Entscheidungsstichwort (Thema)
Vermutung der Nichtverfügbarkeit bei Studenten (Schülern)
Orientierungssatz
1. § 118 Abs 2 AFG idF des KVSG enthält die widerlegbare Vermutung, ein ordentlich Studierender stehe wegen des mit dem Studium verbundenen Besuchs von Lehrveranstaltungen der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung. Dem arbeitslosen Studenten kann jedoch die Vermutung der Nichtverfügbarkeit des § 118 Abs 2 AFG dann nicht entgegengehalten werden, wenn ihm der Nachweis gelingt, daß er für eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes in mehr als kurzzeitigem Umfange zur Verfügung steht (vgl BSG 1978-03-21 7 RAr 98/76 = SozR 4100 § 118 Nr 5).
2. § 134 Abs 2 S 2 AFG ist dahin auszulegen, daß es einem Anspruch auf Arbeitslosenhilfe nicht entgegensteht, wenn der Arbeitslose zwar nicht die volle, wohl aber eine arbeitsmarktübliche, mehr als kurzzeitige Beschäftigung ausüben kann (vgl BSG 1977-07-21 7 RAr 132/75 = SozR 4100 § 134 Nr 3).
Normenkette
AFG § 103 Abs 1, § 118 Abs 2 Fassung: 1975-06-24, § 118a Fassung: 1979-07-23, § 134 Abs 2 S 2 Fassung: 1969-06-25
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.03.1981; Aktenzeichen L 9 Ar 127/79) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 29.10.1979; Aktenzeichen S 27 Ar 183/78) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 16. Mai 1978 bis 15. Juli 1979.
Er ist nach Abschluß der Hauptschule zum Installateur ausgebildet worden, hat diese Ausbildung nicht abgeschlossen und wurde zum Schweißer umgeschult. In diesem Beruf hat er, abgesehen von Unterbrechungen wegen Arbeitslosigkeit, gearbeitet. Ab 3. April 1978 nahm er an dem Bildungsgang Naturheilkunde an einer Fachschule teil. Der Unterricht dauerte von Montag bis Freitag von 9.00 - 12.45 Uhr sowie montags und mittwochs außerdem von 13.30 - 16.30 Uhr.
Am 16. Mai 1978 meldete sich der Kläger arbeitslos und beantragte die Zahlung von Alhi. Er machte geltend, er könne wegen seines Schulbesuchs nur von Montag bis Freitag in der Zeit von 14.00 - 22.00 Uhr arbeiten. Mit Bescheid vom 14. Juni 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 1978 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Lage und Verteilung der vom Kläger gewählten Arbeitszeit entsprächen nicht den Bedingungen des von ihm erreichbaren Arbeitsmarktes. Die gewünschten Arbeitsplätze seien auf diesem Arbeitsmarkt nicht in nennenswertem Umfange vorhanden.
Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Dortmund vom 29. Oktober 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 5. März 1981 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Der Anspruch des Klägers scheitere an § 118 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes über die Krankenversicherung der Studenten vom 24. Juni 1975 - KVSG - (BGBl I 1536). Nach der Entscheidung des erkennenden Senats vom 21. März 1978 (SozR 4100 § 118 Nr 5) ergebe sich hiernach der Ausschluß der vom Kläger begehrten Leistung. Im Gegensatz zu den vom Senat dort angesprochenen Sachverhalten sei der Kläger mit der seine Verfügbarkeit einschränkenden Unterrichtszeit von 24 3/4 Wochenstunden tatsächlich in Anspruch genommen. Die Unterrichtszeit sei aber in der Praxis - hier besonders auch angesichts der dürftigen Vorbildung des Klägers für ein Studium der Naturheilkunde - zumindest um so viele Stunden für die häusliche Vorbereitung, Verarbeitung und Vertiefung des Unterrichtsstoffes aufzustocken, daß von einem 40 Wochenstunden beanspruchenden Studium gesprochen werden müsse. Der Kläger sei damit "Vollzeitstudent". Es widerspreche dem Sinn und Zweck des § 118 Abs 2 AFG aF, ihm auch nur die Beweisführung zu ermöglichen, er bestreite sein Studium dergestalt, daß er noch mehr als geringfügige Berufsarbeit verrichten könne. Diese Auffassung werde durch die Neufassung der Ruhensbestimmungen durch das 5. Gesetz zur Änderung des AFG vom 23. Juli 1977, die ab 1. August 1979 in Kraft seien, bestätigt.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 118 Abs 2 AFG aF sowie der §§ 62, 103, 106 und 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Er ist der Auffassung, das Urteil des Berufungsgerichts stehe mit dem dort angeführten Urteil des Senats nicht im Einklang. Dem Kläger habe der Nachweis nicht abgeschnitten werden dürfen, daß er eine berufsmäßige Arbeit oder Tätigkeit von mehr als nur geringfügiger Dauer ausüben könne. Darüber hinaus sei dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen, aufgrund welcher Sachkunde das LSG die Feststellung getroffen habe, die Unterrichtszeit sei in der Praxis zumindest um so viele Stunden aufzustocken, daß von einem 40 Wochenstunden beanspruchenden Studium gesprochen werden müsse.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 5. März 1981, das Urteil
des Sozialgerichts Dortmund vom 29. Oktober 1979
sowie den Bescheid vom 14. Juni 1978 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 1978 aufzuheben
und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die
Zeit vom 16. Mai 1978 bis 15. Juli 1979 Arbeitslosenhilfe
zu gewähren,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung
an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie ist der Auffassung, die vom Senat in seinem Urteil vom 21. März 1978 für möglich gehaltene Widerlegung der Nichtverfügbarkeit könne dem Kläger nicht gelingen. Selbst wenn der Kläger nachweisen könnte, daß er in der Lage sei, eine mehr als kurzzeitige Beschäftigung neben dem Schulbesuch auszuüben, stünde er der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung. Arbeitsplätze mit der ihm nur möglichen Lage und Verteilung der Arbeitszeit gebe es auf dem für ihn erreichbaren Arbeitsmarkt nicht in nennenswertem Umfange.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist. Nach den bisherigen Feststellungen des LSG kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind oder ob der Kläger einen Anspruch auf Alhi hat.
Zu Unrecht ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, der Anspruch des Klägers auf Alhi scheitere bereits an dem gemäß § 134 Abs 2 Satz 1 AFG auch für die Alhi geltenden § 118 Abs 2 AFG in der hier maßgeblichen Fassung vom 24. Juni 1975 (BGBl I 1536), weil der Kläger "Vollzeitstudent" sei. Ob das LSG diesen Status des Klägers festgestellt hat, ohne daß die vom Kläger hiergegen vorgebrachten Verfahrensmängel vorliegen, kann dahingestellt bleiben. Selbst wenn dies der Fall ist, kann den rechtlichen Schlußfolgerungen, die das Berufungsgericht aufgrund dieser Feststellung gezogen hat, nicht gefolgt werden. Es meint, damit sei für den Kläger die Möglichkeit ausgeschlossen, nachzuweisen, daß er noch in der Lage sei, eine mehr als kurzzeitige Beschäftigung auszuüben und damit der Arbeitsvermittlung gemäß § 103 Abs 1 Satz 2 Nr 1 AFG in der hier maßgeblichen Fassung vom 23. Dezember 1976 (BGBl I 3845) zur Verfügung stehe. Das LSG legt § 118 Abs 2 AFG also dahin aus, daß diese Vorschrift insoweit eine unwiderlegliche Vermutung enthalte. Diese Auffassung ist irrig. Der Senat hat vielmehr in seinem Urteil vom 21. März 1978 (SozR 4100 § 118 Nr 5 = BSGE 46, 89) dargelegt, daß diese Vorschrift die widerlegbare Vermutung enthält, ein ordentlich Studierender stehe wegen des mit dem Studium verbundenen Besuchs von Lehrveranstaltungen der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung. Dem arbeitslosen Studenten könne jedoch die Vermutung der Nichtverfügbarkeit des § 118 Abs 2 AFG dann nicht entgegengehalten werden, wenn ihm der Nachweis gelinge, daß er für eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes in mehr als kurzzeitigem Umfange zur Verfügung stehe. Das LSG hätte mithin dem dahingehenden Vorbringen des Klägers nachgehen und entsprechende Ermittlungen anstellen müssen.
Gegen die Verfügbarkeit des Klägers spricht die durch das 5. Gesetz zur Änderung des AFG vom 23. Juli 1979 in § 118a getroffene Regelung, die an die Stelle der bisherigen Regelung des § 118 Abs 2 AFG getreten ist, nicht; insbesondere bestätigt sie die Rechtsauffassung des LSG nicht. Es handelt sich hierbei nicht um die Klarstellung einer Rechtslage, die nach Auffassung des Gesetzgebers bereits vor Inkrafttreten des § 118a AFG bestanden hatte. Hiergegen spricht schon, daß diese Vorschrift ausdrücklich auf Ansprüche, die vor dem 1. August 1979 entstanden sind, nicht anzuwenden ist. In diesen Fällen soll vielmehr die Fassung des § 118 Abs 2 AFG weiter gelten, die bis zum 31. Juli 1979 galt (§ 118 Abs 2 AFG nF, § 118a Abs 2 AFG). Einer solchen Besitzstandsregelung hätte es nicht bedurft, wenn der bereits geltende Rechtszustand hätte klargestellt und nicht verändert werden sollen (vgl BT-Drucks 8/2624 S 28).
Wie der Senat auch schon entschieden hat (SozR 4100 § 134 Nr 3), steht § 134 Abs 2 Satz 2 AFG trotz der vom Kläger vorgenommenen Einschränkung seiner Verfügbarkeit der Gewährung von Alhi insoweit nicht entgegen. Hiernach hat keinen Anspruch auf Alhi, wer nur mit Einschränkung hinsichtlich der Dauer der Zeit nicht imstande ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Diese Bestimmung ist dahin auszulegen, daß es einem Anspruch auf Alhi nicht entgegensteht, wenn der Arbeitslose zwar nicht die volle, wohl aber eine arbeitsmarktübliche, mehr als kurzzeitige Beschäftigung ausüben kann. Ob dies der Fall ist, wird das LSG noch festzustellen haben.
Das LSG hat, von seinem Rechtsstandpunkt aus zutreffend, zu den übrigen Voraussetzungen für die Gewährung von Alhi keine zusätzlichen Feststellungen getroffen. Der Senat kann deshalb nicht prüfen, ob sich die Entscheidung des Berufungsgerichts aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 170 Abs 2 SGG). Die Sache muß daher gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen