Leitsatz (amtlich)

Zeiten ab Oktober 1944, in denen ein Soldat der ungarischen Armee mit seinem danach der deutschen Wehrmacht angeschlossenen Verband von deutschen Befehlshabern für militärische Aufgaben eingesetzt wurde, sind Zeiten militärähnlichen Dienstes iS des § 3 Abs 1 Buchst b BVG und Ersatzzeiten iS des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO).

 

Normenkette

BVG §§ 2, 3 Abs 1 Buchst b; AVG § 28 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 27.01.1981; Aktenzeichen L 6 An 2306/79)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 02.11.1979; Aktenzeichen S 4 An 1726/77)

 

Tatbestand

Streitig ist noch, ob bei dem Altersruhegeld des Klägers die Zeit von Oktober 1944 bis August 1945 als Ersatzzeit anzurechnen ist.

Der 1911 in Ungarn geborene Kläger leistete ab 1933 berufsmäßig Wehrdienst in der ungarischen Armee und war vom 3. April 1945 bis zum 26. August 1945 in russischer Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland im November 1965 erwarb er durch Einbürgerungsurkunde vom 15. November 1977 die deutsche Staatsangehörigkeit.

Durch Bescheid vom 11. Februar 1977 gewährte ihm die Beklagte antragsgemäß Altersruhegeld ab 1. September 1976. Der Widerspruch des Klägers hatte hinsichtlich der noch streitigen Ersatzzeit keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 12. August 1977; neuer Bescheid über das Altersruhegeld vom 12. Mai 1978).

Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 2. November 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat der Berufung des Klägers insofern stattgegeben, als es die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger höheres Altersruhegeld unter zusätzlicher Berücksichtigung der noch streitigen Zeit zu bewilligen (Urteil vom 27. Januar 1981). Der Kläger habe ab Oktober 1944 militärähnlichen Dienst iS von § 3 Abs 1 Buchst b des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) geleistet. Während zuvor die ungarischen Armee-Einheiten noch durch ungarische Kommandeure mit eigener Entscheidungsgewalt geführt worden seien, habe sich dies im Oktober 1944 durch den Austritt Ungarns aus dem Weltkrieg geändert. Ganz Ungarn sei daraufhin vom deutschen Oberkommando zum Operationsgebiet der Heeresgruppe Süd bestimmt worden mit der Folge, daß den von ihr erlassenen Befehlen auch alle ungarischen Verbände nun unbedingt Gehorsam zu leisten hatten (Hinweis auf BSGE 45, 166, 168). Die ungarischen Verbände seien der deutschen Wehrmacht angeschlossen und von dieser für eigene Ziele eingesetzt worden (Hinweis auf BVerwG in "Rundschau für den Lastenausgleich" 1969, 194); auch der ungarische Verband des Klägers sei bis zu Schwadronen aufgeteilt und in deutsche Verbände zum Einsatz unter deutschem Kommando eingegliedert worden. Dementsprechend habe der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) in einem Rundschreiben vom 16. Februar 1955 (BVBl 1955, 42) den Zeitpunkt, von dem an die ungarischen Truppenverbände im Rahmen der deutschen Wehrmacht eingesetzt worden seien, auf den 22. Oktober 1944 festgelegt. Die anschließende Dienstzeit einschließlich der Kriegsgefangenschaft sei daher als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) anzurechnen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung der §§ 28 Abs 1 Nr 1 AVG, 3 Abs 1 Buchst b BVG. Die Feststellungen des LSG stünden im Widerspruch zu der Behauptung des Klägers, er sei noch Anfang 1945 auf Anweisung des ungarischen Verteidigungsministeriums in Grafenwöhr gewesen. Der Begriff "auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers" sei eng auszulegen und verlange die Unterstellung unter die Militärhoheit der deutschen Wehrmacht; die nach Deutschland verlegten Truppen der ehemaligen ungarischen Armee hätten aber bis Kriegsende einem "Generalinspekteur der ungarischen Honved in Deutschland" mit dem Dienstsitz in Fürstenwalde/Spree unterstanden (nach einer Auskunft der Deutschen Dienststelle Berlin -WASt - vom 8. April 1976). Überdies könne ein ausländischer Militärdienst, der nicht unter § 2 BVG falle, kein militärähnlicher Dienst sein.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg

vom 27. Januar 1981 aufzuheben, soweit die Beklagte

verurteilt wurde, und die Berufung gegen das Urteil

des Sozialgerichts Freiburg vom 2. November 1979

auch insoweit zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision     der Beklagten war zurückzuweisen. Das LSG hat den Ersatzzeittatbestand des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) in der hier maßgebenden Fassung des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 zu Recht in der strittigen Zeit von Oktober 1944 bis August 1945 als erfüllt angesehen. Nach dieser Vorschrift werden als Ersatzzeiten angerechnet "Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes iS der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes, der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist".

In der streitigen Zeit hat der Kläger als Angehöriger der ungarischen Armee zwar keinen militärischen Dienst iS des § 2 BVG geleistet, wohl aber militärähnlichen Dienst iS des § 3 Abs 1 Buch b BVG. Der Anwendung dieser Vorschrift steht nicht entgegen, daß der § 7 BVG zwischen Kriegsopfern deutscher Staats- oder Volkszugehörigkeit und anderen Kriegsopfern unterscheidet und daß der Kläger erst nach Beginn des streitigen Altersruhegeldes die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat. Denn in § 28 Abs 1 Nr 1 AVG ist nur auf die §§ 2 und 3 BVG, nicht aber auch auf § 7 BVG Bezug genommen. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob der ab Mitte Oktober 1944 in Einheiten der königlich-ungarischen Armee geleistete Dienst "im Rahmen der deutschen Wehrmacht" oder "für eine deutsche Organisation" iS des § 7 Abs 1 Nr 3 BVG geleistet wurde (offengelassen in BSGE 45, 166, 167).

Die Voraussetzungen des § 3 Abs 1 Buchst b BVG sind für die streitige Zeit erfüllt. Der Kläger hat ab Oktober 1944 Dienst "für Zwecke der Wehrmacht" geleistet. Das LSG hat zwar zur Art des vom Kläger verrichteten Dienstes keine näheren Feststellungen getroffen. Die vom LSG festgestellte Eingliederung in deutsche Verbände würde für sich allein nicht genügen, wenn diese Verbände damals andere als militärische Aufgaben wahrgenommen hätten. Die Feststellung des LSG ist jedoch dahin aufzufassen, daß die in Ungarn eingesetzten deutschen Verbände damals für Zwecke der Wehrmacht tätig waren, sei es an der Front, sei es zur Sicherung rückwärtiger Gebiete (vgl hierzu BSG ZfS 1966, 100), wobei jeweils die Bereitstellung für eine solche Aufgabe eingeschlossen ist. Damit ist die Dienstleistung für Zwecke der Wehrmacht hinreichend festgestellt.

Dem steht nicht entgegen, daß die mit den deutschen Truppen geflohene ungarische Regierung und die ungarische Heeresführung in erster Linie ungarische Interessen verfolgten. Denn die Erklärung Ungarns zum Operationsgebiet der Heeresgruppe Süd hatte zur Folge, daß die ungarischen Truppen unmittelbar von deutschen Befehlshabern eingesetzt werden konnten. Ihr so ermöglichter Einsatz für militärische Aufgaben war damit jedenfalls zugleich Dienst für Zwecke der Wehrmacht, was für die Anwendung des § 3 Abs 1 Buchst b BVG ausreicht.

Der Kläger hat ab Oktober 1944 seinen Dienst auch "auf Veranlassung eines deutschen militärischen Befehlshabers" verrichtet. Denn der ungarische Verband, in dem der Kläger Dienst leistete, war bis zu Schwadronen aufgeteilt in deutsche Verbände zum Einsatz unter deutschem Kommando eingegliedert worden. Dabei kann dahinstehen, ob der Kläger seine Befehle unmittelbar von einem deutschen Befehlshaber oder aber auf der Grundlage solcher Befehle von ungarischen Offizieren erhielt. Das Gesetz erfordert keinen unmittelbaren Befehl oder eine direkte Heranziehung zum Dienst; genügend ist vielmehr, daß der Einsatz eines einzelnen oder eines Verbandes "letztlich" auf eine hoheitliche Weisung eines deutschen Befehlshabers zurückzuführen ist (BSG SozR 3100 § 7 Nr 6 auf Bl 16; SozR Nr 15 zu § 3 BVG und BVBl 1962, 21). Insoweit ist der Begriff "auf Veranlassung" weit auszulegen. Er umfaßt auch den Tatbestand, daß Soldaten ungarischer Verbände nach deren Eingliederung unter Zustimmung oder Duldung des deutschen Befehlshabers Befehlen ungarischer Stellen nachkamen. Es ist deshalb unerheblich, daß der Kläger Anfang 1945 kurzfristig auf Anordnung des ungarischen Verteidigungsministeriums in Grafenwöhr bei der Aufstellung einer ungarischen Division eingesetzt war, bevor er wiederum in Ungarn eingesetzt wurde und dort in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Nur soweit ein privates Arbeitsverhältnis zum Wehrmachtsfiskus in Rede steht, ist im Hinblick auf § 3 Abs 2 BVG eine enge Auslegung geboten (BSG BVBl 1962, 21).

Der Anwendung des § 3 BVG steht nichts entgegen, daß der Kläger auch nach der Eingliederung seines Verbandes ungarischer Soldat blieb. Dabei kann offenbleiben, ob der versorgungsrechtliche Grundsatz, keine Leistungen zu gewähren, wenn die Gesundheitsschädigung mit militärischem Dienst für einen anderen Staat in ursächlichem Zusammenhang steht, in § 7 Abs 1 Nr 3 BVG für nichtdeutsche Kriegsopfer aufrechterhalten wurde (verneinend der mit KOV-Angelegenheiten nicht mehr befaßte erkennende Senat in BSGE 19, 197, bejahend der 9. Senat in BSGE 45, 166, 171). Denn ein solcher Gedanke könnte jedenfalls auf die §§ 2 und 3 BVG nicht übertragen werden. Der 9. Senat hat zwar in einem weiteren Urteil vom 14. September 1978 (SozR 3100 § 7 Nr 6 Bl 16) Bedenken daran geäußert, ob der Dienst als Soldat in einer verbündeten Armee als militärähnlicher Dienst angesehen werden könne. Dem ist entgegenzuhalten, daß der Begriff des militärischen Dienstes in § 2 BVG näher umschrieben wird; jeder nicht unter § 2 BVG fallende Dienst kann diesem "ähnlich" und damit militärähnlicher Dienst iS des § 3 BVG sein; auch enthält § 3 BVG keine Bestimmung, daß die Vorschrift auf einen nicht unter § 2 fallenden militärischen Dienst nicht anwendbar sei. Selbst wenn dem angeführten Urteil des 9. Senats eine abweichende Rechtsansicht zu entnehmen sein sollte, würde dies die Anrufung des Großen Senats nicht erfordern, da der 9. Senat bei seiner Entscheidung zu § 7 Abs 1 Nr 3 BVG zu den Voraussetzungen des § 3 BVG nur beiläufig Stellung genommen hat.

Mit seiner Ansicht befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit dem schon vom LSG angeführten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. März 1969 (RLA 1969, 194 = Buchholz 4124, § 2 KgF.EG Nr 32 - dort nur Leitsatz), wonach die ungarischen Verbände nach ihrer Zuteilung an deutsche Verbände im Oktober 1944 Dienst auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Zwecke der Wehrmacht im Sinne des aufgrund § 2 Abs 1 des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes anwendbaren § 3 BVG geleistet hätten.

Den Feststellungen des LSG ist zwar nicht ohne weiteres zu entnehmen, daß die Voraussetzungen des § 28 Abs 2 AVG für eine Anrechnung der zurückgelegten Ersatzzeit erfüllt sind. Der Rentenberechnung liegen Versicherungszeiten ab dem 1. September 1961 zugrunde; es wurde also kein Vor- oder Anschlußbeitrag entrichtet. Das LSG hat jedoch ersichtlich die Halbbelegung iS des § 28 Abs 2 AVG als erfüllt angesehen, zumal diese zwischen den Beteiligten nicht streitig war und überdies dem im Revisionsverfahren erteilten Ausführungsbescheid entspricht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660144

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge