Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 20.08.1965)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. August 1965 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger statt der ihm bewilligten Rente wegen Berufsunfähigkeit eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit zustand.

Der Kläger ist am 22. April 1900 geboren. Nach Absolvierung einer kaufmännischen Lehre war er zunächst Handlungsgehilfe und Gewerkschaftsangestellter, danach von 1929 an stellvertretender Direktor eines Arbeitsamts. Im Jahre 1933 wurde er auf Grund des § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen. Nach längerer Arbeitslosigkeit war er von 1936 bis 1944 als Bürogehilfe und kaufmännischer Büroangestellter beschäftigt. Vom Juli 1944 bis Juli 1945 leistete er Kriegsdienst und befand er sich in Kriegsgefangenschaft. Seit September 1945 war er wieder bei der Arbeitsverwaltung tätig, zunächst im Angestelltenverhältnis und seit 1947 als Regierungsrat im Beamtenverhältnis. 1961 wurde er wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt.

Vom 1. November 1961 bis 31. März 1965 bezog der Kläger von der Beklagten wegen verschiedener Altersleiden Rente wegen Berufsunfähigkeit. Seit dem 1. April 1965 erhält er Altersruhegeld.

Der Kläger begehrt für die Zeit vom 1. November 1961 bis 31. März 1965 statt der ihm bewilligten Rente wegen Berufsunfähigkeit eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit. Das Sozialgericht (SG) H. hat durch weitere ärztliche Untersuchungen zunächst geklärt, daß der Kläger nach seinem Gesundheitszustand in der streitigen Zeit noch täglich zwei bis drei Stunden arbeiten konnte. Weiter hat es Beweis darüber erhoben, ob für ihn Arbeitsmöglichkeiten in H. bestanden, und zwar durch entsprechende Anfragen beim Arbeitsamt H. und bei der Industrie- und Handelskammer H. Ferner hat das SG verschiedene Tageszeitungen auf Stellenanzeigen für Teilzeitbeschäftigungen durchgesehen und darüber einen Vermerk gefertigt, der den Beteiligten zugänglich gemacht worden ist.

Durch Urteil vom 11. März 1965 hat das SG die Klage abgewiesen. Entscheidend sei, daß der Kläger noch in gewisser Regelmäßigkeit zwei bis drei Stunden täglich lohnbringende Arbeiten hätte verrichten können. In H. seien auch für ihn in Betracht kommende Arbeitsplätze vorhanden gewesen; in diesem Wirtschaftszentrum habe es für ihn geeignete Stellen immer gegeben.

Die hiergegen vom Kläger eingelegte Berufung ist erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat sich im wesentlichen der Auffassung des SG angeschlossen. Insbesondere ist es ebenfalls der Meinung, für den Kläger in Betracht kommende Teilzeitarbeitsplätze seien in H. nicht nur in der Industrie und in Großbetrieben, sondern auch in kleineren Gewerbebetrieben und in Einzelhandelsgeschäften vorhanden gewesen. Wenn das Arbeitsamt und die Industrie- und Handelskammer in ihren Auskünften nichts von Teilzeitarbeitsplätzen für kaufmännische oder Büroangestellte erwähnten, so besage das nicht, daß es solche Stellen nicht gebe. Die Arbeitsämter wüßten hiervon nichts, weil sie nur Arbeitskräfte unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes vermittelten und registrierten und sich um Teilzeitarbeitsplätze nur in Ausnahmefällen kümmerten. Die Industrie- und Handelskammer könne aus eigener Kenntnis hierzu überhaupt nichts wissen, sondern sich nur auf Auskünfte ihrer Mitglieder stützen, diese seien jedoch unvollständig und unzuverlässig, wie dem Senat bekannt sei. Auskünfte von Arbeitsämtern, Industrie- und Handelskammern über vorhandene Teilzeitarbeitsplätze seien nicht maßgebend, wenn sie mit der täglichen Lebenserfahrung nicht übereinstimmten. Die Einwendungen des Klägers, daß Teilzeitarbeitsplätze in H. für kaufmännische- und Büroangestellte nicht existierten, seien unbegründet. Das ergebe sich einmal aus den vom SG gesammelten entsprechenden Stellenanzeigen, dann aber auch aus gelegentlichen Mitteilungen der ehrenamtlichen Mitglieder des Senats aus H., in deren Betrieben zum Teil auch männliche Teilzeitarbeitskräfte im Büro beschäftigt würden, aus der allgemein bekannten Tatsache (§ 291 ZPO), daß es Stundenbuchhalter gebe, und aus der persönlichen Kenntnis der richterlichen Mitglieder des erkennenden Senats über die Verhältnisse in einigen kaufmännischen und gewerblichen Betrieben. Wenn es überhaupt in der Bundesrepublik Deutschland Teilzeitarbeitsplätze für männliche Arbeitnehmer gebe, dann nach der allgemeinen Lebenserfahrung in einer Großstadt wie H. mit fast 600 000 Einwohnern.

Mit entsprechenden Tätigkeiten hätte der Kläger auch noch mehr als geringfügige Einkünfte erzielen können. Für stundenweise ausgeführte Büroarbeiten seien durchschnittlich 3,– DM pro Stunde bezahlt worden. Bei einer täglichen Arbeitszeit von 2 1/2 Stunden an 22 Wochentagen im Monat hätte das 165,– DM monatlich und damit auf jeden Fall mehr als das sogenannte Lohnfünftel ergeben (BSG 19, 147).

Das LSG hat in seinem Urteil vom 20. August 1965 die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrage,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des SG H. vom 11. März 1965 sowie des Bescheides der Beklagten vom 9. Februar 1962 diese zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. November 1961 bis 31. März 1965 zu zählen.

Er weist zunächst darauf hin, nach seinem Werdegang könne ihm die Verrichtung einfacher Büroarbeiten nach Treu und Glauben nicht zugemutet werden (BSG SozR § 1247 RVO Nr. 6). Die Meinung des LSG, daß es für ihn Arbeitsplätze für täglich zwei bis drei Stunden gegeben habe, sei im übrigen eine unbewiesene Behauptung. Das LSG hätte diese Frage nicht aus eigener Sachkenntnis entscheiden dürfen. Seine Argumente seien allgemeine Redensarten, die einer prozessualen Nachprüfung nicht standhielten. Es könne keine Rede davon sein, daß es sich insoweit um allgemeinkundige oder gerichtskundige Tatsachen handele. Privates Wissen der Berufsrichter oder der ehrenamtlichen Beisitzer seien keine offenkundigen Tatsachen im Sinne des § 291 ZPO. Es sei lediglich zuzugeben, daß es Stundenbuchhalter gebe. Damit sei aber keineswegs gesagt, daß es nach der allgemeinen Lebenserfahrung auch genügende Stellen dieser Art in H. gebe. Die persönliche Kenntnis der Berufsrichter und der ehrenamtlichen Beisitzer sei nicht geeignet, eine zutreffende Überzeugungsbildung zu ermöglichen. Kein Richter könne Richter und heimlicher Zeuge zugleich sein. Außerdem sei der Grundsatz des rechtlichen Gehörs dadurch verletzt worden, daß das LSG die Prozeßbeteiligten nicht vorher darauf hingewiesen habe, daß es die angeblich gerichtskundigen Tatsachen und sein privates Wissen bei der Urteilsfindung verwerten wolle.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.

Allerdings ist das LSG ähnlich wie der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Beschluß vom 11. Dezember 1969 – GS 2/68 – mit Recht davon ausgegangen, daß es für die Beurteilung, ob ein Versicherter erwerbsunfähig im Sinne des § 24 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ist, erheblich ist, daß Arbeitsplätze, die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, seien sie frei oder besetzt, vorhanden sind. Die in diesem Beschluß entwickelten Rechtsgrundsätze sind zwar allein zu § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in bezug auf die Arbeiterrentenversicherung (ArV) ergangen. Sie gelten jedoch in der Regel entsprechend auch für § 24 Abs. 2 AVG in der Angestelltenversicherung (AnV), da der Wortlaut beider Vorschriften übereinstimmt und in beiden Versicherungszweigen der Begriff der Erwerbsunfähigkeit ein einheitlicher ist. Das schließt indes nicht aus, daß aus Rechtsgründen sowie wegen gewisser Unterschiede in den tatsächlichen Gegebenheiten eine völlig gleichartige Beurteilung der Begriffe der Erwerbsunfähigkeit in der ArV – AnV – nicht möglich ist. So wird es z. B. insbesondere bei der Beantwortung der Frage, auf welche anderen Tätigkeiten der Versicherte verwiesen werden kann, für Angestellte und Arbeiter gewisse Abweichungen geben. Außerdem ist die Arbeitsmarktlage für beide Arbeitnehmergruppen nicht dieselbe. Sodann ist u. a. zu berücksichtigen, daß der Arbeiter vielfach vorwiegend auf die Verwertung seiner Körperkräfte angewiesen ist, die früher nachzulassen pflegen als die geistigen Kräfte, und daß andererseits die geistige Tätigkeit ohnehin überwiegend in geschlossenen Räumen und im Sitzen zu verrichten ist. Insoweit bieten sich daher für einen Angestellten offensichtlich eher Möglichkeiten für eine Teilzeitbeschäftigung vorwiegend im Sitzen als z. B. für einen Landarbeiter.

Das LSG hat sich jedoch damit begnügt, festzustellen, daß es seiner Ansicht nach in H. für den Kläger geeignete Teilzeitarbeitsplätze überhaupt gegeben hat. Das genügt aber nach der genannten Entscheidung des Großen Senats nicht. Danach kommt es vielmehr auch darauf an, in welcher Zahl solche Arbeitsplätze vorhanden sind. Der Versicherte darf auf Tätigkeiten nur verwiesen werden, wenn ihm für diese der Arbeitsmarkt praktisch nicht verschlossen ist. Das ist der Fall, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für den Versicherten in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 zu 100. Hierzu hat sich das LSG nicht geäußert und auch keine entsprechenden Feststellungen getroffen.

Da der Senat die hiernach noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, ist der Rechtsstreit nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen.

Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das LSG zu beachten haben, daß es allgemeinbekannte oder gerichtsbekannte Tatsachen nur verwerten darf, wenn es sie zum Gegenstand der Verhandlung gemacht hat (BGHZ 31, 43, 45; BVerfG 10, 177). Abgesehen hiervon entspricht es auch nicht schon der allgemeinen Lebenserfahrung, daß unterhalbschichtige Teilzeitarbeitsplätze wenigstens in Wirtschaftszentren in dem angegebenen ausreichenden Verhältnis ohne weiteres vorhanden sind, vielmehr ist in der Regel eher das Gegenteil anzunehmen (Großer Senat aaO).

Möglicherweise wird es schwierig sein, die Verhältnisse in den Jahren 1961 bis 1965 jetzt noch bis ins Einzelne genau aufzuklären. In diesen Fällen wird es jedoch im allgemeinen genügen, die derzeitige Arbeitsmarktlage nach den Grundsätzen des genannten Beschlusses des Großen Senats zu ermitteln und daraus unter Berücksichtigung des seitherigen Konjunkturverlaufs Schlüsse für die Vergangenheit zu ziehen.

Im übrigen wird das LSG über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926664

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