Entscheidungsstichwort (Thema)
Familienmutterschaftshilfe. Begriff "Unterhaltsberechtigung" iS der bürgerlich-rechtlichen Vorschriften
Orientierungssatz
Steht der Tochter des Versicherten ein konkreter Unterhaltsanspruch gegen den nichtehelichen Vater ihres Kindes gemäß § 1615l Abs 3 BGB zu, dann ist sie wegen der Subsidiarität ihres nach §§ 1601 ff BGB gegen den Versicherten bestehenden Unterhaltsanspruchs diesem gegenüber mangels Bedürftigkeit nicht unterhaltsberechtigt iS des § 205 Abs 1 RVO.
Normenkette
RVO § 205 Abs 1 S 1 Halbs 1 Fassung: 1977-06-27; BGB § 1615l Abs 3 S 2 Fassung: 1969-08-19, § 1601 Fassung: 1896-08-18, § 1602 Fassung: 1896-08-18, § 1603 Fassung: 1961-08-11, § 1606 Fassung: 1969-08-19, § 1607 Fassung: 1896-08-18
Verfahrensgang
SG Duisburg (Entscheidung vom 23.05.1979; Aktenzeichen S 21 Kr 206/78) |
Tatbestand
Der Kläger ist bei der Beklagten in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert. Seine am 9. April 1962 geborene Tochter hat am 1. März 1978 ein Kind geboren. Damals lebte sie im Haushalt des Klägers und ging keiner Berufstätigkeit nach. Der Beigeladene zu 2) ist der Vater des Kindes - ebenfalls Mitglied der Beklagten. Im März 1978 war er nach seinen Angaben mit einem monatlichen Nettoeinkommen von etwa 1.000,-- DM als Kfz-Mechaniker beschäftigt. Die Beigeladene zu 1) hat die Kosten der Entbindung als Träger der Sozialhilfe übernommen.
Mit Bescheid vom 14. März 1978 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Gewährung von Mutterschaftsfamilienhilfe aus Anlaß der Niederkunft seiner Tochter mit Hinweis auf § 1615 l Abs 1 und 3 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide für verpflichtet erklärt, dem Kläger Familienmutterschaftshilfe aus Anlaß der Niederkunft seiner Tochter Anneliese zu gewähren. In den Gründen ist ausgeführt, die Voraussetzungen des § 205 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien erfüllt. Insbesondere habe der Kläger seine Tochter unterhalten. Sie habe einen gesetzlichen Unterhaltsanspruch gegen ihn gehabt. Allerdings habe sie außerdem nach § 1615 l Abs 1 BGB vom Beigeladenen zu 2) für die Dauer von sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt Unterhalt beanspruchen können, und dieser Anspruch gehe demjenigen gegenüber dem Kläger vor. Das bedeute aber nicht, daß der Unterhaltsanspruch gegen den Kläger zeitweise erlösche. Die Beklagte könne aus der Rangordnung der beiden Ansprüche kein Recht auf Verweigerung der Familienhilfe herleiten. Unstreitig sei der Kläger auch nach der Niederkunft seiner Tochter seiner Unterhaltsverpflichtung nachgekommen. Hiervon habe er sich zwar durch Verweisung seiner Tochter an den Beigeladenen zu 2) befreien können; er sei dazu aber gegenüber der Beklagten nicht verpflichtet gewesen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Sprungrevision eingelegt. Sie macht geltend, der Unterhaltsanspruch gegen den Vater des Kindes sei nach § 1615 l Abs 3 Satz 2 BGB vorrangig und schließe den subsidiären Unterhaltsanspruch gegenüber dem Kläger aus. Für den Anspruch gegen ihn fehle es insoweit an der Bedürftigkeit. Da die Unterhaltspflicht fehle, könne auch die Beklagte für den Kläger bei der Erfüllung seiner Unterhaltsverpflichtung keine Ersatzaufgabe übernehmen. Die Tatsache, daß der Kläger den Unterhalt seiner Tochter tatsächlich bestritten habe, führe nicht zur Vorrangigkeit seiner Unterhaltsverpflichtung.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg
vom 23. Mai 1979 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Sprungrevision der Beklagten
zurückzuweisen.
Er macht geltend, entscheidend sei allein, daß er gegenüber seiner damals unverheirateten minderjährigen einkommenslosen Tochter unterhaltspflichtig war. Insbesondere sei die Tochter auch offenkundig unterhaltsbedürftig gewesen, denn sie habe im Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes über keinerlei eigenes Einkommen verfügt und auch tatsächlich vom Beigeladenen zu 2) keinen Unterhalt erhalten. Solange der Vater des Kindes keinen Unterhalt leistete, habe der Kläger in Vorleistung treten müssen.
Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG.
Nach § 205 Abs 1 Satz 1, erster Halbsatz RVO idF durch Art 1 § 1 Nr 18 des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes (KVKG) vom 27. Juni 1977 (BGBl I S 1069) erhalten Versicherte für den unterhaltsberechtigten Ehegatten und die unterhaltsberechtigten Kinder, wenn diese sich gewöhnlich im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten, kein Gesamteinkommen haben, das regelmäßig im Monat ein Fünftel der monatlichen Bezugsgröße überschreitet, und nicht anderweit einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege haben, Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten, Krankenhilfe und sonstige Hilfen unter den gleichen Voraussetzungen und im gleichen Umfang wie Versicherte.
Da die übrigen Leistungsvoraussetzungen gegeben sind, ist hier nur zweifelhaft, ob die Tochter des Klägers diesem gegenüber "unterhaltsberechtigt" war.
Der Begriff der Unterhaltsberechtigung ist dem bürgerlichen Recht entnommen und deshalb nach dem Familienrecht des BGB zu bestimmen (BSGE 10, 28, 30 ff mwN). Ob ein Kind gegenüber dem Versicherten iS des § 205 RVO unterhaltsberechtigt ist, hängt demnach davon ab, welche einzelnen Anspruchselemente für die Unterhaltsberechtigung des Kindes nach den familienrechtlichen Vorschriften des BGB vorausgesetzt werden. Eine Unterhaltsberechtigung in diesem Sinne liegt somit nicht schon dann vor, wenn ein entsprechendes Verwandtschaftsverhältnis besteht, vielmehr muß ein konkreter Unterhaltsanspruch gegeben sein (BSGE 11, 30, 34 mit weiterem Hinweis). Dieser Anspruch richtet sich nach der "Bedürftigkeit" des Berechtigten (§ 1602 BGB), der "Leistungsfähigkeit" des Verpflichteten (§ 1603 BGB) und der "Haftung" des Verpflichteten (§ 1606 BGB).
Die Voraussetzung der "Bedürftigkeit" war im Zeitpunkt des Versicherungsfalles im Verhältnis der Tochter zu ihrem Vater, dem Versicherten, an sich erfüllt. Darüber, ob der Kläger auch "leistungsfähig" war, hat das SG keine besonderen Feststellungen getroffen;, seine Leistungsfähigkeit kann aber daraus gefolgert werden, daß er, wie das SG festgestellt hat, Unterhaltsleistungen erbrachte. Nach § 1603 Abs 1 BGB ist derjenige Verwandte nicht unterhaltspflichtig, der bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Befinden sich Eltern in dieser Lage, so sind sie ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalte gleichmäßig zu verwenden (§ 1603 Abs 2 Satz 1 BGB). Dem Kläger oblag daher gegenüber seiner minderjährigen unverheirateten Tochter eine erweiterte Unterhaltspflicht. Im Falle der Gefährdung des eigenen angemessenen Unterhalts (§ 1603 Abs 1 BGB) bestand diese erweiterte Verpflichtung des § 1603 Abs 2 Satz 1 BGB dann nicht, wenn andere leistungsfähige Verwandte vorhanden waren. Soweit ein Verwandter aufgrund des § 1603 BGB nicht unterhaltspflichtig ist, hat der - entsprechend der gemäß § 1606 BGB festgelegten Reihenfolge - nach ihm haftende Verwandte den Unterhalt zu gewähren; das gleiche gilt, wenn die Rechtsverfolgung gegen einen Verwandten im Inland ausgeschlossen oder erheblich erschwert ist (§ 1607 BGB). Der subsidiär Verpflichtete wird daher erst dann unterhaltspflichtig, wenn der Vorherberufene nicht leistungsfähig ist, oder die Rechtsverfolgung gegen ihn im Inland ausgeschlossen oder erheblich erschwert ist. Das heißt aber auch, daß der Berechtigte, solange und soweit er den zunächst haftenden Unterhaltspflichtigen heranziehen kann, im Verhältnis zu dem subsidiär haftenden Verpflichteten nicht bedürftig ist (Soergel/Siebert/Lange, Kommentar zum BGB, 10. Aufl 1971, RdNr 2 zu § 1606).
Für den Unterhaltsanspruch der nichtehelichen Mutter gegen den Vater des nichtehelichen Kindes enthält § 1615 l Abs 2 Satz 2 BGB eine Sonderregelung dahin, daß die Verpflichtung des Vaters der Verpflichtung der Verwandten der Mutter vorgeht. Steht der nichtehelichen Mutter daher wie nach § 1615 l Abs 1 BGB (für die Dauer von sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt des Kindes) ein Unterhaltsanspruch zu, für den nach § 1615 l Abs 3 Satz 1 BGB die Vorschriften über die Unterhaltspflicht zwischen Verwandten (§ 1601 ff BGB) entsprechend anzuwenden sind, dann hatte die Tochter des Klägers gegen diesen, wie sich aus dem obengesagten ergibt, mangels Bedürftigkeit insoweit keinen Unterhaltsanspruch. Damit entfiele aber auch ein Anspruch des Klägers nach § 205 RVO.
Gemäß § 1615 k Abs 1 BGB ist der Vater des nichtehelichen Kindes verpflichtet, der Mutter die Kosten der Entbindung zu erstatten, soweit diese Kosten nicht durch Leistungen des Arbeitgebers oder durch Versicherungsleistungen gedeckt werden. Stünde der Mutter demnach ausschließlich dieser Anspruch auf Entbindungskosten zu, so würde dies den Anspruch auf den allgemeinen Unterhalt nicht berühren, so daß dann auch ein Anspruch des Klägers aus § 205 RVO gegeben wäre. Dies schon deshalb, weil es sich bei dem Anspruch auf Erstattung der Entbindungskosten (§ 1615 k BGB) nicht um einen Unterhaltsanspruch, sondern um einen gesetzlichen Entschädigungsanspruch (unabhängig von der Bedürftigkeit der nichtehelichen Mutter und der Leistungsfähigkeit des Vaters) handelt (Soergel/Siebert/Lange, aaO, RdNr 6 zu § 1615 k BGB, Palandt/Diederichsen, Kommentar BGB, 40. Aufl 1981, Anm 2 zu § 1615 k; aM Brühl/Göppinger/Mutschler, Unterhaltsrechts, Erster Teil, 3. Aufl 1973, RdNr 90), ganz abgesehen davon, daß der Anspruch auf Ersatz der Entbindungskosten ohnehin nicht gegeben ist, sofern die Kosten durch Versicherungsleistungen gedeckt werden.
Der Tochter des Klägers stand aber, wie oben ausgeführt, ein (abstrakter) Unterhaltsanspruch nach § 1615 l BGB gegen den Vater des Kindes zu. Dieser Unterhaltsanspruch der Mutter ist, wie ebenfalls dargelegt, wie ein Unterhaltsanspruch unter Verwandten den allgemeinen Unterhaltsvorschriften unterworfen, wird also ua auch von der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten mitbestimmt (Soergel/Siebert/Lange, aaO, RdNr 3 zu § 1615 l). Der Kläger war daher gegenüber seiner Tochter nur unterhaltspflichtig, soweit ein Anspruch der Tochter nach § 1615 l BGB mangels Leistungsfähigkeit des (nichtehelichen) Kindesvaters, des Beigeladenen zu 2), nicht bestanden hat. War der Beigeladene zu 2) aber leistungsfähig, dann steht dem Kläger mangels einer Unterhaltsverpflichtung gegenüber seiner Tochter in der Zeit von sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt auch kein Anspruch aus § 205 RVO auf Ersatz der Entbindungskosten zu.
Zur Leistungsfähigkeit des Beigeladenen zu 2) zum damaligen Zeitpunkt hat das SG jedoch keine Feststellungen getroffen. Sie wird es nachzuholen und dann unter Zugrundelegung der Rechtsansicht des Revisionsgerichts (§ 170 Abs 5 des Sozialgerichtsgesetzes) neu zu entscheiden haben. Hierbei hat es auch über die Kosten der Revisionsinstanz mitzubefinden.
Auf die Revision der Beklagten war das angefochtene Urteil daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Fundstellen