auffassung des LSG - nicht geeignet ist, der Berufsgruppe M IV insgesamt den Charakter einer Facharbeitergruppe zu verleihen. Aus der tariflichen Entlohnung des Klägers nach der Gruppe M IV 2 folgt mithin nicht, daß er eine von der Qualität her der Facharbeitertätigkeit gleichgestellte Tätigkeit verrichtet hat.

An diesem Ergebnis ändert auch nichts der vom LSG des weiteren angeführte Gesichtspunkt der Beitragsgerechtigkeit. Insoweit wird auf die diesbezüglichen Ausführungen im Urteil des erkennenden Senats vom 9. September 1986 aaO Bezug genommen.

Die Indizwirkung der tariflichen Einstufung des Klägers in die Berufsgruppe M IV 2 schließt allerdings nicht aus, daß der Kläger tatsächlich eine qualitativ höherwertige Tätigkeit, nämlich eine Facharbeitertätigkeit im Sinne der Berufsgruppe M III 3 oder 4 verrichtet hat mit der Folge, daß bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit gleichwohl vom bisherigen Beruf des Klägers als Facharbeiter auszugehen wäre. Ob das der Fall ist, vermag der Senat anhand der Feststellungen des LSG nicht zu entscheiden, da diese - wie die Revision zutreffend rügt - insoweit zu wenig konkret sind. Aus diesem Grunde muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, ohne daß noch zu prüfen ist, ob die mit der Revision zusätzlich gerügten Verfahrensmängel vorliegen.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663602

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