Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 30.09.1991)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. September 1991 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Erwerbsunfähigkeitsrente der 1956 geborenen Klägerin unter Berücksichtigung einer sogenannten Zurechnungszeit zu berechnen ist.

Die erste Ehe der Klägerin wurde durch Urteil des Amtsgerichts – Familiengericht – A. … vom 18. Dezember 1981 rechtskräftig geschieden. Zur Regelung des Versorgungsausgleichs wurden ihr vom Konto ihres geschiedenen Ehemannes Rentenanwartschaften in Höhe von 109,95 DM monatlich, bezogen auf das Ende der Ehezeit am 31. März 1981, übertragen.

Wegen eines – nach Anerkenntnis auf den 18. März 1982 vorverlegten – Versicherungsfalls berechnete die Beklagte die der Klägerin seit Februar 1988 gewährte Erwerbsunfähigkeitsrente (Bescheid vom 1. Juni 1988) neu unter Berücksichtigung von Pflichtbeitragszeiten für eine von August 1971 bis Dezember 1974 ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung (41 Kalendermonate) sowie der übertragenen Rentenanwartschaften; eine Zurechnungszeit gemäß § 37 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) wurde der Rentenberechnung nicht zugrunde gelegt (Bescheid vom 31. Juli 1990).

Das Sozialgericht (SG) Münster hat die Klage, mit der die Klägerin die Neuberechnung der Rente unter Berücksichtigung einer Zurechnungszeit begehrt hatte, abgewiesen (Urteil vom 17. Januar 1991). Mit Urteil vom 30. September 1991 hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen die Berufung zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Zurechnungszeit lägen nicht vor. Weder seien in den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalls 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt noch sei die Zeit vom Kalendermonat des Eintritts in die Versicherung bis zum Kalendermonat, in dem der Versicherungsfall eingetreten sei, zur Hälfte mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt. Die aufgrund des Versorgungsausgleichs zugesplittete Rentenanwartschaft könne nicht als Pflichtbeitragszeit gewertet werden. Sie sei nicht den von der Klägerin persönlich zurückgelegten Beitragszeiten gleichzustellen. Mit der Übertragung von Rentenanwartschaften würden Werteinheiten zugesplittet, die sich grundsätzlich nur auf die Höhe der Versichertenrente auswirkten. Die zu §§ 23 Abs 2a, 24 Abs 2a AVG ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (Urteile vom 31. Mai 1989 – 4 RA 4/88 = BSGE 65, 107 ff = SozR 2200 § 1246 Nr 166 sowie vom 19. April 1990 – 1 RA 63/89) sei heranzuziehen und sinngemäß auf die Auslegung von § 37 Abs 1 Satz 2 AVG zu übertragen. Denn die Bestimmungen enthielten jeweils dieselben tatbestandsmäßigen Voraussetzungen in bezug auf die Vorversicherungszeit. Daß die Vorschriften zu verschiedenen Zeitpunkten in Kraft getreten seien, sei dabei ohne Bedeutung.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 37 Abs 1 Satz 2 AVG und trägt vor:

Entgegen der Auffassung des LSG seien die im Rahmen des Versorgungsausgleichs übertragenen Rentenanwartschaften als Pflichtbeiträge bzw diesen gleichzustellende Beiträge im Rahmen der Zurechnungszeit zu berücksichtigen. Die vom LSG herangezogenen Entscheidungen des BSG zu §§ 23, 24 AVG seien nicht einschlägig. Mit der Änderung der Vorschriften – zum 1. Januar 1984 – sei das Ziel verfolgt worden, einen engen Bezug der danach Anspruchsberechtigten zum Kreis der Pflichtversicherten herzustellen. Da ihr Versicherungsfall jedoch bereits 1982 eingetreten sei, könne diesem Gesichtspunkt keine Bedeutung zukommen. Der Begriff der rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit werde im Recht der Rentenversicherung nicht einheitlich ausgelegt, so daß maßgebendes Auslegungskriterium des § 37 AVG Sinn und Zweck der Zurechnungszeit sein müsse. Diese sei eingeführt worden, um den Versicherten im Falle frühzeitiger Invalidität eine ausreichende Rente zu sichern. Wenn also der frühzeitig invalide gewordene Versicherte durch die Zurechnungszeit im Ergebnis so gestellt werde, als habe er weitergearbeitet und Beiträge zur Rentenversicherung geleistet, dann sei es sachgerecht, die zugesplitteten Versorgungsanteile einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung gleichzusetzen und sie im Rahmen des § 37 Abs 1 Satz 2 AVG zu berücksichtigen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. September 1991 und des Sozialgerichts Münster vom 17. Januar 1991 sowie den Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 1990 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei der Berechnung ihrer Erwerbsunfähigkeitsrente eine Zurechnungszeit zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie vertritt weiterhin die Auffassung, die fehlenden Pflichtbeiträge könnten durch die im Wege des Versorgungsausgleichs zugesplittete Rentenanwartschaft nicht aufgefüllt werden. Denn im Versorgungsausgleich würden keine – bestimmten Zeiträumen zuzuordnenden – Versicherungszeiten übertragen. Die übertragene Anwartschaft wirke sich – außer bei der Prüfung, ob die Wartezeit erfüllt sei – lediglich auf die Rentenhöhe aus.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet.

Verfahrensfehlerfrei haben SG und LSG den geschiedenen ersten Ehemann der Klägerin nicht nach § 75 Abs 2 Alternative 1 SGG beigeladen. Denn die Entscheidung über die Frage, ob die im Wege des Versorgungsausgleichs – rechtskräftig – übertragenen Rentenanwartschaften Pflichtbeitragszeiten iS des § 37 AVG ersetzen, berührt die rentenversicherungsrechtliche Rechtsposition des geschiedenen Ehemannes der Klägerin nicht.

Zutreffend haben SG und LSG auch einen Anspruch der Klägerin auf Neuberechnung der Rente unter Berücksichtigung einer Zurechnungszeit verneint.

Denn die Klägerin erfüllt nicht die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des allein als Anspruchsgrundlage für ihr Begehren in Betracht kommenden § 37 Abs 1 AVG (idF des Art 1 § 2 Nr 20 des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 ≪BGBl 1965 I S 476≫). Die Vorschriften des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) greifen zu ihren Gunsten nicht ein. Denn die Beklagte gewährte der Klägerin bereits vor dem 1. Januar 1992, vor Inkrafttreten des Gesetzes, eine laufende Erwerbsunfähigkeitsrente (vgl §§ 300 Abs 2, 306 Abs 1 SGB VI).

§ 37 Abs 1 Satz 2 AVG setzt voraus, daß entweder von den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles mindestens 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit oder die Zeit vom Kalendermonat des Eintritts in die Versicherung bis zum Kalendermonat, in dem der Versicherungsfall eingetreten ist, mindestens zur Hälfte mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind bzw ist. Beide Alternativen des § 37 Abs 1 Satz 2 AVG erfordern für die Anrechnung der Zurechnungszeit somit eine mit Beiträgen belegte rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit. Die Klägerin könnte daher nur dann die Berücksichtigung einer Zurechnungszeit mit Erfolg geltend machen, wenn die im Wege des Versorgungsausgleichs übertragenen Rentenanwartschaften Pflichtbeitragszeiten aufgrund rentenversicherungspflichtiger Beschäftigung oder Tätigkeit wären oder diesen gleichgestellt werden könnten. Denn die Klägerin war in den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalls (18. März 1982) nicht 36 Kalendermonate versicherungspflichtig beschäftigt und hat auch – nach den bindenden Feststellungen des LSG – vom Zeitpunkt des Eintritts in die Versicherung (1971) bis zum Versicherungsfall nicht die Hälfte der nach Abzug von Ausfallzeiten verbleibenden 55, sondern nur 41 Kalendermonate mit eigenen Pflichtbeiträgen belegt.

Es stellt sich damit die Frage, wie die im Wege des Versorgungsausgleichs übertragenen Rentenanwartschaften bei Ansprüchen des Ausgleichsberechtigten aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu werten sind. Dabei ist von Sinn und Zweck des Versorgungsausgleichs, in dessen Folge die Rentenanwartschaften übertragen werden, auszugehen. Mit ihm sollen gemäß § 1587 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) alle in der Ehezeit erworbenen Versorgungsansprüche der Ehepartner als Ergebnis der gemeinsamen Lebensführung bei der Scheidung aufgeteilt werden, und zwar in Anlehnung an das Prinzip des Zugewinnausgleichs (§ 1363 BGB). Der Versorgungsausgleich dient mithin der Abwicklung eines durch die Ehe begründeten Privatrechtsverhältnisses, also einer vermögensrechtlichen Auseinandersetzung der geschiedenen Ehegatten. Seiner Funktion nach ist der Versorgungsausgleich demnach dem Versicherungssystem fremd (vgl BVerfGE 53, 257, 301). Entsprechend seiner vermögensrechtlichen Ausgestaltung wird dem ausgleichsberechtigten Ehegatten – auch nur – die Hälfte des Wertunterschiedes der in der Ehezeit erworbenen Rentenanwartschaften (§ 1587b Abs 1 BGB), also keine Versicherungszeiten, sondern Werteinheiten – ohne zeitliche Zuordnung – übertragen (vgl hierzu BVerfG, aaO, S 305). Eine Umrechnung der übertragenen Werteinheiten erfolgt nur, sofern es für die Erfüllung der Wartezeit geboten ist. Insoweit liegt jedoch eine vom Gesetzgeber ausdrücklich geregelte Ausnahme vor; nur in diesem Fall werden die übertragenen Werteinheiten in den im Gesetz genannten Grenzen wie selbst zurückgelegte Versicherungszeiten behandelt (vgl BSGE 61, 271, 273 = BSG SozR 2200 § 1304c Nr 1).

Durch den Versorgungsausgleich übertragene Rentenanwartschaften sollen mithin dem Ausgleichsberechtigten bei Ende der Ehezeit grundsätzlich lediglich eine im Vergleich zu Beginn der Ehe verbesserte vermögensrechtliche Position in bezug auf das während der Ehe erworbene Versorgungsvermögen (so BVerfGE, aaO, 207) verschaffen. Im Einklang damit steht, daß eine bei dem Ausgleichsverpflichteten während der Ehezeit nicht berücksichtigte Zurechnungszeit auch dem Ausgleichsberechtigten im Zusammenhang mit den übertragenen Rentenanwartschaften nicht zugute kommen kann. Entgegen der Auffassung des Klägers wird dies gerade deutlich an dem vom Bundesgerichtshof -BGH- (SGb 1986, 479 ff) entschiedenen – umgekehrten -Fall. Danach ist eine während der Ehe beim ausgleichsverpflichteten Ehegatten bereits zuerkannte Zurechnungszeit beim Versorgungsausgleich ebenso wie etwa die in der Ehezeit tatsächlich zurückgelegten Beitrags-, Ausfall- und Ersatzzeiten zu berücksichtigen (vgl hierzu § 83 Abs 1 AVG, BGH aaO S 480). Dies ist ausgehend vom Sinn und Zweck des Versorgungsausgleichs in Verbindung mit Sinn und Zweck der Zurechnungszeit konsequent. Denn dem vor dem 55. Lebensjahr berufs- oder erwerbsunfähig gewordenen Versicherten soll durch die Zurechnungszeit eine Rente in ausreichender Höhe gewährleistet werden (vgl BT-Drucks 2/2437 S 74 f) mit der Folge, daß in bezug auf den künftigen Versicherungsfall die Anwartschaft auf Altersruhegeld mit jedem Monat der Zurechnungszeit bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres wächst, als ob er in der Zeit weitergearbeitet und Beiträge zur Rentenversicherung geleistet hätte (vgl hierzu BGH aaO). In dem vom BGH entschiedenen Fall hatte der ausgleichsverpflichtete Ehegatte daher im Hinblick darauf, daß bei Berechnung der während der Ehe gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente eine Zurechnungszeit berücksichtigt worden war, in der Ehezeit eine – ausgleichspflichtige -Vermögensposition erworben.

Schließlich verbietet die vermögensrechtliche Ausgestaltung des Versorgungsausgleichs die Gleichstellung von Pflichtbeiträgen mit übertragenen Rentenanwartschaften auch deshalb, weil nicht erkennbar ist, ob die übertragenen Werteinheiten auf Pflicht- oder freiwilligen Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversi cherung oder auf Aussichten oder Anwartschaften aus sonstigen Sicherungssystemen (Beamtenversorgung, Zusatzversorgung, betriebliche Altersversorgung) beruhen (vgl §§ 83b Abs 2 Satz 1 iVm § 83a Abs 1 AVG; BVerfGE, aaO, S 305).

Entgegen der Auffassung der Klägerin konnte das LSG die zu §§ 23, 24 AVG ergangene Rechtsprechung des BSG zur Beantwortung der Frage heranziehen, ob im Wege des Versorgungsausgleichs übertragene Rentenanwartschaften beim Ausgleichsberechtigten als Pflichtbeitragszeiten berücksichtigt werden können bzw diesen gleichzustellen sind. Denn sowohl die vorgenannten Entscheidungen als auch der hier zu entscheidende Fall betreffen – ua – die Frage, welche rentenversicherungsrechtliche Bedeutung den im Wege des Versorgungsausgleichs übertragenen Rentenanwartschaften zukommt. Unerheblich ist hingegen in diesem Zusammenhang, wie der Begriff „rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit” im Rentenversicherungsrecht grundsätzlich auszulegen ist. Die Ausführungen in dem den Beteiligten bekannten Urteil des 4. Senats vom 31. Mai 1989 (BSGE 65, aaO = SozR 2200 § 1246 aaO; ebenso der 1. Senat im Urteil vom 19. April 1990 – 1 RA 63/89 – sowie der 5. Senat im Urteil vom 29. November 1990 – 5 RJ 9/90) zur Frage, ob eine Gleichstellung der im Wege des Versorgungsausgleichs übertragenen Rentenanwartschaften mit Pflichtbeitragszeiten geboten ist, treffen daher auch auf den vorliegenden Fall zu, soweit dieser Problemkreis betroffen ist. Auf sie nimmt der Senat insoweit im übrigen Bezug.

Nach alledem steht der Klägerin kein Anspruch auf Neuberechnung der Erwerbsunfähigkeitsrente unter Berücksichtigung einer Zurechnungszeit nach § 37 Abs 1 AVG zu. Die Revision gegen das im Ergebnis und in der Begründung zutreffende Urteil des LSG ist mithin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173824

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