Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschiedenenwitwenrente. Erwerbstätigkeit der Witwe. Zumutbarkeit

 

Orientierungssatz

1. Das Unterhaltsrecht geht und ging von der grundsätzlichen Eigenverantwortung jedes geschiedenen Ehegatten für seinen Unterhalt aus (vgl BSG 6.6.1986 5b RJ 18/85 = SozR 2200 § 1265 Nr 79).

2. Unzumutbar kann eine Erwerbstätigkeit sein, wenn die Arbeitskraft des geschiedenen Ehegatten durch die Betreuung von Kindern gebunden ist. Dabei sind die Umstände des einzelnen Falles zu würdigen. Bei der vorzunehmenden Abwägung der Umstände des Einzelfalles kommt es neben den persönlichen Verhältnissen des Unterhalt fordernden Ehegatten vor allem auf die Betreuungsbedürftigkeit des Kindes an (vgl BGH 26.10.1984 IVb ZR 44/83 = NJW 1985, 429). Dabei spielt nicht nur das Alter des Kindes eine Rolle, sondern insbesondere sein Gesundheitszustand, sein schulischer und sonstiger Entwicklungsstand sowie möglicherweise bei ihm aufgetretene Verhaltensstörungen

 

Normenkette

RVO § 1265 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 22.07.1986; Aktenzeichen L 11 Ar 376/85)

SG Landshut (Entscheidung vom 22.03.1985; Aktenzeichen S 3 Ar 189/83)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen geschiedenen Ehemannes E. F. F. über den 31. März 1983 hinaus.

Die am 22. Juni 1939 geborene Klägerin heiratete 1963 den Versicherten. Am 9. März 1965 wurde der gemeinsame Sohn . F. geboren. Die Klägerin nahm im Januar 1969 eine Berufstätigkeit auf. Im November 1969 wurde die Ehe aus dem Verschulden des Ehemannes geschieden. Die Klägerin erhielt von dem Versicherten keinen Unterhalt. An das gemeinsame Kind zahlte der Versicherte 250,00 DM monatlich. Zur Zeit der Scheidung verdiente der Versicherte nur 849,00 DM monatlich.

Im Juli 1979 verstarb der Versicherte. Zu dieser Zeit hatte er 1.500,00 DM netto monatlich verdient, die Klägerin 1.140,00 DM. Die Beklagte gewährte der Klägerin ab 1. August 1979 Hinterbliebenenrente (Bescheid vom 7. November 1979). Die Beklagte wies im Bescheid darauf hin, daß die Rente nur solange gewährt werde, wie ein unterhaltsberechtigtes Kind erzogen werde. Mit dem Wegfall dieser Voraussetzung entfalle auch der Anspruch auf Hinterbliebenenrente, weil der verstorbene Versicherte zur Zeit seines Todes keinen Unterhalt zu leisten gehabt und auch keinen Unterhalt geleistet habe. Die Beklagte entzog mit Wirkung vom 1. April 1983 die Rente, weil der Sohn der Klägerin im März 1983 das 18. Lebensjahr vollendet hatte (Bescheid vom 23. März 1983).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. März 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 22. Juli 1986). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe zur Zeit des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten keinen Unterhaltsanspruch gegen ihn gehabt. Das Nettogesamteinkommen der früheren Ehegatten habe 2.640,00 DM betragen. Der angemessene Unterhalt der Klägerin habe höchstens 1/3 bis 3/7 ausgemacht, hier also zwischen 880,00 und 1.130,00 DM. Der nach dem Gesamteinkommen günstigstenfalls ihr zustehende Betrag sei bereits durch ihr eigenes Einkommen in Höhe von 1.140,00 DM erreicht gewesen. Das Einkommen der Klägerin könne auch nicht deshalb außer Betracht bleiben, weil es der Klägerin nicht zumutbar gewesen sei, es zu erzielen. Die Klägerin habe mit ihren Eltern im eigenen Haus zusammengelebt. Durch die Eltern der Klägerin sei für die Verköstigung und altersentsprechende Aufsicht des Sohnes der Klägerin gesorgt gewesen.

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Meinung, daß ihr Erwerbseinkommen zumindest zum Teil außer Betracht bleiben müsse, weil ihre Erwerbsarbeit unzumutbar gewesen sei.

Sie beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 22. März 1985 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides zu verurteilen, der Klägerin ab 1. April 1983 Hinterbliebenenrente zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zurückzuweisen. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente.

Die Hinterbliebenenrente, die die Klägerin aufgrund § 1265 Abs 1 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) erhalten hat, ist ihr entzogen worden, nachdem ihr Sohn 18 Jahre alt geworden ist und die Klägerin ihn somit nicht mehr erzogen hat (§ 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 3 RVO). Dagegen wendet sich die Klägerin nicht, sondern sie stützt ihren Anspruch nunmehr auf § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO. Dieser Anspruch besteht jedoch ebenfalls nicht.

Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die Beklagte bereits mit dem Bescheid vom 7. November 1979 den Anspruch aus § 1265 Satz 1 RVO bindend verneint hat. Denn hätte die Klägerin einen materiell-rechtlichen Anspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO, so wäre der alte Bescheid entsprechend zu ändern (§ 44 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch -SGB 10-). Die Voraussetzungen des § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO liegen jedoch nicht zugunsten der Klägerin vor. Nach dieser Bestimmung wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden worden ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit des Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder im letzten Jahr vor seinem Tod Unterhalt geleistet hat. Geleistet hat der Versicherte keinen Unterhalt. Er war aber auch zur Zahlung von Unterhalt an die Klägerin nicht verpflichtet. Auch nach dem Inkrafttreten der neuen Vorschriften des Ehescheidungsrechts durch das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976, BGBl I 1421 - 1. EheRG - am 1. Juli 1977 gelten für vor diesem Zeitpunkt geschiedene Ehen die bisherigen unterhaltsrechtlichen Vorschriften weiter (Artikel 12 Ziffer 3 des 1. EheRG). Gemäß § 58 Abs 1 EheG hat der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau oder die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen. Haben beide Ehegatten zur Zeit der Scheidung Einkünfte gehabt, so ist als angemessener Unterhalt der geschiedenen Frau in der Regel 1/3 bis 3/7 des Nettogesamteinkommens anzusehen (BSG SozR 2200 § 1265 Nr 56). Auf den so errechneten Unterhaltsbedarf der Ehefrau ist ihr eigenes Einkommen anzurechnen (BSG SozR 2200 § 1265 Nr 79). Das Nettogesamteinkommen der früheren Ehegatten betrug zur Zeit des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor dem Tode des Versicherten, wie das LSG festgestellt hat, 2.640,00 DM. Der nach den genannten Grundsätzen errechnete Unterhalt der Klägerin machte damit höchstens 3/7 dieses Betrages aus, also 1.131,00 DM, demnach weniger als die Klägerin zu dieser Zeit selbst verdiente.

Vom Einkommen der Klägerin ist auch nicht deshalb ein Teil unberücksichtigt zu lassen, weil der Klägerin eine Erwerbstätigkeit nicht zumutbar war. Das Unterhaltsrecht geht und ging von der grundsätzlichen Eigenverantwortung jedes geschiedenen Ehegatten für seinen Unterhalt aus (BSG SozR 2200 § 1265 Nr 79 mwN). Unzumutbar kann allerdings eine Erwerbstätigkeit dann sein, wenn die Arbeitskraft des geschiedenen Ehegatten durch die Betreuung von Kindern gebunden ist. Dabei sind die Umstände des einzelnen Falles zu würdigen. Das LSG hat sie ohne Rechtsirrtum dahin gewürdigt, daß die Erwerbsarbeit der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten nicht aufgrund der Betreuung ihres Kindes unzumutbar war. Bei der vorzunehmenden Abwägung der Umstände des Einzelfalles kommt es neben den persönlichen Verhältnissen des Unterhalt fordernden Ehegatten vor allem auf die Betreuungsbedürftigkeit des Kindes an (BGH NJW 1985, 429, 430 = FamRZ 85, 50, 51). Dabei spielt nicht nur das Alter des Kindes eine Rolle, sondern insbesondere sein Gesundheitszustand, sein schulischer und sonstiger Entwicklungsstand sowie möglicherweise bei ihm aufgetretene Verhaltensstörungen. Mangels entsprechender Feststellungen und entsprechendem Vortrags ist davon auszugehen, daß bei dem Sohn der Klägerin keine besonderen ungünstigen Umstände vorlagen. Das Heranwachsen des Kindes in das Alter von 16 Jahren eröffnet dem betreuenden Elternteil in aller Regel die Möglichkeit, eine Vollzeitbeschäftigung aufzunehmen. Denn in diesem Alter wird ein Jugendlicher im allgemeinen für seine Pflege weitgehend selbst sorgen können. Eine größere Selbständigkeit wird seiner Entwicklung sogar förderlich sein (BGH aaO). Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, bis zum 16. Lebensjahr des betreuten Kindes werde der betreuende Elternteil stets derart in Anspruch genommen, daß er keine oder nur eine eingeschränkte Erwerbstätigkeit ausüben könne (vgl BSG SozR 3100 § 42 Nr 2). Nach der Rechtsprechung des BGH kommt für eine geschiedene Frau, die ein 11 bis 15jähriges Kind zu betreuen hat, eine Teilzeitbeschäftigung in Betracht, vor allem in den Vormittagsstunden, wenn das Kind die Schule besucht (BGH NJW 1982, 326, 327 mwN). Doch sind das nur Anhaltspunkte. Die Umstände des Einzelfalles können die Obliegenheit des unterhaltbegehrenden Teils zur Erwerbstätigkeit erweitern oder einschränken. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bei einer Frau, die ein 10 1/2 Jahre altes Kind hatte, es auch als bedeutsam erachtet, ob das Kind zusammen mit der Mutter in einem Familienverband lebte, der eine Betreuung und Beköstigung des Kindes erlaubte, welches schon nicht mehr der ständigen und unmittelbaren Aufsicht durch die Erziehungsberechtigten bedurfte (BSG aaO). Nach den Feststellungen des LSG war die Lage der Klägerin ähnlich günstig. Danach lebte die Klägerin mit ihren Eltern im eigenen Haus zusammen. Durch diese war auch in ihrer Abwesenheit und auch nach Schulschluß für die Verköstigung und die altersentsprechende Beaufsichtigung des Kindes das zur Zeit des Todes des früheren Ehemannes der Klägerin schon 14 Jahre alt war, ausreichend gesorgt. Diese Tatsachenfeststellungen sind von der Revision nicht angegriffen worden und deshalb für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindend. Unter diesen Umständen war der Klägerin eine ganztägige Erwerbsarbeit zumutbar.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663712

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