Orientierungssatz
Nationalgeschädigte iS von BEGSchlG Art 6 Nr 1 sind keine Verfolgten iS von BEG § 1 (Anschluß an BSG vom 1975-10-29 12 RJ 90/75 = SozR 2200 § 1251 Nr 14).
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22, § 1252 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1972-10-16; BEG § 1; BEGSchlG Art. 6 Nr. 1 Fassung: 1965-09-14
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 21.03.1974; Aktenzeichen III JBf 129/73) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 24.10.1973; Aktenzeichen 18 J 1380/72) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 21. März 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin ist im Jahre 1927 in L geboren. Sie lebt seit 1957 als Staatenlose in Kanada.
Während des zweiten Weltkrieges wurde sie als Polin im Jahre 1942 nach Deutschland verbracht; dort mußte sie bis Kriegsende in der Landwirtschaft arbeiten. In dieser Zeit sind für sie insgesamt für 37 Kalendermonate Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet worden.
Ihr im Jahre 1972 gestellter Antrag auf Gewährung der Versichertenrente wurde von der Beklagten abgelehnt. Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 24. Oktober 1973, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 21. März 1974). Das LSG hat u. a. ausgeführt, die Klägerin habe die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten nicht erfüllt. Außer den 37 Beitragsmonaten könnten weitere Versicherungszeiten nicht angerechnet werden. Die Klägerin berufe sich zwar darauf, daß sie in Deutschland während des Krieges Zwangsarbeiten unter haftähnlichen Bedingungen habe verrichten müssen und nach Kriegsende infolge der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen längere Zeit arbeitslos oder krank gewesen sei. Eine Anrechnung dieser Zeit als Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) komme jedoch schon deshalb nicht in Betracht, weil die Klägerin nicht Verfolgte i. S. des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) sei. Sie sei insbesondere nicht aus Gründen der Rasse Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen. Auch die Wartezeitfiktion des § 1252 Abs. 1 Nr. 4 RVO finde aus denselben Gründen keine Anwendung. Schließlich komme das deutsch-kanadische Abkommen über Soziale Sicherheit vom 30. März 1971 als Anspruchsgrundlage nicht in Betracht.
Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Anspruch weiter. Sie ist insbesondere der Auffassung, daß sie Verfolgte des Nationalsozialismus sei und in Deutschland ein Leben unter haftähnlichen Bedingungen geführt habe.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Tatsacheninstanzen und den dem Verfahren zugrundeliegenden Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung der Versichertenrente zu verurteilen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Die Revision ist nicht begründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Sie hat die Wartezeit von 60 Kalendermonaten (§ 1246 Abs. 3 bzw. § 1247 Abs. 3 RVO) nicht erfüllt, für sie sind nur 37 Beitragsmonate nachgewiesen. Die Anrechnung einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die Klägerin nicht Verfolgte im Sinne des § 1 BEG ist. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift ist Verfolgter, wer aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat. Die Deportation von Polen während des zweiten Weltkrieges kann hier nicht eingeordnet werden, sie ist insbesondere nicht aus Gründen der Rasse erfolgt. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) in seiner zur Veröffentlichung vorgesehenen Entscheidung vom 29. Oktober 1975 - 12 RJ 90/75 - bereits ausgesprochen. Der dort vertretenen Auffassung, die durch zahlreiche Hinweise auf Rechtsprechung und Schrifttum gestützt ist, schließt sich der erkennende Senat nach eigener Prüfung an. Bestätigt wird diese Auffassung insbesondere dadurch, daß der Gesetzgeber in Art. VI Nr. 1 des BEG-Schlußgesetzes für die Nationalgeschädigten eine besondere Regelung getroffen hat (vgl. BSG aaO mit weiteren Hinweisen). Die Klägerin mag Nationalgeschädigte in dem vorbezeichneten Sinne sein - darüber hat das BSG nicht zu befinden, insbesondere keine Entschädigung im Sinne des BEG-Schlußgesetzes festzusetzen -, zu dem Personenkreis des § 1 Abs. 1 BEG gehört sie jedenfalls nicht.
Dafür, daß eine der in § 1 Abs. 2 und 3 BEG getroffenen Regelungen auf die Klägerin zutreffen könnte, ergibt sich kein Anhalt. Selbst wenn man unterstellt, daß - wie die Klägerin vorgetragen hat - ihr Vater als Verfolgter des Nationalsozialismus ums Leben gekommen ist, so läßt sich aus den Akten kein Hinweis darauf entnehmen, daß sie selbst gerade in ihrer Eigenschaft als Hinterbliebene eines Verfolgten nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt war. Damit ist auch für die Wartezeitfiktion des § 1252 Abs. 1 Nr. 4 RVO kein Raum.
Schließlich hat das LSG zu Recht darauf hingewiesen, daß das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada über Soziale Sicherheit keine Regelung enthält, die die Klägerin zur Begründung ihres Anspruchs heranziehen könnte.
Die Revision muß daher zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen