Leitsatz (amtlich)

1. Die Klage auf Erlaß eines Bescheides nach § 79 AVG (= § 1300 RVO ) ist eine Verpflichtungsklage.

2. Diese Verpflichtungsklage ist nur zulässig, wenn ein Vorverfahren durchgeführt ist (§ 79 Nr 2 SGG).

3. Das Festhalten des Versicherungsträgers an der angefochtenen Entscheidung im Prozeß ersetzt das Vorverfahren jedenfalls dann nicht, wenn Versicherungsträger und Widerspruchsbehörde nicht identisch sind.

4. Das Vorverfahren kann noch während des gerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. Der Widerspruch ist in der Klage enthalten.

5. Es stellt einen Verfahrensmangel dar, wenn das Gericht die Klage als unzulässig abweist, ohne den Beteiligten Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen.

 

Normenkette

AVG § 79 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1300 Fassung: 1957-02-23; SGG § 79 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 150 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. Februar 1961 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Mit Bescheid vom 2. Dezember 1955 stellte die Beklagte den Ruhegeldanspruch des Klägers auf 127,50 DM monatlich fest; der Bescheid blieb unangefochten. Im Juni 1957 begehrte der Kläger bei der Beklagten Neufeststellung seiner Rente, er machte geltend, in dem Bescheid vom 2. Dezember 1955 seien zu Unrecht für die Jahre 1925 bis 1936 nur je zehn freiwillige Wochenbeiträge nach Klasse II (zur Invalidenversicherung in Schlesien) berücksichtigt worden; er - der Kläger - habe mehr und höhere Beiträge entrichtet.

Die Beklagte teilte dem Kläger mit Schreiben vom 2. September 1957 mit, daß es einer Neufeststellung der Rente nicht bedürfe, weil alle Beiträge gesetzmäßig berücksichtigt seien.

Der Kläger erhob am 9. Oktober 1957 Klage beim Sozialgericht (SG) Freiburg. Das SG lud die Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein zum Verfahren bei. Das SG verurteilte die Beklagte, einen neuen Bescheid "unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts" zu erteilen (Urteil vom 23. April 1959): Die Entrichtung weiterer Beiträge durch den Kläger sei nicht glaubhaft gemacht, doch habe die Beklagte überzeugt sein müssen, daß für die Zeit von 1926 bis 1936 die Anrechnung von freiwilligen Beiträgen der Klasse VI gerechtfertigt sei; insoweit habe sie dem Kläger nach § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nF einen neuen Bescheid erteilen müssen.

Auf die Berufung des Klägers und der Beigeladenen hob das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg am 7. Februar 1961 das Urteil des SG Freiburg auf und wies die Klage als unzulässig ab: Es handele sich um eine Klage auf Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsaktes, mithin um eine Verpflichtungsklage i. S. des § 54 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); das hierfür zwingend vorgeschriebene Vorverfahren sei nicht durchgeführt (§ 79 Nr. 2 SGG); es fehle eine Prozeßvoraussetzung, die Klage sei daher unzulässig.

Das LSG ließ die Revision zu.

Der Kläger und die Beklagte legten Revision ein.

Der Kläger beantragte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragte,

die Urteile der gerichtlichen Vorinstanzen aufzuheben und die Klage als unbegründet abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beigeladene beantragte,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger und die Beklagte machten mit der Revision geltend, das LSG habe die Vorschriften der §§ 54 Abs. 1 Satz 1, 79 Nr. 2 SGG und des § 79 AVG nF verletzt; es habe die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen, weil ein Vorverfahren nicht durchgeführt worden sei; es habe vielmehr über das Klagebegehren der Sache nach entscheiden müssen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 SGG).

II

Die Revisionen des Klägers und der Beklagten sind zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG); sie sind auch begründet.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger unbeschadet der Fassung seiner Anträge mit der Klage "die Verurteilung der Beklagten zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsaktes" i. S. der §§ 54 Abs. 1 Satz 1, 79 Nr. 2 SGG begehrt. Der Kläger ist der Ansicht, in dem - bindend gewordenen - Rentenbescheid der Beklagten vom 2. Dezember 1955 seien rentenerhöhende Faktoren, insbesondere freiwillig entrichtete Beiträge aus den Jahren 1925 bis 1936, nicht berücksichtigt worden; er hat deshalb von der Beklagten eine Neufeststellung seiner Rente nach § 79 AVG nF begehrt. Nach dieser Vorschrift hat die Beklagte die Rente "neu festzustellen", wenn sie sich überzeugt, daß die Rente zu Unrecht zu niedrig festgestellt worden ist. Die Beklagte hat dem Kläger - am 2. September 1957 - mitgeteilt, daß es einer "Neufeststellung" der Rente nicht bedürfe, weil die Prüfung ergeben habe, daß in dem Rentenbescheid vom 2. Dezember 1955 alle Beiträge gesetzmäßig berücksichtigt seien; sie hat damit die Neufeststellung nach § 79 AVG nF abgelehnt.

Der Kläger behauptet, die Beklagte habe zu Unrecht die Neufeststellung der Rente abgelehnt, es seien die Voraussetzungen des § 79 AVG nF gegeben, unter denen die Beklagte nicht mehr an der Bindungswirkung des "Erstbescheids" festhalten dürfe, sondern die Rente "neu feststellen", d. h. einen Zweitbescheid erteilen müsse . Das Klagebegehren geht deshalb dahin, daß der ablehnende Bescheid vom 2. September 1957 als rechtswidrig aufgehoben und die Beklagte durch Urteil verpflichtet werde, einen "neuen", bisher "abgelehnten" Bescheid über die Gewährung der Rente - unter Berücksichtigung der von dem Kläger in Anspruch genommenen rentenerhöhenden Faktoren - zu erteilen.

Es handelt sich danach um die Zusammenfassung einer Aufhebungs- und Verpflichtungsklage i. S. des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Auffassung der Beklagten, eine Verpflichtungsklage komme deshalb nicht in Betracht, weil kein "abgelehnter Verwaltungsakt" i. S. des § 54 Abs. 1 SGG vorgelegen habe, ein solcher sei nur anzunehmen, wenn die Beklagte überhaupt nicht tätig geworden sei, nicht aber dann, wenn sie nach sachlicher Prüfung der Voraussetzungen des § 79 AVG nF - ablehnend - entschieden habe, trifft nicht zu; die Beklagte hat die begehrte "Neufeststellung" der Rente abgelehnt; der Kläger kann deshalb sein - bei der Beklagten erfolglos gebliebenes - Begehren auf "Neufeststellung" mit der Verpflichtungsklage verfolgen. Der Kläger erstrebt zwar im Ergebnis auch eine höhere Rente; eine Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 Nr. 5 SGG kommt hier aber schon deshalb nicht in Betracht, weil das prozessuale Ziel seines Begehrens nach § 79 AVG nF eindeutig auf eine "Neufeststellung" der Rente, also auf die Erteilung eines Bescheides gerichtet ist (vg. auch Urteil des BSG vom 18. November 1960 - 4 RJ 305/59 - Breithaupt 1961, 342).

Der Klage, mit der die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten Verwaltungsakts begehrt wird (Verpflichtungsklage), hat ein Vorverfahren vorauszugehen (§ 79 Nr. 2 SGG). Es kann dahingestellt bleiben, ob sich § 79 Nr. 2 SGG allgemein auf alle Verpflichtungsklagen bezieht (vgl. BSG 5, 60, 65); für eine auf § 79 AVG nF gestützte Verpflichtungsklage ist jedenfalls ein Vorverfahren notwendig, weil hier der Sache nach streitig ist, ob die Verwaltung an einem bindend gewordenen "Erstbescheid" festhalten darf oder einen neuen Bescheid erteilen muß; jedenfalls hier ist es nach dem Zweck, dem das Vorverfahren nach dem Plan des Gesetzes dienen soll, notwendig, dem gerichtlichen Verfahren eine "Selbstkontrolle der Verwaltung vorzuschalten" und die Klage nur nach Durchführung des Vorverfahrens zuzulassen. Das LSG hat deshalb zu Recht ein Vorverfahren als notwendig erachtet (vgl. auch BSG 8, 3 und 8; Urteil vom 29. Juni 1962, SozR Nr. 10 zu § 79 SGG). Das Vorverfahren ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil die beklagte Verwaltung im Prozeß an der angefochtenen Entscheidung festgehalten hat; dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn - wie in Angelegenheiten der Sozialversicherung (§ 85 Abs. 2 Nr. 2) - Widerspruchsbehörde und Versicherungsträger nicht identisch sind (vgl. Menger, Verwaltungsarchiv Bd. 54 (1963) S. 402, 403). Aber das LSG hat die Klage nicht wegen Fehlens des Vorverfahrens kurzerhand als unzulässig abweisen dürfen; es hat vielmehr berücksichtigen müssen, daß in der Klage zugleich auch ein Widerspruch zu erblicken ist und die Widerspruchsfrist deshalb als gewahrt angesehen werden muß (vgl. Bettermann, DVBl 1959, 308 ff, 313; Haueisen, NJW 1961, 2329 ff, 2330 Anm. 19). Auch im vorliegenden Fall enthält, nachdem der richtige Weg der Rechtsverfolgung über ein gesetzlich vorgeschriebenes Vorverfahren führt, die Klage, die der Beklagten im Oktober 1957 zugestellt worden ist, zugleich den Widerspruch gegen den Bescheid vom 2. September 1957; der Widerspruch ist damit rechtzeitig erhoben worden (§§ 84 Abs. 1 und 2, 66 Abs. 1 und 2 SGG).

Das LSG hat unterstellen müssen, daß der Kläger, wenn ihm sein prozessuales Ziel nicht anders erreichbar ist, zunächst die Durchführung des - bereits als eingeleitet anzusehenden - Vorverfahrens begehrt, um den Widerspruchsbescheid in die Klage "mit einbeziehen" zu können. Bei dieser Rechtslage ist, solange ein Widerspruchsbescheid nicht vorliegt, den Beteiligten vor Entscheidung über die Sache noch Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen und so die "Filterfunktion" dieses Verfahren wirksam werden zu lassen; dies ist schon aus prozeßökonomischen Gründen geboten (vgl. BSG 8, 3, 10; Urteil des BSG vom 30. November 1961, SozR Nr. 5 zu § 78 SGG). Das LSG hat deshalb verfahrensrechtlich nicht einwandfrei gehandelt, wenn es - ohne auch nur die Möglichkeit zu prüfen, noch im vorliegenden Rechtsstreit alsbald zu der von den Beteiligten gewünschten Sachentscheidung zu kommen - die Klage sogleich als unzulässig abgewiesen und damit die Beteiligten ohne zwingenden Grund auf einen neuen Rechtsstreit verwiesen hat. Die Rüge des Klägers und der Beklagten, das LSG habe zu Unrecht die Klage als unzulässig verworfen anstatt eine Sachentscheidung zu erlassen, trifft danach im Ergebnis zu.

Die Revisionen sind sonach begründet; das angefochtene Urteil ist aufzuheben; die Sache ist nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird nunmehr den Beteiligten Gelegenheit geben müssen, das Vorverfahren abzuschließen; bei der Würdigung des Widerspruchsbescheides wird zu beachten sein, daß die Bildung einer Überzeugung i. S. von § 79 AVG nicht - wie das LSG angenommen hat - ein rein "subjektiver Vorgang ist, der sich nicht nachprüfen läßt", daß vielmehr das Gericht in der Lage sein muß, aus nachprüfbaren objektiven Umständen die Folgerung zu ziehen, daß die Beklagte als "überzeugt" zu gelten hat (vgl. BSG 19, 43); es kommt darauf an, ob die Rechtswidrigkeit des Erstbescheids so ist, daß die Beklagte sie hätte erkennen müssen, ob also Umstände vorliegen, durch die sich die Beklagte zur Neufeststellung gedrängt fühlen muß; liegen solche Umstände nicht vor, so ist die Beklagte auch nicht verpflichtet, in einem Zweitbescheid erneut eine sachliche Feststellung zu treffen.

In dem abschließenden Urteil des LSG ist auch über die Kosten zu entscheiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 674101

BSGE, 199

MDR 1964, 541

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