Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Unzulässigkeit der Berufung, wenn die eine höhere Hinterbliebenenrente begehrende Witwe des Versicherten während des Klageverfahrens wieder heiratet.

 

Normenkette

SGG § 146 Fassung: 1958-06-25; AVG § 68 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1291 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; GG Art. 6 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 19 Abs. 4 S. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 11.11.1976; Aktenzeichen III ANBf 43/76)

SG Hamburg (Entscheidung vom 19.05.1976; Aktenzeichen 10 AN 358/73)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 11. November 1976 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat der Beigeladenen deren außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist primär streitig, ob die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) gemäß § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) unzulässig ist.

Die Beigeladene war mit dem am 17. Dezember 1971 verstorbenen Versicherten Karl M bis zur rechtskräftigen Scheidung der Ehe am 6. Februar 1945 verheiratet gewesen. Am 19. März 1953 hatte der Versicherte die Klägerin geheiratet. Nach seinem Tode gewährte die Beklagte sowohl der Klägerin als auch der Beigeladenen eine - jeweils gemäß § 45 Abs 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) gekürzte - Hinterbliebenenrente (Bescheide vom 11. April 1973).

Mit ihrer Klage begehrte die - seit dem 14. November 1974 wiederverheiratete - Klägerin die Zahlung der ungekürzten Witwenrente, weil die Beigeladene nach § 42 AVG keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente habe. Das SG wies die Klage ab (Urteil vom 19. Mai 1976). Das Landessozialgericht (LSG) verwarf die Berufung der Klägerin als unzulässig, weil das Rechtsmittel im Hinblick auf die Wiederverheiratung der Klägerin im November 1974 nur die Witwenrente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum betreffe und daher nach § 146 SGG ausgeschlossen sei. Durch die in dieser Hinsicht unrichtige Rechtsmittelbelehrung des SG-Urteils sei die Berufung nicht zulässig geworden. Auch liege kein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 150 Nr 2 SGG vor, wenn das SG - wie hier - die Berufung irrtümlich als nach § 143 SGG gegeben angesehen und deshalb keine Entscheidung über die Zulassung der Berufung nach § 150 Nr 1 SGG getroffen habe. Sonstige Verfahrensmängel seien nicht gerügt worden, aber auch nicht ersichtlich. Entgegen der Ansicht der Klägerin werde durch die Vorschrift des § 146 SGG und seine hier praktizierte Auslegung auch nicht Art 6 des Grundgesetzes (GG) verletzt (Urteil vom 11. November 1976).

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine unrichtige Anwendung des § 146 SGG durch das Berufungsgericht; diese verstoße auch gegen Art 6 GG.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Hamburg vom 19. Mai 1976 sowie den die Beigeladene betreffenden Bescheid der Beklagten vom 11. April 1973 aufzuheben und die Beklagte in Abänderung des die Klägerin betreffenden Bescheides vom 11. April 1973 zu verpflichten, der Klägerin bis zum November 1974 die ungekürzte Witwenrente zu zahlen; hilfsweise beantragt sie, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das LSG Hamburg zurückzuverweisen.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen übereinstimmend, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision ist nicht begründet. Das LSG hat die Berufung der Klägerin zu Recht gemäß § 158 Abs 1 SGG als unzulässig verworfen.

Nach § 146 SGG ist in Angelegenheiten der Rentenversicherungen die Berufung - ua - nicht zulässig, soweit sie nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Da die hier streitige Witwenrente der Klägerin nach § 68 Abs 1 AVG mit dem Ablauf des Monats ihrer Wiederverheiratung (November 1974) weggefallen ist, kann die gegen das Ersturteil vom 19. Mai 1976 eingelegte Berufung der Klägerin nur einen abgelaufenen Rentenzeitraum im Sinne des § 146 SGG betreffen. Daran ändert auch nichts der Umstand, daß das SG - entsprechend dem in der ersten Instanz zeitlich uneingeschränkten Klageantrag - in seinem Urteil die Tatsache der Wiederverheiratung der Klägerin unberücksichtigt gelassen hat. Auf die im Urteil des Bayerischen LSG vom 15. November 1954 (Amtsbl des Bayer Arb- und SozMin 1955, B 148) vertretene gegenteilige Rechtsauffassung kann sich die Revision nicht stützen, weil diese noch die Fassung des § 146 SGG vor dem Inkrafttreten des 2. Gesetzes zur Änderung des SGG vom 25. Juni 1958 (BGBl I 409) betrifft, nach der die Zulässigkeit der Berufung von dem Streitgegenstand des erstinstanzlichen Urteils abhängig war. Ob sich danach die Zulässigkeit der Berufung entsprechend den Ausführungen des Bayerischen LSG in dem genannten Urteil nach dem von der Vorinstanz entschiedenen Klageziel zu richten hatte, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls kommt es nach der durch das 2. Änderungsgesetz eingeführten Fassung des § 146 SGG für die Prüfung der Zulässigkeit der Berufung grundsätzlich auf den Zeitpunkt ihrer Einlegung an (so ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG -: vgl BSGE 14, 216; 16, 135; SozR Nrn 6, 8, 9 und 12 zu § 146 SGG). Die Berufung betraf aber hier bei ihrer Einlegung im Juni 1976 nur die bis zum November 1974 begrenzte Witwenrente, was durch den von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht gestellten - und diese zeitliche Einschränkung erstmals enthaltenden - Antrag ausdrücklich bestätigt wurde. Auf diesen Antrag ist aber für die Entscheidung, ob die Berufung im Sinne des § 146 SGG nur Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum betrifft, letztlich abzustellen (so Urteil des erkennenden Senats vom 29.11.1967 in SozR Nr 21 zu § 146 SGG).

Für die sonach gemäß § 146 SGG unzulässige Berufung kann es entgegen der Ansicht der Revision nicht rechtserheblich sein, daß der Senat über die Höhe der bis zum November 1974 zustehenden Witwenrente insofern "auch in die Zukunft wirkt", als die der Klägerin gemäß § 81 Abs 1 AVG gewährte Abfindung von der Höhe der bisherigen Witwenrente abhängt. Die Revision beachtet insoweit nicht genügend, daß die Abfindung im Sinne des § 81 Abs 1 AVG nicht als Vorwegzahlung kapitalisierter Rentenbezüge angesehen und behandelt werden darf, sondern gegenüber der Witwenrente einen eigenständigen Anspruch beinhaltet, was auch in der Aufzählung der Witwenrentenabfindung als selbständige Regelleistung der Versicherung (§ 12 AVG) zum Ausdruck kommt (ebenso BSG in SozR 2200 § 1302 Nr 1 unter Bezugnahme auf BSG in SozR Nr 8 zu § 1302 RVO sowie Beschluß des Großen Senats des BSG vom 21.7.1977 - GS 1/76, GS 2/76 -). Wie der erkennende Senat aber unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BSG bereits im Urteil vom 22. September 1976 (SozR 2200 § 146 Nr 2) dargelegt hat, können materiell-rechtlich und prozessual selbständige Ansprüche hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung selbst dann nicht als Einheit behandelt werden, wenn sie - wie hier - auf demselben Versicherungsfall beruhen. Die Rechtsprechung hat hiervon nur dann Ausnahmen zugelassen, wenn zwei selbständige Ansprüche derart voneinander abhängig sind, daß der eine präjudiziell für den anderen ist und die Berufung an sich lediglich für den präjudiziellen Anspruch statthaft ist (vgl hierzu Urteil des Senats vom 7.12.1977 - 1 RA 97/76 - mit weiteren Nachweisen). Eine derartige Ausnahme kommt hier aber schon deswegen nicht in Betracht, weil sowohl die eingelegte Berufung nach § 146 SGG nicht statthaft ist, als auch die Berufung gegen ein den Abfindungsanspruch betreffendes Urteil gemäß § 144 Abs 1 Nr 1 SGG nicht zulässig wäre.

Dem weiteren Vorbringen der Revision, "die im Berufungsurteil vertretene Auffassung zu § 146 SGG" verstoße gegen Art 6 Abs 1 GG kann ebenfalls nicht zugestimmt werden. Das in dieser Verfassungsnorm enthaltene Verbot, Ehe und Familie zu schädigen, wird durch die hier zu prüfende Regelung nicht verletzt, weil sie das Bestehen einer Ehe und Familie nicht zum Anlaß wirtschaftlich nachteiliger Folgen für einen Ehegatten oder Familienangehörigen nimmt (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 2.12.1975 in SozR 2200 § 1268 Nr 6 unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG -). Der Revision ist zwar einzuräumen, daß die Berufungsbeschränkungen der §§ 144 bis 149 SGG entgegen den ursprünglichen Intentionen des Gesetzgebers nicht nur Bagatellsachen erfassen und deshalb änderungsbedürftig erscheinen (vgl hierzu Meyer-Ladewig, SGG, 1977, Anm 1 zu § 144). Insoweit obliegt indes die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise auch eine dem Art 6 Abs 1 GG adäquate Regelung vorzunehmen ist, der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (vgl hierzu die bei Meyer-Ladewig aaO in Vorbemerkung 18 vor § 143 erwähnten Vorschläge des von der Bundesregierung eingesetzten Koordinierungsausschusses zur Vereinheitlichung der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und des SGG).

Der von der Revision schließlich noch geltend gemachte "unverantwortliche Eingriff in die Grundrechte" durch einen "Rechtsmittelverzicht" infolge der Wiederheirat während des Klageverfahrens liegt schon deswegen nicht vor, weil nur auf gesetzlich vorgesehene, nicht aber auf gesetzlich ausgeschlossene Rechtsmittel verzichtet werden kann. In diesem Zusammenhang ist allein maßgeblich, daß nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG weder Art 19 Abs 4 GG noch das allgemeine Rechtsstaatsprinzip einen Instanzenzug gewährleistet (vgl BVerfGE 4, 94, 211, 411; 6, 12; 8, 180; 11, 233; 28, 36). Damit im Einklang hat das BSG im Urteil vom 20. Februar 1957 (BSGE 5, 1) die in § 150 Nr 1 SGG getroffene Regelung, nach der die Berufung unter den dort genannten Voraussetzungen ungeachtet der Ausschließungsgründe der §§ 144 bis 149 SGG zulässig ist, als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen.

Insoweit stellt aber der vorgedruckte Ausspruch in der Rechtsmittelbelehrung des SG-Urteils, dieses könne "mit der Berufung angefochten werden" keine Zulassung der Berufung im Sinne des § 150 Nr 1 SGG dar (vgl dazu BSG in SozR Nr 10 und Nr 16 zu § 150 SGG). Die im Hinblick auf den Ausschluß der Berufung nach § 146 SGG unrichtige Rechtsmittelbelehrung des SG bewirkte für sich allein keine Eröffnung der Berufungsinstanz (vgl BSGE 5, 92, 95; SozR Nr 41 zu § 150 SGG). Das LSG hat auch ohne Rechtsfehler und von der Revision unbeanstandet angenommen, daß ein - die Berufung gemäß § 150 Nr 2 SGG ebenfalls eröffnender - wesentlicher Mangel im Verfahren des SG nicht deswegen vorliegt, weil das Erstgericht die Berufung irrtümlich als nach § 143 SGG statthaft angesehen und deshalb eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung im Sinne des § 150 Nr 1 SGG nicht getroffen hat (ebenso BSG in SozR Nr 38 und Nr 39 zu § 150 SGG). Ein sonstiger Mangel im Verfahren des SG, aufgrund dessen das LSG die Zulässigkeit der Berufung hätte bejahen müssen, wird von der Revision ebenfalls nicht vorgetragen.

Nach alledem muß der Revision der Klägerin der Erfolg versagt bleiben, ohne daß es noch auf die von ihr vertretene materielle Rechtsauffassung ankommen kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653797

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge