Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Frage, ob eine "Änderung" iS des BVG § 62 Abs 1 eingetreten ist, kommt es nicht nur darauf an, ob eine Änderung in den in dem früheren Bescheid festgestellten (anerkannten) Schädigungsfolgen eingetreten ist.
"Verhältnisse" iS des Abs 1 sind alle tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen, die zu dem früheren Bescheid geführt haben.
Die tatsächlichen Voraussetzungen und damit auch die rechtlichen des Anspruchs können sich dadurch ändern, daß neue Leiden geltend gemacht werden, die bisher nicht als Schädigungsfolgen festgestellt sind.
2. Der Kläger darf neue Leiden auch noch während des gerichtlichen Verfahrens geltend machen, er darf seinen Klageantrag erweitern (SGG § 99 Abs 3, § 153 Abs 1), er darf auch Gründe, die seinen Anspruch auf höhere Rente wegen Änderung in den Verhältnissen nach seiner Meinung rechtfertigen, "nachschieben" (vergleiche BSG 1958-02-11 10 RV 657/56 = BSGE 6, 297).
3. Das Gericht darf nach SGG §§ 103, 128 seine Ermittlungen nicht auf den Sachverhalt beschränken, den die Versorgungsbehörde in dem angefochtenen Bescheid berücksichtigt hat; es muß auch die Umstände prüfen, die nach der Meinung des Klägers und nach dem sonstigen Sachverhalt erheblich sein können; es darf geltend gemachte neue Leiden nicht der Nachprüfung und Entscheidung der Versorgungsbehörde überlassen.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20; SGG § 54 Fassung: 1953-09-03, § 99 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03, § 153 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 17. März 1960 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger wurde am 9. Februar 1945 durch einen Granatsplitter am rechten Unterschenkel verwundet. Durch Bescheid vom 7. August 1954 bewilligte ihm deshalb das Versorgungsamt (VersorgA) H. eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. Im August 1957 beantragte er, seine Rente nach einer MdE um 50 v.H. zu erhöhen und eine Zellgewebsentzündung am rechten Unterschenkel als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen. Das VersorgA lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 11. Oktober 1957 ab, da keine wesentliche Änderung in den Befunden eingetreten sei, das Erysipel am rechten Unterschenkel stelle nur eine vorübergehende Krankheit dar; in diesem Bescheid bezeichnete das VersorgA die anerkannten Leiden nunmehr mit 1. Schädigung des rechten Wadenbeines, 2. Narben am rechten Unterschenkel nach Schußbruch, 3. geringe Formveränderung des äußeren Fußknöchels links. Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 3.5.1958). Auf die Klage hin verurteilte das Sozialgericht (SG) Schleswig den Beklagten, ab 1. August 1957 Versorgungsrente nach einer MdE um 40 v.H. zu gewähren, im übrigen wies es die Klage ab (Urteil vom 2.7.1959). Im Berufungsverfahren machte der Kläger noch geltend, die Kraft des rechten Unterarms sei infolge einer Schädigung herabgesetzt, außerdem müsse bei der MdE sein Beruf als ambulanter Händler berücksichtigt werden. Er beantragte, Rente nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren und Gutachten eines Dermatologen über die Hauterkrankung und eines Nervenarztes über die Schwäche des rechten Arms einzuholen. Das Landessozialgericht (LSG) Schleswig wies die Berufung zurück (Urteil vom 17.3.1960): Die Schädigungsfolgen seien mit einer MdE um 40 v.H. sehr weitgehend bewertet, damit sei auch die Tätigkeit vor und nach der Schädigung berücksichtigt. Die Entzündungserscheinungen am rechten Unterschenkel seien seit Sommer 1957 nicht mehr aufgetreten, auch bei der Untersuchung 1959 seien sie nicht mehr festgestellt worden, unter diesen Umständen sei es versorgungsrechtlich unerheblich, auf welche Ursachen sie zurückzuführen seien; die Einholung eines Gutachtens sei daher nicht notwendig. Auch ein Gutachten eines Nervenfacharztes sei nicht erforderlich. In dem anhängigen Verfahren gehe es darum, ob sich die bereits anerkannten Schädigungsfolgen verschlimmert hätten; ob die während des Berufungsverfahrens erstmals geltend gemachten Narben am Unterarm Schädigungsfolgen seien, bedürfe noch der Nachprüfung und Entscheidung der Versorgungsbehörde.. Wegen der Schädigung der Beinnerven liege bereits ein Gutachten aus dem Jahre 1954 vor, nach der eigenen Darstellung des Klägers hätten sich die Verhältnisse insoweit nicht geändert. Das LSG ließ die Revision nicht zu.
Gegen das am 6. August 1960 zugestellte Urteil legte der Kläger am 12. August 1960 Revision ein und begründete sie am 5. November 1960, nachdem die Begründungsfrist bis zum 7. November 1960 verlängert worden war.
Er rügte Verletzung der §§ 103, 157 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG): Das LSG habe seine Aufklärungspflicht verletzt, weil es über die Natur der Hauterkrankung keinen Facharzt gehört, sondern sich mit dem Gutachten eines Chirurgen begnügt habe. Es habe den Streitfall auch nicht in vollem Umfang behandelt, weil es nicht geprüft habe, ob die Narben am rechten Unterarm Folgen einer Schädigung seien.
Der Kläger beantragte,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 17. März 1960 aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Für die Frage, ob die Revision statthaft ist, kann dahingestellt bleiben, ob das LSG - wie der Kläger meint - keine ausreichenden medizinischen Unterlagen gehabt hat um festzustellen, die Hauterkrankung am rechten Unterschenkel hänge mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht zusammen, sie sei daher für die Frage, ob eine Änderung in den Verhältnissen (§ 62 Abs. 1 BVG) eingetreten sei, nicht erheblich. Die Revision ist jedenfalls deshalb statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, weil der Kläger zu Recht rügt, das LSG habe die Frage, ob die vom Kläger geltend gemachten "Schäden am rechten Unterarm (Herabsetzung der groben Kraft infolge Nervenschädigung)" Folgen des Wehrdienstes seien, zu Unrecht nicht geprüft, das Verfahren des LSG leide deshalb an einem wesentlichen Mangel.
Das LSG hat darüber zu entscheiden gehabt, ob der Bescheid des Beklagten vom 11. Oktober 1957 rechtmäßig gewesen ist; mit diesem Bescheid hat der Beklagte den Antrag des Klägers, seine Rente zu erhöhen, abgelehnt, weil eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die für die Feststellung in dem Bescheid vom 7. August 1954 maßgebend gewesen seien, nicht eingetreten sei. Für die Frage, ob eine "Änderung in den Verhältnissen" eingetreten ist, ist es nicht nur, wie das LSG meint, darauf angekommen, ob eine Änderung in den Schädigungsfolgen eingetreten ist, die in dem Bescheid vom 7. August 1954 festgestellt (anerkannt) worden sind. "Verhältnisse, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind", sind alle tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen, die zu dem früheren Bescheid geführt haben. Die tatsächlichen Voraussetzungen und damit auch die rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente können sich auch dadurch ändern, daß neue Leiden geltend gemacht werden, die bisher nicht als Schädigungsfolgen festgestellt sind. Der Kläger darf solche neuen Leiden auch noch während des gerichtlichen Verfahrens geltend machen, er darf seinen Klageantrag erweitern (§ 99 Abs. 3, § 153 Abs. 1 SGG), er darf auch Gründe, die seinen Anspruch auf höhere Rente wegen Änderung in den Verhältnissen nach seiner Meinung rechtfertigen, "nachschieben" (vgl. BSG 6 S. 297). Das Gericht hat für die Entscheidung darüber, ob der Anspruch auf eine höhere Rente nach § 62 Abs. 1 BVG begründet ist, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG), es hat sich seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden (§ 128 SGG), es darf seine Ermittlungen nicht auf den Sachverhalt beschränken, den der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid berücksichtigt hat; es muß auch die Umstände prüfen, die nach der Meinung des Klägers und nach dem sonstigen Sachverhalt erheblich sein können. Wenn das LSG dies nicht getan, sondern die Frage, ob die Schäden am Unterarm als versorgungsrechtlich erhebliche Änderung in den Verhältnissen anzusehen ist, der "Nachprüfung und Entscheidung der Versorgungsbehörde" überlassen hat, hat es seine Pflicht verletzt, den Sachverhalt insoweit zu erforschen, als er zur Entscheidung über den Anspruch des Klägers erheblich ist; es hat damit gegen § 103 SGG verstoßen.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG bei der Entscheidung darüber, ob der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid zu Recht eine Änderung in den Verhältnissen verneint hat, zu einem anderen Ergebnis kommt, wenn es in der Frage, ob die Unterarmschäden Schädigungsfolgen sind, weitere Ermittlungen anstellt. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann, da die tatsächlichen Feststellungen des LSG unvollständig sind, nicht selbst entscheiden, die Sache ist vielmehr zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Sollte sich in dem Berufungsverfahren ergeben, daß die Entzündungserscheinungen am rechten Unterschenkel, die zuletzt im August 1957 beobachtet worden sind, die aber im November 1959 von dem Facharzt für Chirurgie Dr. L... nicht haben festgestellt werden können, inzwischen wieder aufgetreten sind, so wird das LSG die Frage des ursächlichen Zusammenhangs auch dieser Störungen mit dem Wehrdienst ebenfalls zu prüfen und zu erwägen haben, ob diese Frage medizinisch ohne Zuziehung eines Hautfacharztes ausreichend geklärt werden kann.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen