Leitsatz (amtlich)
1. Mit § 1 VuVO soll eine durch Krieg und Kriegsfolgen entstandene Beweisnot gemildert, nicht aber von dem Grundsatz des Anspruchsnachweises auch sonst und insbesondere dann abgegangen werden, wenn Fehlverhalten des Versicherungsträgers in Frage kommen kann.
2. Es gibt keinen Rechtssatz, daß die nachgewiesene Beschäftigung die Entrichtung von Beiträgen glaubhaft werden läßt.
Normenkette
VuVO § 1 Abs 1 S 1, § 1 Abs 2, § 10
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 17.12.1984; Aktenzeichen L 4 An 148/82) |
SG Köln (Entscheidung vom 23.04.1982; Aktenzeichen S 6 An 114/79) |
Tatbestand
Der 1918 geborene Kläger, ein anerkannter Verfolgter, wanderte 1939 nach Palästina aus und lebt seit 1971 wieder in Deutschland. 1975 beantragte er, für die Zeit vom 1. März 1933 bis zum 31. Juli 1938 Versicherungsunterlagen wiederherzustellen. Während dieser Zeit war er zunächst drei Jahre als kaufmännischer Lehrling, im übrigen als Angestellter in einem jüdischen Großhandelsunternehmen beschäftigt. Die Beklagte, die bei Suchaktionen der Stufen II und III keine Versicherungsunterlagen über den Kläger fand, lehnte den Antrag ab; in ihrem insoweit vollständig erhaltenen Archiv hätte mindestens eine Versicherungskarte liegen müssen (Bescheid vom 1. November 1977, Widerspruchsbescheid vom 8. März 1979).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Zeit als nachgewiesene Beitragszeit vorzumerken (Urteil vom 23. April 1982), das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil dahin geändert, daß die Zeit von März 1933 bis Februar 1936 als glaubhaft gemachte Lehrlingszeit, bis Juli 1938 als glaubhaft gemachte Beitragszeit nach der Leistungsgruppe B 4 der Anlage 1 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) zu berücksichtigen und die weitergehende Klage abzuweisen sei (Urteil vom 17. Dezember 1984). Der Kläger gehöre zwar nicht zu dem von § 1 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 VuVO begünstigten Personenkreis, weil seine Unterlagen, zwei aufgerechnete Karten, in dem erhalten gebliebenen Archiv aufzubewahren gewesen seien. Aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens sei jedoch in der fraglichen Zeit ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nachgewiesen und iS von § 10 VuVO überwiegend wahrscheinlich, daß die entsprechenden Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet wurden. Alles spreche für, nichts aber gegen eine Beitragsentrichtung. Bei einer so eindeutigen Beweislage müsse die "negative Beweiskraft" des Archivs als durchbrochen gelten, ohne daß die konkrete Feststellung getroffen werden könne, warum und auf welche Weise die aufzubewahrenden Karten vernichtet oder sonstwie abhanden gekommen seien. Das Verlangen einer solchen Feststellung wäre eine unerträgliche Überspannung der Beweisanforderungen. Kriegseinwirkungen, die Auslagerung und der Rücktransport des Archivs hätten naturgemäß bei aller Sorgfalt Verlustmöglichkeiten mit sich gebracht.
Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine unzutreffende Analogie zu § 1 Abs 2 VuVO. Sei keiner der in § 1 Abs 1 und 2 VuVO erwähnten Verlusttatbestände erfüllt, so komme die Glaubhaftmachung bei einer unmittelbaren Gesetzesanwendung nicht zum Zuge. Für eine Analogie, daß in Fällen, in denen sich der möglicherweise kriegsbedingte Verlust von Unterlagen nicht aufklären lasse, eine Glaubhaftmachung der Beitragsentrichtung zulässig sei, wenn eine versicherungspflichtige Beschäftigung nachgewiesen werde, bestehe kein Anlaß. Die negative Beweiskraft des Archivs könne nur bei vollem Nachweis einer Beitragsentrichtung durchbrochen werden.
Die Beklagte beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist dahin begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Das Urteil kann nicht aufrechterhalten werden; für eine anderweitig abschließende Entscheidung fehlen indes die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen.
Der Kläger begehrt die Wiederherstellung der Versicherungsunterlagen für Beitragszeiten vom 1. März 1933 bis 31. Juli 1938. Rechtsgrundlage hierfür ist § 11 Abs 1 VuVO; danach sind auf Antrag des Versicherten die Versicherungsunterlagen auch außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens wiederherzustellen.
Nach den vorhandenen Feststellungen des LSG ist davon auszugehen, daß die betreffenden Beitragszeiten nicht nachgewiesen sind (§ 135 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes -AVG-). Zwar heißt es im Urteil an einer Stelle, es spreche alles für, nichts aber gegen eine Beitragsentrichtung für den Kläger während der in Rede stehenden Zeit. Daß mit dieser Wendung entgegen ihrer landläufigen Bedeutung aber nicht der gelungene Nachweis umschrieben werden sollte, belegen der Tenor und mehrfach die Begründung der Entscheidung, es sei iS von § 10 VuVO als überwiegend wahrscheinlich anzusehen, daß die entsprechenden Beiträge zur Angestelltenversicherung entrichtet worden seien; eine Beitragsentrichtung sei daher glaubhaft gemacht.
Die Glaubhaftmachung von Beitragszeiten läßt unter bestimmten dort festgelegten Voraussetzungen § 1 VuVO zu. Von dieser Vorschrift ist das LSG ausgegangen, wenngleich es - nach Aufführung von § 1 Abs 2 VuVO - darauf hingewiesen hat, der Kläger gehöre nicht "zu diesem Personenkreis". Hält es danach § 1 Abs 2 VuVO für unanwendbar auf den Kläger, so will es ihm die Beweiserleichterung (nach § 1 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 iVm § 10 VuVO) gleichwohl zubilligen, weil er den "Gegenbeweis" erbracht habe. Darin vermag der Senat dem LSG nicht zu folgen.
Da das Karten- oder Kontenarchiv der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) nur in Teilen vernichtet und im übrigen zugänglich ist, könnte die Glaubhaftmachung der rechtserheblichen Tatsachen (§ 1 Abs 1 Satz 1 VuVO) nur genügen, wenn entweder die Unterlagen in dem vernichteten Teil des Karten- oder Kontenarchivs aufzubewahren gewesen sind (§ 1 Abs 2 VuVO) oder wenn glaubhaft gemacht ist, daß die Versicherungskarte beim Arbeitgeber oder Versicherten oder nach den Umständen des Falles auf dem Wege zum Versicherungsträger zerstört, verlorengegangen oder unbrauchbar geworden ist (§ 1 Abs 1 Satz 2 VuVO).
Der Tatbestand des im angefochtenen Urteil allein erörterten § 1 Abs 2 VuVO setzt voraus, daß die Versicherungskarten des Klägers - laut der Entscheidung des LSG zwei Karten - in dem vernichteten Teil des Archivs der RfA "aufzubewahren gewesen sind". Das hat das LSG nicht festgestellt, sondern im Gegenteil darauf hingewiesen, die Unterlagen seien in dem erhalten gebliebenen Teil aufzubewahren gewesen. Dennoch hat es eine Glaubhaftmachung zugelassen, obschon die konkrete Feststellung nicht getroffen werden könne, warum und auf welche Weise die Karten vernichtet oder "sonstwie abhanden gekommen" seien. Diese Auffassung ist rechtsirrig. Ist Vermutungen Raum gegeben, daß die Unterlagen bei der RfA in dem erhaltenen Archivteil oder in den später vernichteten Teil falsch abgelegt worden sind, kommt § 1 VuVO nicht, auch nicht in entsprechender Anwendung, zum Zuge. Wie der Senat im Urteil vom 15. Oktober 1985 - 11a RA 38/84 - ausgeführt hat, bezieht sich die Vorschrift auf solche Tatbestände nicht. Vielmehr will sie - in den von ihr genannten Fällen - eine den Versicherten durch Krieg und Kriegsfolgen entstandene Beweisnot mildern, nicht aber von dem Grundsatz, daß die Anspruchsvoraussetzungen nachgewiesen werden müssen, auch sonst und insbesondere dann abgehen, wenn das Fehlverhalten eines Bediensteten des Versicherungsträgers in Frage kommen kann. Eine solche Rechtsanwendung stünde im Widerspruch nicht nur zum Wortlaut, sondern auch zu Sinn und Zweck von § 1 VuVO (vgl dazu BSGE 30, 76 = SozR Nr 4 zu § 1 VuVO). Mit dem vom LSG im weiteren gegebenen Hinweis auf "Verlustmöglichkeiten" durch Einwirkungen des Krieges, Auslagerung und Rücktransport des Archivs wird ein unter § 1 Abs 2 VuVO fallender Tatbestand nicht festgestellt. Erörterungen bloßer Möglichkeiten reichen dafür nicht aus (BSGE 30, 76, 79).
Mit dem festgestellten Nachweis des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses läßt sich - in entsprechender Anwendung von § 1 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 VuVO - zur Zulassung der Glaubhaftmachung für eine Beitragsentrichtung nicht gelangen. Es gibt keinen aus § 1 VuVO herzuleitenden oder allgemeinen Rechtssatz, daß die nachgewiesene Beschäftigung die Entrichtung von Beiträgen glaubhaft werden läßt. Eine Beweisregel, daß bei nachgewiesenem Beschäftigungsverhältnis auch die Beitragsentrichtung für nachgewiesen zu gelten habe, ist darüber hinaus nicht vorhanden (s hierzu SozR Nr 1 zu § 1 VuVO); soweit ist das LSG ersichtlich auch nicht gegangen.
Hiernach war das angefochtene Urteil aufzuheben. Da das LSG zu den in § 1 Abs 1 Satz 2 VuVO aufgeführten Tatbeständen, zu denen sich der Kläger wiederholt eingelassen hat, keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat und der erkennende Senat daher über deren Anwendung nicht entscheiden kann, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen