Leitsatz (amtlich)
Auch der Rückforderungsbescheid, in dem "nachgelassen" ist, die Rückzahlung in Raten vorzunehmen, ist ein Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung; seine Rechtmäßigkeit ist nach der Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten Verwaltungsentscheidung zu beurteilen (Fortführung BSG 1958-02-12 11/9 RV 948/55 = BSGE 7, 8).
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Versorgungsbehörde muß sich, nachdem sie festgestellt hat, daß Versorgungsbezüge "zu Unrecht" gewährt worden sind, innerhalb einer angemessenen Frist entscheiden, ob sie den Rückforderungsanspruch geltend machen will oder nicht; sie darf nicht - um zunächst die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse des "Empfängers" abzuwarten - die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs ungebührlich lange verzögern, die Rechtslage in der Schwebe halten und "den Empfänger" im unklaren darüber lassen, ob die "Überzahlung" auszugleichen ist oder nicht; tut sie es dennoch, so muß sie damit rechnen, daß ihre Rückzahlungsanordnung im Streitfall als nicht mehr pflichtgemäßem Verwaltungsermessen entsprechend angesehen und deshalb als rechtswidrig gewertet wird (Vergleiche BSG 1958-06-19 11/9 RV 1108/55 = BSGE 7, 226).
2. Die Versorgungsbehörde darf deshalb auch nicht "jederzeit" ohne weiteres "neue" Rückforderungsbescheide erlassen, sobald sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des "Empfängers" bessern.
Normenkette
KOVVfG § 47 Fassung: 1955-05-02; SGG § 54 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. April 1960 wird aufgehoben; die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 20. September 1955 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Das Versorgungsamt (VersorgA) G... stellte mit Bescheid vom 24. Oktober 1952 die Versorgungsbezüge des Klägers nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) fest (Umanerkennung); es stellte dabei die Versorgungsbezüge, die dem Kläger unter Berücksichtigung einer rückwirkend bewilligten Knappschaftsrente zugestanden haben, den bisher geleisteten Zahlungen gegenüber und errechnete für die Zeit vom 1. September 1950 bis 30. November 1952 eine "Überzahlung" von 2. 128.-- DM; diesen Betrag forderte das VersorgA von dem Kläger zurück; es verfügte ferner, der "überzahlte" Betrag sei in Raten von 30.-- DM monatlich mit den laufenden Versorgungsbezügen des Klägers zu verrechnen. Den Einspruch des Klägers wies der Beschwerdeausschuß des VersorgA am 19. Februar 1953 zurück.
Mit der Klage machte der Kläger geltend, er habe die Versorgungsbezüge, die ihm ausgezahlt worden seien, "in dem guten Glauben, daß sie ihm uneingeschränkt zugestanden hätten", ausgegeben; die Rückerstattung sei ihm auch wegen seiner schlechten wirtschaftlichen Lage nicht zuzumuten.
Das Sozialgericht (SG) Münster hob mit Urteil vom 20. September 1955 den Bescheid vom 24. Oktober 1952 insoweit auf, als darin festgestellt wurde, der Kläger habe 2. 128.-- DM zurückzuerstatten.
Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 13. April 1960 das Urteil des SG Münster vom 20. September 1955 auf und wies die Klage ab. Das LSG führte aus, der Rückforderungsanspruch sei nach § 47 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) zu beurteilen; der Kläger habe nach den Auskünften, die ihm von dem VersorgA erteilt worden seien, nicht gewußt und auch nicht wissen müssen, daß die Nachzahlung der Knappschaftsrente eine Kürzung seiner Versorgungsbezüge zur Folge haben werde, § 47 Abs. 2 VerwVG, 1. Halbs., könne daher die Rückforderung nicht rechtfertigen; die Rückforderung sei aber nach § 47 Abs. 2, 2. Halbs., begründet, weil die ratenweise Rückerstattung nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Klägers, insbesondere nach seinem Arbeitsverdienst von 337.-- DM und seinem sonstigen Einkommen, vertretbar sei; zwar sei die wirtschaftliche Lage des Klägers in den Jahren 1952/1953 wesentlich ungünstiger gewesen als heute, der Kläger sei damals noch nicht wieder berufstätig gewesen, er habe nur einen geringen Gelegenheitsverdienst gehabt, seine wirtschaftlichen Belastungen seien größer gewesen, er habe damals noch seine zwei Kinder unterhalten müssen, nach den damaligen wirtschaftlichen Verhältnissen des Klägers sei die Rückforderung nicht vertretbar gewesen; bei der Prüfung, ob der Rückforderungsbescheid rechtmäßig sei, sei es aber auf die Vermögenslage des Klägers zur Zeit des Urteils des LSG im Jahre 1960 angekommen. Das LSG ließ die Revision zu.
Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 3. August 1960 zugestellt. Der Kläger legte am 11. August 1960 Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG vom 13. April 1960 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Münster vom 20. September 1955 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger begründete die Revision am 27. April 1960. Er trug vor, das LSG habe § 47 VerwVG unrichtig angewandt; es habe zu Unrecht angenommen, für die Frage, ob die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers vertretbar sei, komme es auf die wirtschaftlichen Verhältnisse zur Zeit der letzten Entscheidung an.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Der Kläger hat die Revision auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Die Revision ist somit zulässig; sie ist auch begründet.
Streitig ist, ob der Bescheid des Beklagten vom 24. Oktober 1952, soweit der Beklagte darin von dem Kläger 2. 128.-- DM als "zu Unrecht empfangene Leistungen" zurückgefordert hat, rechtmäßig ist.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Rückforderungsanspruch des Beklagten nach § 47 Abs. 2 VerwVG zu beurteilen ist (vgl. BSG 3 S. 343; 6 S. 343; 11 S. 44); es hat angenommen, die "Überzahlung" habe auf einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse beruht, der Kläger habe zwar "nicht gewußt oder wissen müssen", daß ihm die gezahlten Versorgungsbezüge nicht zugestanden hätten (§ 47 Abs. 1 VerwVG, 1. Halbs.); der Beklagte habe aber den zu Unrecht gezahlten Betrag zurückfordern dürfen, weil die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers vertretbar gewesen sei (§ 47 Abs. 2 VerwVG, 2. Halbs.). Das LSG hat angenommen, für die Frage, ob die Rückforderung vertretbar sei, sei es nicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers zur Zeit des Erlasses des Rückforderungsbescheids angekommen, vielmehr sei hierfür die Vermögenslage des Klägers "zur Zeit der jeweils letzten Entscheidung" (womit die Entscheidung des Berufungsgerichts gemeint ist) maßgebend gewesen.
Der Senat vermag diesen Erwägungen nicht zu folgen.
Der Rückforderungsbescheid, dessen Aufhebung der Kläger begehrt, ist ein Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung. Für die Frage, ob Verwaltungsakte ohne Dauerwirkung, gegen die Aufhebungsklage erhoben ist, rechtmäßig oder rechtswidrig sind, kommt es auf die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt an, in dem die letzte Verwaltungsentscheidung ergangen ist (BSG 7 S. 8 [13] mit weiteren Hinweisen; Haueisen, NJW 1958 S. 1065 ff, Juristenzeitung 1960 S. 711). Auch im vorliegenden Fall kommt es darauf an, ob die Rückforderung nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Klägers zur Zeit der Entscheidung im Vorverfahren, also im Februar 1953, vertretbar gewesen ist. Hieran ändert auch nichts, daß der Beklagte gleichzeitig mit der Feststellung der Rückerstattungspflicht "verfügt" hat, der "überzahlte" Betrag werde in monatlichen Raten von den laufenden Versorgungsbezügen einbehalten. Dies ist dahin zu verstehen, daß der Beklagte dem Kläger gestattet hat, die festgestellte, an sich sofort fällige Pflicht zur Rückzahlung nicht sogleich in vollem Umfange zu erfüllen; der Kläger hat die Schuld in Raten tilgen dürfen, er hat dies aber nicht tun müssen; es hat sich insofern lediglich um eine Zahlungserleichterung gehandelt, von der Gebrauch zu machen im Belieben des Klägers gestanden hat; die Gewährung der "ratenweisen" Tilgung der Schuld hat die Feststellung der Rückerstattungspflicht selbst nicht berührt. Auch ein Rückforderungsbescheid, in dem "nachgelassen" ist, die Rückzahlung in Raten vorzunehmen, ist ein Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung, seine Rechtmäßigkeit ist nach der Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten Verwaltungsentscheidung zu beurteilen.
Die "Zweckmäßigkeitserwägungen", auf die das LSG seine Ansicht stützt, sind nicht stichhaltig. Nach der gesetzlichen Regelung des Rückforderungsanspruchs in § 47 Abs. 2 VerwvG in der Fassung vor dem Ersten Neuordnungsgesetz ("kann .... zurückgefordert werden), von der hier auszugehen ist, hatte die Versorgungsbehörde nicht beliebig lange Zeit, um rechtmäßigerweise ihren Rückforderungsanspruch geltend zu machen, vielmehr mußte auch insoweit ihre Entscheidung pflichtgemäßem Verwaltungsermessen entsprechen; die Versorgungsbehörde mußte sich, nachdem sie festgestellt hatte, daß Versorgungsbezüge "zu Unrecht" gewährt waren, innerhalb einer angemessenen Frist entscheiden, ob sie den Rückforderungsanspruch geltend machen wollte oder nicht; sie durfte nicht - um zunächst die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse des "Empfängers" abzuwarten - die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs ungebührlich lange verzögern, die Rechtslage in der Schwebe halten und "den Empfänger" im Unklaren darüber lassen, ob die "Überzahlung" auszugleichen ist oder nicht; hätte sie es dennoch getan, so hätte sie damit rechnen müssen, daß ihre Rückzahlungsanordnung im Streitfall als nicht mehr pflichtgemäßem Verwaltungsermessen entsprechend angesehen und deshalb als rechtswidrig gewertet wird (vgl. auch BSG 7 S. 226). Die Versorgungsbehörde durfte deshalb auch nicht - wie das LSG meint - "jederzeit" ohne weiteres "neue" Rückforderungsbescheide erlassen, sobald sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des "Empfängers" besserten.
Die Auffassung des Senats, daß es bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Rückforderungsbescheides, auch wenn Ratenzahlungen zugestanden werden, auf die Sachlage zur Zeit der letzten Verwaltungsentscheidung ankommt, führt selbst dann nicht zu einem unangemessenen Ergebnis, wenn - umgekehrt wie hier - die Rückforderung zwar zur Zeit der Verwaltungsentscheidung vertretbar gewesen ist, wenn sie aber bei Erlaß des Urteils - weil sich inzwischen die wirtschaftlichen Verhältnisse des "Empfängers" zu seinem Nachteil geändert haben - nicht mehr vertretbar ist. Auch in diesem Fall kann es für die Frage, ob die Feststellung der Rückerstattungspflicht recht mäßig gewesen ist oder nicht, grundsätzlich nicht darauf ankommen, ob der "Empfänger" im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung den Rückforderungsanspruch ganz oder teilweise nicht erfüllt hat; nur wenn der Anspruch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht voll erfüllt wäre, wäre überhaupt daran zu denken, auf die wirtschaftliche Lage in diesem Zeitpunkt abzuheben; es darf aber der Schuldner, der einen Anspruch nicht befriedigt hat, obwohl er ihn nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen hätte befriedigen können, nicht günstiger gestellt werden als der Schuldner, der unter gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen den erhobenen Anspruch alsbald befriedigt hat.
Das LSG hat hiernach zu Unrecht angenommen, für die Frage, ob die Rückforderung vertretbar ist i. S. des § 47 Abs. 2 VerwVG, 2. Halbs., komme es nicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers im Zeitpunkt der (letzten) Verwaltungsentscheidung an; auf diesem Rechtsirrtum beruht seine Entscheidung. Die Revision ist deshalb begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben. Das Bundessozialgericht kann nach § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Sache selbst entscheiden. Die Feststellungen, die das LSG über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers in den Jahren 1952 und 1953, also zur Zeit des Erlasses des Rückforderungsbescheides und der Zurückweisung des Einspruchs getroffen hat, reichen hierfür aus. Das LSG hat u. a. festgestellt, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers seien in den Jahren 1952/1953 wesentlich ungünstiger gewesen als heute, der Kläger sei damals noch nicht wieder berufstätig gewesen, er habe außer seiner Rente nur ein geringes Gelegenheitseinkommen gehabt, er habe damals noch seine zwei Kinder unterhalten müssen, und er sei auch sonst noch mit besonderen Verpflichtungen belastet gewesen. Hieraus ist insoweit in Übereinstimmung mit dem LSG zu schließen, daß die Rückforderung nach der damaligen gesamten wirtschaftlichen Lage des Klägers nicht vertretbar i. S. des § 47 Abs. 2 VerwVG, 2. Halbs., gewesen ist (vgl. auch BSG 11 S. 44).
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Münster, das den Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 24. Oktober 1952 als rechtswidrig aufgehoben hat, ist daher unbegründet. Die Berufung ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NJW 1961, 751 |
DVBl. 1961, 640 |