Leitsatz (amtlich)

Der vor Einführung der Reichsarbeitsdienstpflicht für die weibliche Jugend geleistete Arbeitsdienst einer 1917 geborenen Versicherten ist auch dann keine Ersatzzeit nach AVG § 28 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1), wenn die Ableistung des Dienstes als Voraussetzung für die Aufnahme des Studiums erfolgte (Bestätigung von BSG 1977-09-08 11 RA 22/77).

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 3 Abs. 1 Buchst. i Fassung: 1950-12-20

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 13.01.1977; Aktenzeichen L 5 A 17/76)

SG Speyer (Entscheidung vom 27.01.1976; Aktenzeichen S 4 A 185/75)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Januar 1977 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, den Arbeitsdienst der Klägerin als Ersatzzeit vorzumerken.

Die am 7. Januar 1917 geborene Klägerin leistete nach dem im März 1936 abgelegten Abitur vom 1. April bis 30. September 1936 den Arbeitsdienst und erhielt darüber ein Arbeitsdienstzeugnis des deutschen Frauenarbeitsdienstes. Im Jahre 1941 begann sie mit dem Studium der Volkswirtschaft, das sie infolge der Kriegsereignisse nicht beenden konnte.

Die Beklagte lehnte die beantragte Anerkennung der Arbeitsdienstzeit als Ersatzzeit ab, weil die Klägerin nicht zu den gesetzlich dienstpflichtigen Jahrgängen gehört und somit den Arbeitsdienst freiwillig geleistet habe (Bescheid vom 6. Februar 1974, Widerspruchsbescheid vom 19.August 1975).

Mit der hiergegen erhobenen Klage machte die Klägerin geltend, sie habe den Arbeitsdienst als Voraussetzung für die Aufnahme des Studiums leisten müssen. Diese studentische Arbeitsdienstpflicht sei eine echte, durch staatliche Regelungen angeordnete Sonderdienstpflicht gewesen. Die Klage hatte in den beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) im wesentlichen mit der Begründung zurück, daß die Klägerin keinem der zur Arbeitsdienstleistung aufgerufenen und eingezogenen Geburtsjahrgänge angehört und deshalb den Arbeitsdienst nicht aufgrund gesetzlicher Dienstpflicht im Sinne des § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) geleistet habe. Die Pflicht zur Arbeitsdienstleistung als Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums gehöre hierzu nicht (Urteil vom 13. Januar 1977).

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt Verletzungen des materiellen Rechts durch das Berufungsgericht. Dieses habe zu Unrecht verneint, daß der Arbeitsdienst "aufgrund gesetzlicher Dienstpflicht" abgeleistet worden sei.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Speyer vom 27. Januar 1976 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. Februar 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. August 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das in der Zeit vom 1. April bis zum 30. September 1936 abgeleistete Arbeitsdienst-Halbjahr als Ersatzzeit anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision ist nicht begründet.

Die Beklagte hat es durch die Bescheide vom 6. Februar 1974 und 19. August 1975 abgelehnt, die Zeit von April bis September 1936 als Ersatzzeit anzuerkennen. Die hiergegen erhobene Klage ist vom LSG ebenso wie vorher vom SG zutreffend - wenngleich ohne nähere Begründung - als zulässige Anfechtungs- und Verpflichtungsklage angesehen worden, weil die Klägerin bereits vor Eintritt eines Versicherungsfalles die verbindliche Vormerkung von zurückgelegten Ersatzzeiten verlangen kann (vgl BSGE 31, 226, 229; 42, 159). Das Berufungsgericht hat indes eine von der Klägerin im streitigen Zeitraum zurückgelegte Ersatzzeit zu Recht verneint.

Nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG werden für die Erfüllung der Wartezeit Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist, als Ersatzzeiten angerechnet, wenn eine der in § 28 Abs 2 AVG genannten Voraussetzungen erfüllt ist. Als militärähnlicher Dienst gilt nach § 3 Abs 1 Buchst i BVG der Reichsarbeitsdienst (RAD). Diesen kann indes die Klägerin in der Zeit von April bis September 1936 noch nicht abgeleistet haben, weil die Reichsarbeitsdienstpflicht für die weibliche Jugend - wie der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) mit Urteil vom 8. September 1977 (Az 11 RA 22/77) bereits entschieden hat - erst durch die Verordnungen vom 4. und 8. September 1939 (RGBl I 1693 und 1744) verwirklicht wurde.

Der bereits durch § 1 Abs 2 des RAD-Gesetzes vom 26. Juni 1935 (RGBl I 769) eingeführten allgemeinen Pflicht für "alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts" im RAD zu dienen, kommt - entgegen der Rechtsauffassung der Revision - in diesem Zusammenhang keine entscheidende Bedeutung zu. Da diese Norm lediglich einen allgemeinen Grundsatz beinhaltet und in § 9 RAD-Gesetz die Arbeitsdienstpflicht der weiblichen Jugend ausdrücklich einer besonderen - erst durch die genannten Verordnungen vom 4. und 8. September 1939 ausgefüllten - gesetzlichen Regelung vorbehalten blieb, kann keine weibliche Jugendliche zur Ableistung des RAD bereits durch das RAD-Gesetz vom 26. Juni 1935 herangezogen worden sein. Auch der von der Revision angeführte § 5 der 1. Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des RAD-Gesetzes vom 27. Juni 1935 (RGBl I 772) spricht nicht gegen, sondern für dieses Ergebnis. Denn nach dieser Vorschrift hatte der Reichsarbeitsführer lediglich für den "Freiwilligen Frauenarbeitsdienst" die zur Vorbereitung der Arbeitsdienstpflicht der weiblichen Jugend erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Gleiches gilt für den von der Revision des weiteren zitierten Art 3 des Erlasses vom 26. September 1936 (RGBl I 747), wonach der "vorläufig noch auf freiwilligem Eintritt beruhende Arbeitsdienst für die weibliche Jugend" planmäßig "zur Vorbereitung der Arbeitsdienstpflicht" weiter zu entwickeln war. Auch daraus erhellt, daß der von der Klägerin im September 1936 beendete Arbeitsdienst nicht aufgrund gesetzlicher Dienstpflicht im Sinne des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG, sondern nur auf freiwilliger Basis stattgefunden und lediglich zur Vorbereitung der sodann erst durch die Verordnungen vom 4. und 8. September 1939 aaO eingeführten weiblichen Arbeitsdienstpflicht gedient hatte.

Auch die von der Revision befürwortete entsprechende Anwendung der in § 28 Abs 1 Nr 1 AVG iVm § 3 Buchst i BVG getroffenen Regelung kommt nicht in Betracht. Sie könnte im Anschluß an die Entscheidungen des BSG vom 1. März 1974 und 31. März 1976 (SozR 2200 § 1251 Nr 3 und Nr 19) nur für den Fall als ungewollt lückenhaft angesehen werden, daß der freiwillige Arbeitsdienst eine an sich Arbeitsdienstpflichtige von der zusätzlichen Ableistung des RAD befreit hätte. Daran fehlt es hier schon deswegen, weil die Klägerin auch ohne die im freiwilligen weiblichen Arbeitsdienst zurückgelegte Zeit den RAD nicht hätte ableisten müssen. Ihr Geburtsjahrgang (1917) ist nämlich nicht mehr allgemein zur Ableistung des RAD herangezogen worden. Nach § 3 Abs 3 des RAD-Gesetzes vom 9. September 1939 (RGBl I 1747), der auch für weibliche Jugendliche galt (vgl. hierzu BSG-Urteil vom 8.9.1977 aaO), wurden die Arbeitsdienstpflichtigen in der Regel in dem Kalenderjahr, in dem sie das 19. Lebensjahr vollendeten, zum RAD einberufen. Die Klägerin war aber bei Beginn der weiblichen RAD-Pflicht im Jahre 1939 bereits 22 Jahre alt.

Schließlich läßt sich die entsprechende Anwendung des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG auch nicht - wie die Revision meint - damit rechtfertigen, daß der freiwillige Arbeitsdienst von der Klägerin geleistet werden mußte, um studieren zu können. Für solche Fälle eines mittelbaren Zwanges hat bereits der 11. Senat des BSG in den beiden Entscheidungen vom 8. September 1977 (11 RA 100/76 und 11 RA 22/77) eine Gesetzeslücke, die der Ausfüllung bedürfte, nicht finden können. Auch der erkennende Senat ist der Auffassung, daß kein Anhalt dafür besteht, der Gesetzgeber habe den in vielen Fällen vorhanden gewesenen mittelbaren Zwang zu Dienstleistungen (vgl SozR 2200 § 1251 Nr 8: Wehrübungen eines Beamten aufgrund dienstlicher Weisung; SozR 2200 § 1251 Nr 32: "Studentischer Ausgleichsdienst" aufgrund ministeriellen Erlasses) übersehen. Unter Berücksichtigung des insoweit einschränkenden Wortlauts des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG muß demnach angenommen werden, daß er bewußt die nicht unmittelbar auf Gesetz beruhenden Dienstleistungen von der Ersatzzeitenregelung ausnehmen wollte (vgl hierzu auch Urteil des erkennenden Senats vom gleichen Tage, Az: 1 RA 15/77).

Nach alledem muß der Revision der Klägerin der Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651030

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