Entscheidungsstichwort (Thema)

Verwertung von Beweisergebnissen anderer Verfahren

 

Orientierungssatz

Das Beweisergebnis anderer Verfahren darf nach SGG §§ 62, 128 Abs 2 nur dann verwertet werden, wenn die Beteiligten Gelegenheit hatten, sich dazu zu äußern. Das setzt voraus, daß die Beteiligten dieses Beweisergebnis nicht nur kennen, sondern auch von der Absicht des Tatsachengerichts unterrichtet worden sind, es für die notwendigen Tatsachenfeststellungen heranzuziehen.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Juni 1976 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der im Jahre 1926 geborene Kläger war bis 1971 als gelernter Schiffsbauschlosser (Blechschlosser) und danach bis Ende Februar 1976 als Archivhelfer tätig; seitdem ist er Bürohelfer.

Klage und Berufung gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 18. Februar 1972 hatten keinen Erfolg. Der erkennende Senat hat mit Urteil vom 24. Oktober 1975 das Berufungsurteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen, weil das Urteil des LSG auf einem wesentlichen Verfahrensmangel beruhe. Das LSG hat mit Urteil vom 15. Juni 1976 das Urteil des Sozialgerichts (SG) sowie den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Oktober 1971 an zu zahlen. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, der Kläger könne die Tätigkeit eines Schiffsbauschlossers aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Die von ihm tatsächlich verrichteten Tätigkeiten eines Archivhelfers und Bürohelfers seien ihm nicht zumutbar, denn es handele sich um Hilfsarbeitertätigkeiten mit kurzer Anlernzeit. Die Einstufung dieser Tätigkeiten durch den Arbeitgeber in die Lohngruppe 3 des Tarifvertrages, die Arbeiten mit systematischer Zweckausbildung enthalte, sei ohne Bedeutung, weil die vom Kläger verrichteten Tätigkeiten eines Archiv- und Bürohelfers diese Qualitätsmerkmale nicht erfüllten. Der Kläger könne auch nicht auf Kontroll- und Montagearbeiten in der Industrie verwiesen werden. Wegen der Art seines Leidens sei er höheren Anforderungen, insbesondere Streßsituationen, wie sie bei Kontrolltätigkeiten qualifizierter Art in der Regel auftreten, und auch Montagearbeiten im Akkord nicht mehr gewachsen. Einfache Kontroll- und Montagearbeiten seien ihm aber nicht zumutbar. Die in dem Verfahren L 10 J 483/75 angestellten Ermittlungen hätten ergeben, daß einfache Prüf- und Montagearbeiten nur mit verhältnismäßig geringem Lohn entgolten würden und so wenig Qualifikationsmerkmale aufwiesen, daß sie Facharbeitern nicht zumutbar seien. Wegen der Schwere der Gesundheitsstörungen könne der Kläger auch nicht mehr als Werkzeugausgeber, Materialverwalter, Lagerverwalter, Apparatewärter oder Verwieger arbeiten. Der Kläger sei daher berufsunfähig.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, das LSG hätte sich zu der Feststellung gedrängt fühlen müssen, ob dem Kläger der Lohn nach der Lohngruppe 3 wegen der Bedeutung seiner Tätigkeit für den Betrieb, etwa wegen der erforderlichen Zuverlässigkeit, gezahlt wird. Das LSG habe daher die §§ 103, 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Bei der Ablehnung der Verweisung des Klägers auf einfache Prüf- und Montagearbeiten habe das LSG die sehr konkrete und aktuelle Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) außer Acht gelassen (vgl. SozR Nr. 108 zu § 1246 RVO; Die Sozialversicherung 1976, 181). Im übrigen habe das LSG Erkenntnisse aus dem Verfahren L 10 J 483/75 verwertet, die in dieses Verfahren prozessual nicht ordnungsgemäß eingebracht worden seien. Die Beklagte hätte Gelegenheit haben müssen, sich zu dem Beweisergebnis des anderen Verfahrens im Zusammenhang mit diesem Verfahren zu äußern. Das LSG habe daher die §§ 62, 128 SGG verletzt. Darüber hinaus hätte das LSG prüfen müssen, auf welche Vollzeitbeschäftigungen, die in Tarifverträgen erfaßt seien, der Kläger noch verwiesen werden könne.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG vom 29. Mai 1974 zurückzuweisen;

hilfsweise, den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet. Zusätzlich trägt er noch vor, das LSG habe über die Qualifikation der Tätigkeiten eines Archivhelfers und Bürohelfers keine weiteren Feststellungen zu treffen brauchen, denn die eingeholte Arbeitgeberauskunft habe eine vergleichende Bewertung mit der früheren Facharbeitertätigkeit ermöglicht. Auch die übrigen Feststellungen des LSG seien weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht zu beanstanden.

II

Die zulässige Revision der Beklagten hat mit ihrem Hilfsantrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG Erfolg. Das angefochtene Urteil beruht auf einem - von der Beklagten gerügten - Verfahrensmangel und ist auch nicht aus anderen Gründen richtig.

Die das Urteil des LSG tragende Feststellung, einfache Prüf- und Montagearbeiten würden nur mit verhältnismäßig geringem Lohn entgolten und wiesen so wenig Qualifikationsmerkmale auf, daß sie Facharbeitern nicht zumutbar seien, stützt sich auf die Verwertung des in dem Verfahren L 10 J 483/75 gewonnenen Beweisergebnisses. Den Tatsachengerichten ist es zwar nickt verwehrt, Beweisergebnisse anderer Verfahren heranzuziehen; aus dem Grundsatz der Amtsermittlungspflicht kann sich vielmehr geradezu die Notwendigkeit hierzu ergeben. Das Beweisergebnis anderer Verfahren darf nach den §§ 62, 128 Abs. 2 SGG Jedoch nur dann verwertet werden, wenn die Beteiligten Gelegenheit hatten, sich dazu zu äußern. Das setzt voraus, daß die Beteiligten dieses Beweisergebnis nicht nur kennen, sondern auch von der Absicht des Tatsachengerichts unterrichtet worden sind, es für die notwendigen Tatsachenfeststellungen dieses Verfahrens heranzuziehen. Weder aus der Ladungsverfügung noch aus der Sitzungsniederschrift oder sonst aus den Akten geht hervor, daß dies geschehen ist. Es ist ohne Bedeutung, ob die Beteiligten dieses Verfahrens an dem anderen Verfahren beteiligt waren, auf dessen Beweisergebnis das LSG Bezug genommen hat. Wenn die Beklagte auch das Beweisergebnis in jenem Verfahren gekannt haben sollte, so brauchte sie doch nicht ohne einen entsprechenden Hinweis des Gerichts davon auszugehen, daß das Gericht das Beweisergebnis jenes Verfahrens in diesem Verfahren verwerten würde. Insbesondere die Versicherungsträger sind an vielen Verfahren beteiligt, in denen Beweise mit - unter Umständen - unterschiedlichen Ergebnissen erhoben werden. Der in Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG) und § 62 SGG enthaltene, in § 128 Abs. 2 SGG konkretisierte Grundsatz des rechtlichen Gehörs verlangt es, die Beteiligten darauf hinzuweisen, welches jener Beweisergebnisse in dieses Verfahren eingeführt werden soll. Nur dann haben sie die Möglichkeit, sich dazu zu äußern und kritisch Stellung zu nehmen.

Das angefochtene Urteil ist auch nicht aus anderen Gründen richtig. Die Annahme des LSG, die Unzumutbarkeit der einfachen Prüf- und Montagearbeiten ergebe sich aus dem zurückverweisenden Urteil des BSG, an das es gebunden sei, trifft nicht zu. Der erkennende Senat hat zwar in seinem Urteil vom 24. Oktober 1975 ausgeführt, daß Kontroll- und Prüftätigkeiten einfacher Art, die auch ohne Vorkenntnisse von jedem Arbeitnehmer nach kurzer betrieblicher Einweisung verrichtet werden können, nur dann als Verweisungstätigkeiten in Betracht kommen, wenn ihre Bedeutung durch andere Merkmale, wie zB Verantwortungsbewußtsein, so hervorgehoben sind, daß sie den angelernten Tätigkeiten gleichstehen und ebenso wie diese tariflich eingestuft sind. Er hat damit keineswegs diese Tätigkeiten für einen Facharbeiter für unzumutbar gehalten, sondern dem LSG eine nähere Prüfung der Qualitätsmerkmale aufgegeben. Das LSG wird daher zu prüfen haben, ob sich diese Tätigkeiten durch andere Qualitätsmerkmale als die erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, zB übernormale Leistungsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit, besonderes Verantwortungsbewußtsein, ausgeprägte Disziplin, Nervenkraft, Selbständigkeit des Denkens und Handelns, natürliche Autorität, Wendigkeit usw. derart aus dem Kreis der übrigen ungelernten Tätigkeiten hervorheben, daß sie wie angelernte Tätigkeiten bewertet und tariflich eingestuft werden.

In seiner erneuten Entscheidung wird das LSG auch die Zumutbarkeit der vom Kläger verrichteten Tätigkeiten eines Archivhelfers oder Bürohelfers erneut zu prüfen haben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß aus der Auskunft des Arbeitgebers, es handele sich um "Hilfsarbeitertätigkeiten mit kurzer Anlernzeit", noch nicht ohne weiteres auf die Unzumutbarkeit geschlossen werden kann. Der Begriff "Hilfsarbeitertätigkeit" wird zwar häufig für ungelernte Arbeiten ohne besondere Qualitätsmerkmale benutzt, kennzeichnet aber oft auch nur die Tatsache, daß es sich nicht um eine selbständige, sondern um eine Helfertätigkeit handelt (zB wissenschaftlicher Hilfsarbeiter). Zwar können die genannten Tätigkeiten nach den getroffenen Feststellungen schon nach kurzer Anlernzeit verrichtet werden. Daraus läßt sich jedoch nicht erkennen, wie lang und welcher Art die Anlernzeit ist. Der Umstand, daß der Arbeitgeber den Kläger in die Tarifgruppe 3 eingestuft hat, in die nur solche qualifizierte angelernten Arbeiten gehören, die Arbeitskenntnisse und Handfertigkeiten erfordern, wie sie durch eine systematische Zweckausbildung erreicht werden, spricht dafür, daß die genannten Tätigkeiten durchaus Qualitätsmerkmale aufweisen, die sie als zumutbar erscheinen lassen. Die Einstufung einer Tätigkeit durch den Arbeitgeber ist zwar dann nicht entscheidend, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß sie entgegen den in den Tarifverträgen enthaltenen Tätigkeitsmerkmalen - etwa vergönnungsweise - erfolgt ist. Entscheidend ist also nicht die Bewertung einer Tätigkeit durch den Arbeitgeber, sondern der objektive Wert der Tätigkeit, wie er am besten aus der Bewertung durch die Tarifpartner in den Tarifverträgen zum Ausdruck kommt.

Das LSG wird auch seine Feststellung, der Kläger sei aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, die Tätigkeiten eines Werkzeugausgebers, Materialverwalters, Lagerverwalters, Apparatewärters oder Verwiegers zu verrichten, zu überprüfen haben. Zu dieser Frage ist bisher weder ein medizinischer noch ein berufskundlicher Sachverständiger gehört worden. Sollte das LSG die notwendige Sachkunde haben, diese Frage selbst zu beurteilen, so wird es die Quellen dieser Sachkunde darzulegen haben.

Der Senat hat das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen, weil er mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen nicht in der Sache entscheiden konnte.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil Vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649248

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge