Leitsatz (redaktionell)
1. "Erlassen" ist ein Bescheid, wenn er dem Empfänger bekanntgegeben oder zugestellt worden ist und nicht schon, wenn er fertiggestellt und unterschrieben ist.
Dies muß auch dann gelten, wenn sich zwischen dem Ausfertigen und Absenden des Bescheides und seinem Zugehen die Rechtsgrundlage geändert hat oder weggefallen ist.
2. Nach dem zeitlichen Geltungswillen der SVAnO 11 Nr 26 konnten nach dieser Vorschrift auch noch nach dem BVG erteilte Bescheide bis zum 1952-12-31 berichtigt werden.
3. In der Zeit vom 1953-01-01 - 1955-03-31 - Inkrafttreten des KOVVfG am 1955-04-01 - war eine Rücknahme begünstigender, aber fehlerhafter Verwaltungsakte nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts möglich.
Normenkette
KOVVfG § 41 Abs. 1 Fassung: 1955-05-02; SVAnO 11 Nr. 26
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 18. September 1957 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war während seines Wehrdienstes in der Zeit vom 14. Juni 1942 bis zum 23. Februar 1943 in der Orthopädischen Abteilung des Reservelazaretts H entsprechend der dort und schon vorher im Reservelazarett U nach Durchleuchtung gestellten Diagnose auf Kompressionsbruch des 4. Lendenwirbels im Sinne einer Kümmel'schen Erkrankung behandelt worden. Im Juni 1943 beantragte er, ihm wegen dieses Leidens Versorgung zu gewähren, da es auf einen im Jahre 1940 beim Geschützabladen erlittenen Unfall zurückzuführen sei, dem er seinerzeit trotz anschließender Beschwerden keine Bedeutung beigemessen habe. Nach weiterer wehrmachtärztlicher Beurteilung erkannte das damalige Wehrmachtfürsorge- und Versorgungsamt M mit Bescheid vom 15. November 1943 "Zustand nach Bruch der Wirbelsäule" als Wehrdienstbeschädigung an. Am 23. August 1950 erteilte die Landesversicherungsanstalt Westfalen eine "Benachrichtigung", in der derselbe Leidenszustand auch nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 anerkannt und eine entsprechende Rente gewährt wurde. Das Leiden wurde schließlich durch Bescheid vom 5. Februar 1952 auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) als Schädigungsfolge mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. anerkannt. Dieser Anerkennung gingen zwei ärztliche Untersuchungen voraus. Während der Facharzt für Chirurgie Dr. H in seinem am 28. September 1950 nach Anfertigung von Röntgenaufnahmen erstatteten Gutachten einen Zustand nach Bruch des 5. Lendenwirbels und des 1. Kreuzbeinwirbels feststellte und der ärztliche Dienst der Landesversicherungsanstalt sich dem anschloß, kam ein am 23. November 1951 von dem Facharzt für Orthopädie Dr. W erstattetes Gutachten zu dem Ergebnis. daß es sich bei dem Kläger um eine anlagebedingte Wirbelsäulenverbiegung handele.
Mit Datum vom 29. Dezember 1952 erteilte die Versorgungsverwaltung einen Berichtigungsbescheid, in dem unter Bezugnahme auf Ziff. 27 der Sozialversicherungsanordnung (SVA) Nr. 11 der Umanerkennungsbescheid aufgehoben und die Rente von Ende Januar 1953 an entzogen wurde, weil es sich bei dem Leiden des Klägers um eine anlagebedingte Wirbelsäulenverbiegung handele. Nach erfolglos verlaufenem Einspruchsverfahren hat der Kläger beim damaligen Oberversicherungsamt M Berufung eingelegt, die als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Münster übergegangen ist. Das SG. hat durch Urteil vom 30. Juni 1954 den Berichtigungsbescheid aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger weiterhin Rente zu gewähren, und zwar vom 1. Oktober 1950 an nach einer MdE. um 40 v.H., da der Kläger beruflich besonders betroffen sei: Ziff. 26 der SVA Nr. 11 sei im Zeitpunkt der Bescheiderteilung nicht mehr geltendes Recht gewesen, da sie durch die Vorschriften des BVG abgelöst worden sei. Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte beim Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen in Essen Berufung eingelegt. Er hat während des Berufungsverfahrens unter dem 15. Februar 1957 einen weiteren, auf § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) gestützten Berichtigungsbescheid erteilt. Das LSG. hat durch Urteil vom 18. September 1957 die Berufung zurückgewiesen und den Berichtigungsbescheid vom 15. Februar 1957 aufgehoben: Der Bescheid vom 29. Dezember 1952 sei schon deshalb rechtswidrig, weil Ziff. 26 der SVA Nr. 11 auf Bescheide, die nach dem BVG erteilt worden seien, keine Anwendung mehr finden könne. Deshalb könne es auch dahingestellt bleiben, ob der Bescheid nicht auch deswegen rechtswidrig sei, weil seine Zustellung innerhalb der in Ziff. 26 der SVA Nr. 11 genannten Frist (31.12.1952) nicht nachzuweisen sei, die Zustellung aber innerhalb dieses Zeitraums erfolgt sein müsse. Der nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Berufungsverfahrens gewordene Bescheid vom 15. Februar 1957, der den Bescheid vom 29. Dezember 1952 - wenn auch mit anderer zeitlicher Wirksamkeit - ersetze, sei ebenfalls aufzuheben. Wenn auch nach den neueren ärztlichen Gutachten ein erheblicher Zweifel an der Richtigkeit der früheren Entscheidungen bestehe, so habe das Berufungsgericht doch angesichts der früheren ärztlichen Beurteilungen und der langen Behandlung in der Fachabteilung des Lazaretts nicht die alle Zweifel ausschließende Gewißheit gewinnen können, daß alle früheren Fachärzte geirrt hätten. Die tatsächlichen Feststellungen des SG. zur Frage des besonderen beruflichen Betroffenseins und die sich daraus ergebende Verurteilung zur Zahlung einer höheren Rente um 40 v.H. habe der Beklagte in der Berufung nicht angegriffen, so daß das Urteil insoweit nicht zu überprüfen sei. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses am 16. Oktober 1957 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit einem am 12. November 1957 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und beantragt,
unter Abänderung der Urteile des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 18. September 1957 und des SG. in Münster vom 30. Juni 1954 die Klage unter Einbeziehung auch des Bescheides vom 15. Februar 1957 abzuweisen.
In der am 14. Januar 1958 beim BSG. eingegangenen Revisionsbegründung rügt der Beklagte Verletzung des § 41 VerwVG. Dem Urteil des LSG. liege - wenn dies auch nicht ausdrücklich ausgesprochen werde - die Auffassung zugrunde, jede auch nur theoretische Möglichkeit, daß ein Bescheid im Zeitpunkt seines Erlasses doch richtig gewesen sei, stehe einer Berichtigung nach § 41 VerwVG entgegen. Dieser Maßstab sei aber zu streng; es müsse ausreichen, daß eine Berichtigung von der an Gewißheit grenzenden Überzeugung von der Unrichtigkeit des Bescheides getragen werde. Bei diesem Maßstab habe das LSG. schon bei dem jetzigen Stand der Sachaufklärung zu einer Bestätigung des Bescheides vom 15. Februar 1957 gelangen müssen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Rüge des Beklagten beschränke sich auf eine Verletzung des § 41 VerwVG. Die Frage, inwieweit Ziff. 26 der SVA Nr. 11 anwendbar sei, könne daher nicht mehr nachgeprüft werden. Die Rüge richte sich letztlich gegen die Überzeugungsbildung des Berufungsgerichts, die sich aber hier der Nachprüfung des Revisionsgerichts entziehe, weil sie sich innerhalb der Grenzen des Überzeugungsspielraums halte.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG), sie ist daher zulässig.
Die Revision ist auch begründet.
Der Beklagte hat zwar nur die Verletzung des § 41 VerwVG ausdrücklich gerügt. Das angefochtene Urteil ist jedoch schon deshalb materiell-rechtlich in vollem Umfang zu überprüfen, weil sich die Revision dem gestellten Antrag nach nicht nur gegen die Entscheidung des LSG. über den Bescheid vom 15. Februar 1957, sondern auch gegen die Entscheidung über den Bescheid vom 29. Dezember 1952 richtet.
Die Überprüfung des angefochtenen Urteils mußte zu seiner Aufhebung und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. zur erneuten Verhandlung und Entscheidung führen.
Bei der Entscheidung über den Bescheid vom 29. Dezember 1952 ist das Berufungsgericht einmal insofern von einer unrichtigen Rechtsauffassung ausgegangen, als es die Ziff. 26 SVA Nr. 11 auf einen nach dem BVG erteilten Bescheid für nicht mehr anwendbar gehalten und den Berichtigungsbescheid schon aus diesem Grunde für rechtswidrig angesehen hat; denn auf Grund der Ziff. 26 SVA Nr. 11 konnten auch Bescheide nach dem BVG, die während ihres zeitlichen Geltungsbereichs - also bis zum 31. Dezember 1952 - erteilt worden sind, berichtigt werden (vgl. BSG. 7 S. 8 ff.). Der angefochtene Bescheid ist auch nicht etwa deshalb fehlerhaft, weil nur der Bescheid nach dem BVG, nicht aber auch der SVD-Bescheid vom 23. August 1950 berichtigt worden ist. Soweit in dem SVD-Bescheid über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG entschieden ist, hat dies allerdings zur Folge, daß diese Entscheidung - solange ihrerseits nicht aufgehoben - auch für die Entscheidung nach dem BVG rechtsverbindlich (§ 85 Abs. 1 BVG) und diese deshalb insoweit nicht "unrichtig" ist. Die in dem angefochtenen Bescheid durchgeführte Berichtigung erstreckt sich aber nicht nur auf den Zusammenhang zwischen dem schädigenden Vorgang (Unfall) und der Gesundheitsstörung (Bruch der Wirbelsäule), sondern auch auf das Vorliegen der bisher angenommenen Folgen (Bruch der Wirbelsäule) überhaupt. Die Bindungswirkung des § 85 BVG erfaßt jedoch weder den schädigenden Vorgang noch die Folge selbst, sondern lediglich ihre Verknüpfung miteinander (vgl. BSG. in SozR. BVG § 85 Bl. Ca 6 Nr. 10). Das LSG. hat ferner übersehen, daß auch nach dem 31. Dezember 1952 eine Rechtsgrundlage für die Berichtigung bestanden hat. Zwischen dem 1. Januar 1953 und dem 1. April 1955 (dem Inkrafttreten des VerwVG) war eine Rücknahme begünstigender, aber fehlerhafter Verwaltungsakte nach dem Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts möglich (vgl., auch über die Voraussetzungen einer Berichtigung auf dieser Grundlage, BSG. 8 S. 11 (14) sowie das Urteil vom 11.6.1959 im SozR. SVA Nr. 11 Allg. Bl. Ca 3 Nr. 7). Das LSG. hätte deshalb zunächst prüfen müssen, nach welcher dieser beiden Rechtsgrundlagen der angefochtene Bescheid zu beurteilen ist. Das Revisionsgericht kann diese Prüfung mangels ausreichender Feststellungen nicht selbst vornehmen. Maßgebend für die Beurteilung des angefochtenen Bescheides ist das Recht, das im Zeitpunkt seines Erlasses gegolten hat (vgl. Urteil des erkennenden Senats in BSG. 6 S. 288, ferner BSG. 7 S. 8). "Erlassen" ist ein Bescheid, wenn er dem Empfänger bekanntgegeben oder zugestellt worden ist und nicht schon, wenn er fertiggestellt und unterschrieben ist (vgl. Nebinger, Verwaltungsrecht, Allg. Teil, 2. Aufl. S. 221). Dies muß auch dann gelten, wenn sich zwischen dem Ausfertigen und Absenden des Bescheides und seinem Zugehen die Rechtsgrundlage geändert hat oder weggefallen ist. Diese Auffassung rechtfertigt sich dadurch, daß ein Verwaltungsakt erst mit seinem Erlaß rechtswirksam wird und in diesem Zeitpunkt nur das Recht wirken kann, das ganz allgemein zu diesem Zeitpunkt gilt. Feststellungen darüber, wann der Bescheid dem Kläger zugegangen ist, hat das LSG. aber von seiner Rechtsansicht aus für entbehrlich gehalten und daher nicht getroffen. Sie sind jedoch wie dargelegt nicht entbehrlich. Es fehlen somit die Feststellungen, die eine Entscheidung ermöglichen, ob sich die Voraussetzungen der Bescheiderteilung vom 5. Februar 1952 entweder im Sinne der Ziff. 26 der SVA Nr. 11 oder im Sinne der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts als unzutreffend erwiesen haben.
Voraussetzung der damaligen Bescheiderteilung war die Annahme, der Unfall beim Geschützabladen habe zu einem Bruch der Wirbelsäule geführt. Das LSG. hat seine diesbezüglichen Feststellungen lediglich im Hinblick auf § 41 VerwVG, nicht aber auch bezüglich der Ziff. 26 SVA Nr. 11 oder der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts getroffen. Das BSG. kann auch hierzu eine Entscheidung nicht selbst treffen; denn damit würde es in das Recht der Tatsacheninstanz, nach der freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung zu entscheiden (§ 128 SGG), eingreifen (vgl. BSG. 4 S. 147 (149)).
Das angefochtene Urteil war deshalb schon aus diesen Gründen aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG). Deshalb erübrigte sich ein Eingehen auf die Frage, ob den Ausführungen, die das LSG. bei seiner Entscheidung über den nach § 41 VerwVG erteilten Bescheid gemacht hat, - wenn auch nur mittelbar - zu entnehmen ist, ob es hinsichtlich des Begriffs "außer Zweifel" unrichtig im Sinne des § 41 VerwVG die Anforderungen an die Überzeugungsbildung überspannt hat. Es ist insoweit lediglich auf die inzwischen zu diesem Begriff ergangene Rechtsprechung des BSG. (vgl. insbesondere BSG. 6 S. 106 (109)) zu verweisen. Im übrigen wird sich auch erst nach der erneuten Entscheidung des Berufungsgerichts über den Bescheid vom 29. Dezember 1952 feststellen lassen, ob und in welchem Maße der spätere Bescheid nach § 41 VerwVG den früheren Bescheid ersetzen soll. Ebenfalls konnte dahingestellt bleiben, ob ein möglicherweise von Amts wegen zu beachtender Verfahrensmangel darin zu erblicken ist, daß das LSG. das Urteil des SG. nicht auch insoweit überprüft hat, als in ihm dem Kläger Rente nach einer MdE. um 40 v.H. vom 1. Oktober 1950 an zugesprochen worden ist. Das Berufungsgericht wird sich mit der Frage, inwieweit das Urteil des LSG. angefochten und zu überprüfen ist, bei der erneuten Entscheidung unter Beachtung der gestellten Anträge gegebenenfalls nochmals zu beschäftigen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen