Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfolgungsbedingter Auslandsaufenthalt nach dem 8.5.1945 als Ersatzzeit. wesentliche Bedingung. Kausalzusammenhang
Orientierungssatz
Eine Auswanderung nach dem 8.5.1945 kann nur dann zur Berücksichtigung des Auslandsaufenthaltes als Ersatzzeit führen, wenn hierfür Nachwirkungen von Verfolgungsmaßnahmen als wesentliche Bedingung mitbestimmend waren. Auf den Kausalzusammenhang zwischen Auslandsaufenthalt mit Maßnahmen der Verfolgung kann nicht verzichtet werden (vgl BSG 22.9.1983 4 RJ 81/82 = SozR 2200 § 1251 Nr 106).
Normenkette
AVG § 28 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1251 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 24.06.1985; Aktenzeichen L 4 An 122/84) |
SG Köln (Entscheidung vom 30.04.1984; Aktenzeichen S 2 An 11/83) |
Tatbestand
Streitig ist die Berücksichtigung der Zeit von März 1948 bis Dezember 1949 als Ersatzzeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes (§ 28 Abs 1 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG-).
Die 1917 geborene Klägerin, eine jüdische Verfolgte, befand sich von Dezember 1941 bis Januar 1945 zusammen mit ihrer Mutter in einem Konzentrationslager in Riga/Lettland. Nach ihrer Rückkehr an den früheren Wohnort Köln war sie arbeitsunfähig krank, arbeitslos und ab 1947 als Aushilfskraft tätig. Im Februar 1948 übersiedelte sie mit ihrer Mutter nach Israel; 1957 kam sie nach Köln zurück.
Die Beklagte lehnte es ab, bei der Berechnung des Altersruhegeldes auch die Zeit ab März 1948 bis Ende 1949 zu berücksichtigen. Die Klägerin sei erst nach Beendigung des Krieges ausgewandert; um einen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalt habe es sich somit nicht mehr gehandelt (Bescheid vom 5. April 1983, Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1983).
Die dagegen gerichtete Klage haben das Sozialgericht (SG) und das Landessozialgericht (LSG) abgewiesen (Urteile vom 30. April 1984 und 24. Juni 1985). Das LSG meint, für den Aufenthalt in Israel fehle es an einem Kausalzusammenhang mit der Verfolgung (Hinweis auf SozR Nr 46 zu § 1251 RVO). Nach dem Kriege sei der Klägerin das Verbleiben in Deutschland nicht erschwert worden; auf seelische Empfindungen könne es nicht allein ankommen. Daß sie ohne Ausreise weiteren Schaden an der Gesundheit erlitten hätte, sei nicht zu erkennen. Die Entschädigungsbehörde habe festgestellt, sie habe ihre Beschäftigung im Februar 1948 ohne zwingenden Grund aufgegeben und sei freiwillig ausgereist. Die Verzögerung der Ausreise begründe den erforderlichen Kausalzusammenhang nicht. Es sei nicht entscheidend, ob die Verzögerung verfolgungsbedingt gewesen sei, sondern ob die Ausreise zum tatsächlichen Zeitpunkt auf Verfolgungsmaßnahmen beruht habe. Der Hinweis der Klägerin, sie habe erst 1946 erfahren, daß ihre totgeglaubte Schwester in Palästina lebe, stelle eine ursächliche Verknüpfung zwischen Verfolgungsmaßnahmen und Auswanderung nicht her.
Mit der vom LSG wegen der Frage zugelassenen Revision, wann dargetan sei, daß der Auslandsaufenthalt durch Nachwirkungen früherer Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen wurde, rügt die Klägerin eine unrichtige Auslegung von § 28 Abs 1 Nr 4 AVG. Die Auffassung, ein nach Kriegsende begonnener Auslandsaufenthalt könne nur dann als Ersatzzeit anerkannt werden, wenn die Ausreise erzwungen worden sei, stehe im Widerspruch zu SozR 2200 § 1251 Nr 106. Das LSG habe im wesentlichen unberücksichtigt gelassen, daß der Aufenthalt der totgeglaubten Schwester in Palästina eine entscheidende ursächliche Verknüpfung von Verfolgungsmaßnahmen und Auswanderung ergebe. Ihre Mutter und sie hätten den dringenden Wunsch gehabt, mit der Schwester zusammenzuleben; bis 1948 habe die englische Hoheitsverwaltung die Einreise nach Palästina nicht gestattet.
Die Klägerin beantragt, die vorinstanzlichen Urteile sowie die Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 1. März 1948 bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit rentenerhöhend zu berücksichtigen.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die vom LSG uneingeschränkt zugelassene und daher ungeachtet der von ihm hierfür gegebenen Begründung, an die der Senat nicht gebunden ist (SozR Nr 170 zu § 162 SGG; SozR 1500 § 160 Nr 21) insoweit zulässige Revision, die entgegen der Beklagten auch im Hinblick auf § 164 Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einem Formmangel nicht unterliegt, kann in der Sache keinen Erfolg haben. Die Zeit vom 1. März 1948 bis zum 31. Dezember 1949 kommt der Klägerin als weitere Ersatzzeit nicht zugute.
Nach § 28 Abs 1 Nr 4 AVG in der seit dem 1. Februar 1971 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 - BGBl I 1846 - werden für die Erfüllung der Wartezeit, aber auch für die Rentenhöhe (§ 35 AVG) als Ersatzzeiten Zeiten eines Auslandsaufenthaltes bis zum 31. Dezember 1949 angerechnet, sofern dieser durch Verfolgungsmaßnahmen iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) hervorgerufen worden ist, wenn der Versicherte Verfolgter iS des § 1 BEG ist. Die Verfolgteneigenschaft der Klägerin steht außer Streit, auch hat sie sich innerhalb des zeitlichen Rahmens im Ausland aufgehalten. Ihr Auslandsaufenthalt wurde indes nicht durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen.
Mit der Frage, ob ein ausschließlich nach dem 8. Mai 1945 liegender Auslandsaufenthalt eine Ersatzzeit iS von § 28 Abs 1 Nr 4 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) darstellen kann, hat sich das Bundessozialgericht (BSG) mehrfach befaßt. In SozR Nr 46 zu § 1251 RVO hat es - noch zur Fassung des Gesetzes vor dem 1. Februar 1971 - dargelegt, es sei nicht ausgeschlossen, daß über das Kriegsende hinaus fortdauernde oder später eingetretene Nachwirkungen nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen im Einzelfall erst in der Nachkriegszeit Anlaß zur Auswanderung gegeben hätten. In einem solchen Falle dürfte zwischen Verfolgungsmaßnahmen und Auslandsaufenthalt ein Kausalzusammenhang bestehen. Er könne für die Zeit, in der in Deutschland keine nationalsozialistische Verfolgung mehr stattfinden konnte, jedoch nicht mehr unterstellt werden (s hierzu auch SozR 2200 § 1251 Nr 49 S 123), vielmehr nur dann eine Ersatzzeit sein, wenn dargetan sei, daß er durch Nachwirkungen früherer Verfolgung hervorgerufen worden sei. Dieser Gedankengang ist in SozR 2200 § 1251 Nr 106 aufgenommen und dahin ergänzt worden, daß es zur Annahme einer wesentlichen Bedingung nicht schon ausreiche, die frühere Verfolgung als Auswanderungsmotiv zu behaupten; vielmehr müßten den Auswanderungsentschluß maßgebend bestimmende objektive Umstände vorhanden sein. Auch spiele bei Nachkriegsauswanderungen der zeitliche Zusammenhang indiziell eine Rolle; der Verfolgte müsse sobald wie möglich nach dem 8. Mai 1945 seine Auswanderung betrieben haben. Der erkennende Senat ist der Ansicht gefolgt, daß im Rahmen von § 28 Abs 1 Nr 4 AVG im Hinblick auf den Auslandsaufenthalt auf den Kausalzusammenhang mit Maßnahmen der Verfolgung nicht verzichtet werden könne. Insoweit hat er - für die jetzige Fassung der Vorschrift - noch auf die BT-Drucks VI/715 (S 12) hingewiesen; nach der dortigen Begründung stelle das Gesetz klar, daß der Auslandsaufenthalt durch Verfolgungsmaßnahmen verursacht sein müsse (SozR 2200 § 1251 Nr 35; s ferner auch Nr 17 S 52).
Die Entscheidung des LSG ist auf der Grundlage dieser Rechtsprechung ergangen. Gegen die tatsächlichen Feststellungen, auf die sich das rechtliche Ergebnis, ein Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Auswanderung sei zu verneinen, stützt, sind Revisionsrügen nicht erhoben worden. Infolgedessen ist der Senat daran gebunden (§ 163 SGG), daß weder verfolgungsbedingte Gesundheitsschäden noch das Verhalten der Umwelt die Auswanderung wesentlich mitbestimmt haben, die Klägerin ihre Beschäftigung ohne zwingenden Grund aufgegeben hat und freiwillig ausgereist ist. Nicht zu beanstanden ist, daß das LSG für einen Kausalzusammenhang die seelische Situation nicht hat genügen lassen. Da es sich insoweit um einen inneren Vorgang oder Zustand handelt, bedarf es zunächst schon - hier nicht erkennbar vorhandener - äußerer Anzeichen, durch die sich psychische Bedrängnis zu offenbaren vermag. Darüber hinaus reicht es für die erforderliche wesentliche Bedingung nicht aus, insoweit ohne weiteres auf die frühere Verfolgung zu verweisen; damit ist das von der Rechtsprechung verlangte Vorhandensein objektiver, den Auswanderungsentschluß maßgebend bestimmender Umstände (SozR 2200 § 1251 Nr 106) nicht dargelegt.
Solche Umstände sind auch nicht darin zu sehen, daß die Klägerin - zusammen mit ihrer kranken Mutter - zu der totgeglaubten Schwester wollte. Das mag den Auswanderungswunsch, wie die Klägerin vorgetragen hat, verstärkt haben. Ob das genügen konnte, einen solchen Entschluß maßgebend zu bestimmen, ist indes zu bezweifeln. Jedenfalls kann nicht angenommen werden, daß der zusätzliche neue Impuls noch wesentlich auf den Verfolgungsmaßnahmen beruht hat, letztlich also die Verfolgung nicht hinweggedacht werden könnte, ohne daß der Wunsch entfiele, die Schwester in Palästina wiederzusehen. Ein Motiv der Art, wie es hier gegeben ist, wurzelt nach der Lebenserfahrung in erster Linie in der persönlichen Sphäre. Der früheren Verfolgung vermag dabei in aller Regel nur die Rolle eines unmaßgeblichen Begleitumstandes zuzukommen. Daß es hier anders war, ist nicht ersichtlich.
Ist ein Kausalzusammenhang iS der wesentlichen Bedingung zwischen Verfolgung und 1948 erfolgter Auswanderung hiernach nicht als gegeben zu erachten, dann kommt dem zeitlichen Zusammenhang, sollte er wegen der besonderen politischen Verhältnisse in Palästina noch gegeben gewesen sein, keine erhebliche Bedeutung zu. Vermag er als ein bloßes Indiz das rechtliche Ergebnis nur schwerlich zu verändern, kommt noch hinzu, daß der Klägerin die Möglichkeit zu Gebote stand, die britisch besetzte Zone nach dem 8. Mai 1945 zu verlassen und ihren Aufenthalt außerhalb Deutschlands zu nehmen, bis eine Einwanderung nach Palästina stattfinden durfte.
Nach alledem stellen sich die Bescheide der Beklagten als rechtmäßig dar. Das führte zur Bestätigung der vorinstanzlichen Urteile und zur Zurückweisung der Revision.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen