Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeldanspruch. Nichterfüllung der Anwartschaftszeit. Versicherungsfreiheit bei Berufsunfähigkeitsrentenbezug gem § 57 AVAVG aF. keine Rückwirkung der Rechtsänderung ab 1.12.1959. keine Ausnahme

 

Orientierungssatz

1. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld besteht nicht, wenn die Anwartschaftszeit mangels ausreichender versicherungspflichtiger Beschäftigungszeiten nicht erfüllt wurde, weil ab dem Zeitpunkt der Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitsrente die Beschäftigung als Angestellter gem § 57 S 2 AVAVG in der bis zum 30.11.1959 geltenden Fassung kraft Gesetzes versicherungsfrei wurde. Neues Recht (hier § 57 AVAVG idF vom 7.12.1959) regelt grundsätzlich nur diejenigen Ansprüche, die auf Tatbeständen beruhen, die erst nach seinem Inkrafttreten eingetreten sind. Tatbestände dagegen, die bereits vollständig vor dem Inkrafttreten einer Neuregelung vorgelegen haben, vermögen an sich nur insoweit Ansprüche zu begründen, als dies nach den zur Zeit ihres Eintritts geltenden gesetzlichen Vorschriften vorgesehen war. Eine Ausnahme hiervon kommt nur aufgrund von einschlägigen Übergangsvorschriften in Betracht, die hier fehlen.

2. Eine Möglichkeit, die in Frage kommende, in den Geltungsbereich des alten Rechts fallende "Anwartschaftszeit" insgesamt ausnahmsweise nach dem neuen Recht zu beurteilen, obwohl keine diesbezüglichen Übergangsregelungen bestehen, wäre allenfalls nur dann gegeben, wenn diese mit wenigstens einem Tag auch in den Geltungsbereich des neuen Rechts hineinragen würde.

 

Normenkette

AVAVG § 85 Abs. 1 S. 1, § 57 S. 2 Fassung: 1957-04-03, S. 2 Fassung: 1959-12-07

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.12.1962)

SG Speyer (Urteil vom 08.03.1962)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. Dezember 1962 und des Sozialgerichts Speyer vom 8. März 1962 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der 1896 geborene Kläger arbeitete vom Oktober 1953 bis 30. Juni 1959 als Versicherungsinspektor. Sein Arbeitsentgelt war nach Monaten bemessen. Vom 1. April 1959 an wurde ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Angestelltenversicherung zuerkannt. Er erkrankte im Juni 1959 und blieb arbeitsunfähig krank bis zum 30. Dezember 1960. Am 2. Januar 1961 meldete er sich arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg).

Mit Bescheid vom 4. Januar 1961 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da der Kläger die Anwartschaftszeit des § 85 Abs. 1 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) nicht erfüllt habe. Er sei während der vom 2. Januar 1959 bis zum 1. Januar 1961 laufenden Rahmenfrist nur vom 2. Januar bis zum 30. Juni 1959 und damit weder 26 Wochen noch volle sechs Monate arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Mit Urteil vom 8. März 1962 hob das Sozialgericht (SG) die Bescheide des Arbeitsamtes auf und verurteilte die Beklagte zur Zahlung von Alg; es ließ die Berufung zu.

Das Landessozialgericht (LSG) wies mit Urteil vom 14. Dezember 1962 die Berufung der Beklagten zurück. Es sah bei einem nach Monaten bemessenen Arbeitsentgelt 180 Tage versicherungspflichtiger Beschäftigung als eine Tätigkeit von sechsmonatiger Dauer im Sinne des § 85 AVAVG an. Die in dieser Vorschrift zur Begründung der Anwartschaft geforderten sechs Monate brauchten nicht unbedingt zusammenhängend zu verlaufen. Folglich müsse nach § 126 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i. V. m. § 190 AVAVG auch der Monat nur zu 30 Tagen gerechnet werden. Obwohl es sich in § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG um materiell-rechtliche und keine Verfahrensfristen handele, finde trotzdem § 126 RVO für die Berechnung der in dieser Vorschrift enthaltenen Zeiten Anwendung, da § 190 AVAVG einschränkungslos bestimme, § 126 RVO auf die Arbeitslosenversicherung entsprechend anzuwenden. Denn § 190 AVAVG sei trotz seiner Einordnung unter den Abschnitt Verfahren nicht als reine Verfahrensvorschrift zu bewerten, da in diesem Abschnitt auch materiell-rechtliche Bestimmungen enthalten wären.

Unabhängig von der gesetzlichen Regelung erscheine die getroffene rechtliche Beurteilung der Frage, ob 180 Tage versicherungspflichtiger Tätigkeit als eine solche von sechs Monaten Dauer gewertet werden müßten, schon allein deswegen zutreffend, weil anderenfalls mit Rücksicht auf die verschieden lange Dauer der einzelnen Monate unter Umständen ein völlig unbefriedigendes Ergebnis erzielt werden würde. So umfasse z. B. der Zeitraum vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 184 Tage, die dann gegebenenfalls als versicherungspflichtige Tätigkeit nachgewiesen werden müßten. Der Gesetzgeber könne jedoch keinesfalls mit der Einfügung der 2. Alternative in § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG eine derartige Schlechterstellung bestimmter Personenkreise - nämlich der Gehaltsempfänger - gegenüber denen, die von der 1. Alternative erfaßt würden, beabsichtigt haben.

Der Kläger habe folglich die Anwartschaftszeit des § 85 Abs. 1 AVAVG erfüllt und, da die übrigen Anspruchsvoraussetzungen des § 74 AVAVG gegeben seien, Anspruch auf Alg erworben.

Revision wurde zugelassen.

Gegen das Urteil legte die Beklagte Revision ein. Sie ist der Ansicht, der Kläger habe die Anwartschaftszeit des § 85 Abs. 1 AVAVG aus zwei Gründen nicht erfüllt. Einmal, weil ihm ab 1. April 1959 Rente wegen Berufsunfähigkeit zuerkannt worden sei und deshalb seine Tätigkeit von diesem Zeitpunkt an gemäß § 57 Satz 2 AVAVG in der bis 30. November 1959 geltenden Fassung versicherungsfrei geworden wäre. Da die vom Kläger nachgewiesene, als Anwartschaftszeit in Frage kommende, Beschäftigung in vollem Umfang im zeitlichen Geltungsbereich des bis 30. November 1959 geltenden Rechts läge, sei auch die Frage, ob diese Tätigkeit arbeitslosenversicherungspflichtig gewesen war, allein nach dem zur Zeit der Beschäftigung geltenden Recht zu beurteilen. Der Kläger könne somit innerhalb der Rahmenfrist eine versicherungspflichtige Beschäftigung nur für die Zeit vom 2. Januar bis zum 31. März 1959 nachweisen.

Selbst wenn jedoch die Tätigkeit des Klägers bis zum 30. Juni 1959 versicherungspflichtig gewesen wäre, habe er trotzdem die Voraussetzungen des § 85 Abs. 1 Satz 1 AVAVG nicht erfüllt. Der Begriff "sechs Monate" sei erst nachträglich durch die Novelle zum AVAVG vom 23. Dezember 1956 in den § 95 AVAVG - jetzt § 85 - eingefügt worden, um dem in der Grundsätzlichen Entscheidung des Reichsversicherungsamts 4924 entwickelten Grundsatz Rechnung zu tragen, daß die Anwartschaftszeit auch durch eine versicherungspflichtige Beschäftigung von weniger als 182 Tagen = 26 Wochen erfüllt werden könne, wenn sie nur sechs volle Monate gedauert habe. Es habe zweifellos nicht in der Absicht des Gesetzgebers gelegen, eine Beschäftigung von 6 x 30 = 180 Tagen grundsätzlich in jedem Fall zur Erfüllung der Anwartschaftszeit genügen zu lassen.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 14. Dezember 1962 und des SG Speyer vom 8. März 1962 die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten gewesen.

II.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig und begründet.

Nach § 85 Abs. 1 AVAVG hat die Anwartschaftszeit des § 74 Abs. 1 AVAVG erfüllt und damit - bei Vorliegen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen des § 74 Abs. 1 AVAVG - einen Anspruch auf Alg, wer in der Rahmenfrist des § 85 Abs. 2 AVAVG 26 Wochen oder sechs Monate in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden hat. Die Rahmenfrist beträgt zwei Jahre und geht dem Tag der Arbeitslosmeldung, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg erfüllt sind, unmittelbar voraus (§ 85 Abs. 2 AVAVG).

Der Kläger hat sich erstmals unstreitig am 2. Januar 1961 arbeitslos gemeldet. Die Rahmenfrist lief daher vom 2. Januar 1959 bis zum 1. Januar 1961. Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger in dieser Rahmenfrist lediglich vom 2. Januar bis zum 30. Juni 1959 durch seine Beschäftigung bei der Agrippina in einem Arbeitsverhältnis gestanden. Dieses Beschäftigungsverhältnis war aber nach § 57 AVAVG i. d. F. vom 3. April 1957 (BGBl I 321) vom 1. April 1959 an versicherungsfrei, weil dem Kläger von diesem Zeitpunkt an eine Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Rentenversicherung der Angestellten zuerkannt war.

Erst durch Art. I Nr. 5 des 2. Änderungsgesetzes zum AVAVG vom 7. Dezember 1959 (BGBl I 705) wurden mit Wirkung vom 1. Dezember 1959 in § 57 AVAVG, der die Versicherungsfreiheit u. a. wegen Alters oder Rentenbezuges regelt, die Worte "Invalidität oder Berufsunfähigkeit" allein durch den Begriff "Erwerbsunfähigkeit" ersetzt und damit die gesamte Bestimmung durch die Wahl des Wortes Erwerbsunfähigkeit an den entsprechenden neuen Begriff der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze angepaßt. Bis zum 30. November 1959 hatte nach dem Wortlaut des § 57 AVAVG aF die Zuerkennung von Berufsunfähigkeits- wie auch Invalidenrente oder öffentlich-rechtlicher Bezüge ähnlicher Art die Versicherungsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung zur Folge. Erst nach diesem Zeitpunkt bewirkte die Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitsrente nicht mehr die Versicherungsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung für Beschäftigungen von mehr als geringfügigem Umfang.

Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) war dem Kläger ab 1. April 1959 Rente wegen Berufsunfähigkeit zuerkannt worden. Seine Beschäftigung als Angestellter wurde damit nach dem zu dieser Zeit geltenden § 57 AVAVG kraft Gesetzes ab 1. April 1959 versicherungsfrei. Denn die gesamte von ihm innerhalb der Rahmenfrist (2. Januar 1959 bis zum 1. Januar 1961) als Anwartschaftszeit nachweisbare Beschäftigungszeit fiel in den zeitlichen Geltungsbereich des § 57 AVAVG in der bis zum 30. November 1959 geltenden Fassung. Auf Grund dieses Sachverhalts muß daher die Frage, ob seine Beschäftigung bei der Agrippina arbeitslosenversicherungspflichtig gewesen war, allein nach dem zur Zeit seiner Beschäftigung bei dieser Firma geltenden Recht beurteilt werden, auch wenn dieses Recht bei seiner späteren Arbeitslosmeldung und Antragstellung auf Alg bereits längere Zeit nicht mehr galt und nach dem neuen Recht eine gegenteilige Beurteilung hätte getroffen werden müssen. Nach der im Einklang mit der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts stehenden Rechtsprechung des erkennenden Senats wie auch des 4. Senats regelt "neues Recht grundsätzlich nur diejenigen Ansprüche, die auf Tatbeständen beruhen, die erst nach seinem Inkrafttreten eingetreten sind. Tatbestände dagegen, die bereits vollständig vor dem Inkrafttreten einer Neuregelung vorgelegen haben, vermögen an sich nur insoweit Ansprüche zu begründen, als dies nach den zur Zeit ihres Eintritts geltenden gesetzlichen Vorschriften vorgesehen war" (vgl. BSG 7, 284; 9, 244; 12, 98; AN 1930 Nr. 3877 S. 450 und die dort zitierten älteren Entscheidungen). Etwas anderes, von diesem Grundsatz abweichendes, kann immer nur dann und dort gelten, wenn der Gesetzgeber in den zu dem neuen Recht erlassenen Übergangsvorschriften dies ausdrücklich und im einzelnen genau bestimmt und festgelegt hat. Eine Übergangsbestimmung für jene Fälle, in denen nach dem alten Recht keine Anwartschaftszeit erworben werden konnte, wohl aber nach dem neuen Recht, wurde durch das 2. Änderungsgesetz zum AVAVG vom 7. Dezember 1959 nicht getroffen; lediglich für die Fälle, in denen nach dem alten Recht die Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg erfüllt worden waren, gibt Art. II des 2. Änderungsgesetzes Übergangsregelungen.

Eine Möglichkeit, die in Frage kommende, in den Geltungsbereich des alten Rechts fallende "Anwartschaftszeit" insgesamt ausnahmsweise nach dem neuen Recht zu beurteilen, obwohl keine diesbezüglichen Übergangsregelungen bestehen, wäre allenfalls nur dann gegeben, wenn diese mit wenigstens einem Tag auch in den Geltungsbereich des neuen Rechts hineinragen würde (vgl. Entscheidung des 7. Senats in BSG 9, 244). Das ist jedoch nach den Feststellungen des LSG gerade nicht der Fall.

Auf die Revision der Beklagten muß daher die Klage abgewiesen werden, ohne daß es noch auf das weitere Vorbringen ankommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2239651

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