Leitsatz (amtlich)
Zum Umfang der Prüfungspflicht des Rentenversicherungsträgers bei der erneuten Entscheidung nach Schlußprotokoll Abk Österreich SozSich Nr 19 Buchst b Nr 3 Buchst b und c vom 1966-12-22.
Normenkette
FRG § 2 Fassung: 1960-02-25; SozSichAbkSchlProt AUT Nr. 19 Buchst. b Nr. 3 Buchst. c
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Dezember 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) Versicherungs- bzw. Beschäftigungszeiten, die der Kläger von 1920 bis 1925 und von 1927 bis 1941 in Jugoslawien zurückgelegt haben will, nach Ziffer 19 des Schlußprotokolls zum Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Soziale Sicherheit vom 22. Dezember 1966 (BGBl II 1969, 1235) zu berücksichtigen hat.
Der Kläger zog im Mai 1943 von K, Jugoslawien, nach K, Österreich. Dort wohnte er bis November 1955. Seitdem lebt er in der Bundesrepublik. Er hat die deutsche Staatsangehörigkeit im März 1954 erworben. Er besitzt den Vertriebenenausweis A. Seit Mai 1960 bezieht er von der Beklagten Rente - zunächst wegen Berufsunfähigkeit, seit Januar 1964 wegen Erwerbsunfähigkeit. Außerdem erhält er eine Invalidenrente aus der österreichischen Sozialversicherung (Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, W, vom 7. April 1961). Dabei blieben die jugoslawischen Zeiten zunächst unberücksichtigt; dann aber rechnete die Pensionsversicherungsanstalt W die in Jugoslawien zurückgelegten Zeiten von August 1925 bis März 1927 und von September 1941 bis Februar 1946 an (Bescheid vom 29. Juli 1970).
Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 10. November 1972 die Rente des Klägers nach Ziffer 19 des Schlußprotokolls zum deutsch-österreichischen Abkommen vom 22. Dezember 1966 neu fest. Dabei berücksichtigte sie die von dem österreichischen Versicherungsträger anerkannten jugoslawischen Zeiten. Sie meinte, der Kläger sei, soweit er weitere jugoslawische Zeiten geltend mache, an den österreichischen Versicherungsträger zu verweisen; dieser habe über die Berücksichtigung solcher Zeiten zu entscheiden.
Das Sozialgericht (SG) hat die auf Anerkennung der von 1920 bis August 1925 und von April 1927 bis August 1941 in Jugoslawien verbrachten Zeiten gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Juni 1973).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 10. Dezember 1974). Das LSG hat im wesentlichen ausgeführt, die Entscheidung darüber, ob die streitigen Zeiten bei der Berechnung der Rente des Klägers anzurechnen seien, obliege ausschließlich dem österreichischen Versicherungsträger (Art. 4 und 5 des Zweiten Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Sozialversicherung vom 11. Juli 1953 - BGBl II 1954, 773; Art. 17 des Finanz- und Ausgleichsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich vom 27. November 1961 - BGBl II 1962, 1044, 1062; § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3, § 2, Abs. 1 Buchst. a, §§ 6 und 22 des österreichischen Auslandsrentenübernahmegesetzes vom 22. November 1961; § 2 Buchst. b, dritte Alternative, Fremdrentengesetz - FRG -). Ziffer 19 Buchst. b Nr. 2 Buchst. a Satz 1 des Schlußprotokolls zum Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Soziale Sicherheit vom 22. Dezember 1966 (BGBl II 1969, 1247) hebe den Ausschluß des FRG hinsichtlich der Berechnung der Rente auf, begründe aber für bereits eingetretene Versicherungsfälle keine neue Zuständigkeit für die Feststellung, ob und ggf. welche Versicherungszeiten bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen seien. Insoweit bleibe es bei der Zuständigkeit des bei Eintritt des Versicherungsfalles zur Berücksichtigung dieser Zeiten verpflichteten Versicherungsträgers, hier des österreichischen Versicherungsträgers. Nach Sinn und Zweck der Versicherungslastregelung zwischen der Bundesrepublik und der Republik Österreich könne die Beklagte nur solche Zeiten in die nach Ziffer 19 des Schlußprotokolls vorzunehmende Vergleichsberechnung einbeziehen, die bereits von dem österreichischen Versicherungsträger berücksichtigt worden seien. Auch aus dem deutsch-jugoslawischen Vertrag über die Regelung gewisser Forderungen aus der Sozialversicherung vom 10. März 1956 (BGBl II 1958, 170) sowie dem deutsch-jugoslawischen Abkommen über Soziale Sicherheit vom 12. Oktober 1968 (BGBl II 1969, 1438) ließen sich Ansprüche des Klägers nicht herleiten; durch diese Vereinbarungen seien die mit Österreich getroffenen Versicherungslastregelungen nicht geändert worden.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. November 1972 aufzuheben und diese zur Neuberechnung der Rente unter Berücksichtigung der von 1920 bis Anfang August 1925 und von April 1927 bis August 1941 in Jugoslawien zurückgelegten Zeiten zu verurteilen.
Die Revision meint, das Urteil des LSG stehe im Widerspruch zu dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. April 1975 - 12 RJ 180/74 (= SozR 6678 Nr. 19, Nr. 1). Danach müßten die in Jugoslawien zurückgelegten Versicherungszeiten von der Beklagten angerechnet werden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie meint, auch bei Berücksichtigung des Urteils des BSG vom 30. April 1975 könnten die jugoslawischen Versicherungszeiten des Klägers nicht angerechnet werden; sie seien weder nachgewiesen noch hinreichend glaubhaft gemacht worden.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet. Die Entscheidung des LSG ist nicht rechtswidrig. Weder die sozialversicherungsrechtlichen Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien noch die Vereinbarungen mit Österreich noch das FRG begründen die Anrechnung der streitigen Zeiten durch die Beklagte.
Eine Anrechnung nach dem deutsch-jugoslawischen Abkommen vom 12. Oktober 1968 oder dem deutsch-jugoslawischen Vertrag vom 10. März 1956 ist nicht möglich; denn die in Jugoslawien zurückgelegten Zeiten sind in die österreichische Zuständigkeit übergegangen (Art. 2 Buchst. a des deutsch-jugoslawischen Vertrages von 1956). Nach dem deutsch-jugoslawischen Abkommen von 1968 werden grundsätzlich die nach den Rechtsvorschriften beider Vertragsstaaten anrechnungsfähigen Versicherungszeiten berücksichtigt (Art. 25 Abs. 1); Rechtsvorschriften in diesem Sinn sind auch zwischenstaatliche Verträge, soweit sie Versicherungslastregelungen enthalten (Art. 2 Abs. 2); eine derartige Versicherungslastregelung enthält der deutschjugoslawische Vertrag von 1956. Danach übernehmen die deutschen Rentenversicherungsträger gegenüber denjenigen Deutschen, die am 1. Januar 1956 ihren ständigen Wohnsitz in der Bundesrepublik hatten, nach Maßgabe "innerstaatlichen Rechts" alle Verpflichtungen aus den rentenversicherungsrechtlichen Anwartschaften und Ansprüchen, soweit diese Anwartschaften und Ansprüche aus den bis zum 1. Januar 1956 in der jugoslawischen Sozialversicherung zurückgelegten Versicherungszeiten erwachsen sind (Art. 1 Abs. 1 Buchst. a, Art. 2 Buchst. a des deutsch-jugoslawischen Vertrags von 1956). Der Kläger erfüllt zwar diese Voraussetzungen, jedoch ist der deutsch-jugoslawische Vertrag hier nicht anzuwenden; denn "innerstaatliches Recht" ist auch das Zweite deutsch-österreichische Abkommen vom 11. Juli 1953 gemäß dem Zustimmungsgesetz vom 21. August 1954 (BGBl II 1954, 773; Art. 59 Abs. 2 GG) und danach sind Ansprüche und Anwartschaften des Klägers aus seinen jugoslawischen Zeiten von der deutschen in die österreichische Zuständigkeit übergegangen.
Nach den deutsch-österreichischen Vereinbarungen ist der Anspruch des Klägers nicht begründet.
Teil III Art. 4 Abs. 1 Nr. 4 des Zweiten deutsch-österreichischen Abkommens betrifft vor dem 1. Mai 1945 entstandene und nicht in die deutsche Rentenversicherung übernommene Leistungsansprüche und Anwartschaften ua aus der jugoslawischen Sozialversicherung von Personen, die sich im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens - am 11. Juli 1953 - im Gebiet der Republik Österreich nicht nur vorübergehend aufhalten und in diesem Zeitpunkt als Volksdeutsche anzusehen sind. Nach Art. 5 Abs. 1 des Zweiten deutsch-österreichischen Abkommens wurden Leistungen aufgrund dieser Leistungsansprüche und Anwartschaften ausschließlich aus der österreichischen Versicherung gewährt. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des Art. 4; denn er ist Volksdeutscher und hielt sich am 11. Juli 1953 nicht nur vorübergehend in Österreich auf. Eine damalige Absicht des Klägers, in die Bundesrepublik zu übersiedeln, ist in Anbetracht des langen Aufenthalts in Österreich ohne Bedeutung; das zeitliche Moment ist ausschlaggebend (BSG 21, 91).
Teil III mit Art. 4 und 5 des Zweiten deutsch-österreichischen Abkommens ist mit dem deutsch-österreichischen Finanz- und Ausgleichsvertrag vom 27. November 1961 außer Kraft getreten; er hatte sich im Laufe seiner Anwendung nicht als geeignetes Instrument nach der Leistungsseite und hinsichtlich des finanziellen Ausgleichs erwiesen. Er wurde entsprechend dem Notenwechsel V und V a vom 27. November 1961 durch das innerstaatliche österreichische Auslandsrentenübernahmegesetz (ARÜG) vom 22. November 1961 ersetzt. Als Gegenleistung zahlte die Bundesrepublik an Österreich 95 Millionen DM (Art. 17 Finanz- und Ausgleichsvertrag). Dies zeigt, daß durch die Zuordnung der jugoslawischen Versicherungs- und Beschäftigungszeiten in die österreichische Zuständigkeit diese Zeiten aus dem deutschen Bereich ausgeschieden sind.
Daran hat sich durch das deutsch-österreichische Abkommen vom 22. Dezember 1966, insbesondere durch die Ziffer 19 Buchst. b Nr. 3 des Schlußprotokolls zu diesem Abkommen (Art. 49 des Abkommens) für die Fälle der Vergangenheit hinsichtlich der Zuordnung von Zeiten in die Zuständigkeit der österreichischen Rentenversicherung nichts Grundsätzliches geändert. Eine Anrechnung der streitigen Zeiten durch die Beklagte, wie vom Kläger begehrt, ist auch durch diese neuen Bestimmungen nicht ermöglicht worden.
Die hier maßgebende Ziffer 19 Buchst. b Nr. 3 Buchst. b des Schlußprotokolls bestimmt sinngemäß: Hat ein Träger eines Vertragsstaates für Zeiten vor Inkrafttreten des Abkommens eine zahlbar gewesene Rente entzogen oder gekürzt oder die Gewährung einer Rente abgelehnt, weil die maßgebenden Versicherungszeiten nach dem Zweiten deutsch-österreichischen Abkommen (Art. 53 des Abkommens von 1966) oder nach der gemäß dem Brief Nr. V 1 zu dem Finanz- und Ausgleichsvertrag getroffenen gesetzlichen Regelung einem Träger des anderen Vertragsstaates zugeordnet wurden, so entscheidet der Träger des ersten Vertragsstaates für die Zeit frühestens vom 1. Januar 1953 an erneut (Satz 1); er läßt dabei für die Feststellung und Gewährung der Rente den Teil III des Zweiten deutsch-österreichischen Abkommens und die gemäß dem Brief V 1 zu dem Finanz- und Ausgleichsvertrag getroffene gesetzliche Regelung außer Betracht (Satz 2). Das "Außerbetrachtlassen" bedeutet, daß der deutsche Rentenversicherungsträger bei der Feststellung der Rente die Zeiten, die in die Zuständigkeit des österreichischen Versicherungsträgers überführt wurden, nach deutschem Recht bewertet. Das "Außerbetrachtlassen" kann aber nicht in dem weiten Sinn verstanden werden, daß der deutsche Rentenversicherungsträger nunmehr solche Zeiten, die von dem zuständig gewordenen österreichischen Versicherungsträger nicht als anrechnungsfähig festgestellt sind, etwa weil ihm eine Beschäftigung nicht nachgewiesen erschien, daraufhin nach deutschem Recht überprüfen und gegebenenfalls anrechnen muß. Gegen eine solche ausdehnende Auffassung spricht der Sinn und Zweck der zwischenstaatlichen Regelung. Ziffer 19 Buchst. b Nr. 3 Buchst. b des Schlußprotokolls soll gegenüber den Versicherten Härten beseitigen, die sich aus der Anwendung der bisherigen Vereinbarungen ergeben hatten. Sie bestanden insbesondere, wenn auf in die österreichische Zuständigkeit gehörende anrechnungsfähige Beschäftigungs- und Versicherungszeiten im Vergleich zum deutschen Recht geringere Leistungen entfielen. Diese Lage wird durch Ziffer 19 Buchst. b Nr. 3 des Schlußprotokolls verbessert, indem die deutschen Rentenversicherungsträger die Renten nach innerstaatlichem Recht neu feststellen. Diese Regelung bezweckt indes nicht, die Versicherungslast des österreichischen Versicherungsträgers zu vermindern und ihn zu entlasten. Dies zeigt besonders Ziffer 19 Buchst. b Nr. 3 Buchst. c Satz 3 und 4 des Schlußprotokolls (vgl. auch den Abschnitt "Zu Ziffer 19 des Schlußprotokolls" der Denkschrift der Bundesregierung zum deutsch-österreichischen Abkommen von 1966, Bundestags-Drucks. V 2584).
Diese Auslegung entspricht auch einem allgemeinen Grundsatz, wonach das Vorliegen der für den Anspruchserwerb maßgebenden Zeiten von dem Versicherungsträger, in dessen Bereich die Zeiten zurückgelegt sind oder als solche gelten, nach Maßgabe des für ihn geltenden innerstaatlichen Rechts zu prüfen ist (vgl. Art. 26 des deutsch-österreichischen Abkommens von 1966).
Es ist somit nicht rechtswidrig, daß die Anrechnung der streitigen Zeiten des Klägers abgelehnt wurde, weil über deren Anrechnungsfähigkeit und Einbeziehung der österreichische Versicherungsträger zu entscheiden habe.
Das Urteil des BSG vom 30. April 1975 - 12 RJ 180/74 - steht dem nicht entgegen. In jenem Fall, in dem es sich um eine in Jugoslawien zurückgelegte Beschäftigungszeit handelte, die in den österreichischen Bereich übergegangen war, war umstritten, ob diese Beschäftigungszeit damit im "Gebiet" der Republik Österreich im Sinne der Ziffer 19 Buchst. b Nr. 2 Buchst. c) aa) des Schlußprotokolls zurückgelegt sei. Der Streit ging nicht darum, ob eine Zeit, die an sich in die Zuständigkeit des österreichischen Versicherungsträgers fällt, aber von ihm als anrechnungsfähige Beschäftigungszeit nicht anerkannt ist, nunmehr vom deutschen Versicherungsträger als anrechnungsfähig anzuerkennen sei.
Eine Anerkennung und Anrechnung der streitigen Zeiten nach dem FRG scheidet nach § 2 Buchst. b, dritte Alternative, FRG aus. Nach der Denkschrift zum Abkommen von 1966 zu Ziffer 19 Buchst. b Nr. 2 Buchst. a und zu Nr. 3 Buchst. b ist die Subsidiarität des FRG für künftig eintretende Versicherungsfälle aufgehoben, während die Regelung für die Vergangenheit, die hier eingreift, in Ziffer 19 Buchst. b Nr. 3 aaO enthalten ist.
Nach alledem war die Revision unbegründet und zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen