Entscheidungsstichwort (Thema)
KOV. Berufsschadensausgleich. Berufswechsel
Orientierungssatz
Ein Beschädigter hat keinen Anspruch auf Berufsschadensausgleich, wenn er bereits vor der Schädigung seinen Beruf vom Landwirt zum Büroangestellten gewechselt hat und er auch nach der Schädigung noch ohne Behinderung durch die Schädigungsfolgen die Fähigkeit eines Büroangestellten verrichtet hat.
Normenkette
BVG § 30 Abs. 3 Fassung: 1964-02-21, Abs. 3 Fassung: 1966-12-28
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.10.1968) |
SG Aurich (Entscheidung vom 24.05.1967) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Oktober 1968 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der am 1. März 1914 als zweiter Sohn eines Domänenpächters geborene Kläger bezieht wegen "Verlust des rechten Beines im oberen Oberschenkeldrittel und Narben an der rechten Hand und am linken Bein mit Knochenschaden, Krampfzustände des linken Beines und periphere Kreislaufstörungen am linken Unterschenkel" als Schädigungsfolgen im Sinne der Entstehung seit 1. Oktober 1950 Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H.. Außerdem erhält er seit dem 1. Mai 1945 Rente aus der Angestelltenversicherung.
Der Kläger verließ nach fünfjährigem Volksschul- und vierjährigem Mittelschulbesuch 1929 die Kreis-Mittelschule in P ohne Abgangszeugnis, um, wie sein Vater, Landwirt zu werden. Während der Elevenzeit besuchte er in den Wintermonaten 1929/30 und 1930/31 eine Landwirtschaftsschule in E, sodann war er bis August 1938, unterbrochen durch den aktiven Wehrdienst (29. Oktober 1935 bis zum 2. Oktober 1937), im Betrieb seines Vaters und anschließend bis zur erneuten Einberufung zum Wehrdienst am 27. August 1939 als Kreishauptstellenleiter im Angestelltenverhältnis bei der NSV in N tätig. Diese Tätigkeit nahm er nach der Entlassung aus dem Wehrdienst am 28. Oktober 1944 wieder auf und übte sie bis Kriegsende aus; seither ist er nicht mehr berufstätig.
Im März 1965 beantragte der Kläger die Gewährung von Berufsschadensausgleich. Die Versorgungsbehörde lehnte den Antrag mit Bescheid vom 30. April 1965 mit der Begründung ab, der Kläger sei durch die anerkannten Schädigungsfolgen beruflich nicht betroffen. Den erlernten Beruf als Landwirt habe er im Jahre 1938 aufgegeben; er sei vor und nach dem Wehrdienst Angestellter gewesen. Demgemäß sei der Angestelltenberuf zu berücksichtigen; diesen Beruf könne der Kläger aber ausüben, wie sich aus den ärztlichen Gutachten vom 12. Mai 1960 und 19. Juli 1962 und dem Urteil des Sozialgerichts (SG) Aurich vom 22. November 1962 in einem Rentenstreitverfahren ergebe. Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, er habe seinen erlernten Beruf als Landwirt im Jahre 1938 aus finanziellen Gründen nur vorläufig aufgegeben und hätte diesen ohne die Schädigung anstelle seines im Jahre 1942 gefallenen Bruders, der neben dem Vater Mitpächter der Domäne gewesen sei, nach dem Ausscheiden der Witwe des Gefallenen im Jahre 1946 oder 1947 zunächst neben dem Vater als Domänenmitpächter und nach dessen Tod 1949 als Alleinpächter wieder aufgenommen. Im übrigen sei er durch die Schädigung auch als Angestellter beruflich betroffen, was mit der Feststellung seiner Berufsunfähigkeit durch das SG belegt sei. Nach erfolglosem Widerspruch wies das SG Aurich mit Urteil vom 24. Mai 1967 die Klage auf Gewährung von Berufsschadensausgleich ab 1. Januar 1964 ab. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen wies die hiergegen eingelegte Berufung mit Urteil vom 22. Oktober 1968 zurück und ließ die Revision zu. Es führte aus, der Anspruch auf Schadensausgleich gemäß § 30 Abs. 3 BVG setze ein besonderes berufliches Betroffensein im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG voraus. Hieran fehle es jedoch, weil der Kläger 1938 einen freiwilligen, nicht nur vorübergehenden und somit echten Wechsel vom erlernten Beruf des Landwirts zu dem des Büroangestellten vollzogen habe, den er nach den in den Akten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) befindlichen ärztlichen Gutachten trotz der anerkannten Schädigungsfolgen voll ausüben könne. Dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger seit dem 1. Mai 1945 Ruhegeld aus der Angestelltenversicherung und nach der am 1. Januar 1957 in Kraft getretenen Rentenreform Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhalte. Aus der Verurteilung der BfA zur Weiterzahlung dieser Rente folge nicht, daß der Kläger wegen der anerkannten Schädigungsfolgen den Angestelltenberuf nicht mehr ausüben könne und daß er demgemäß beruflich besonders betroffen im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG sei. Es bestünden nämlich beim Kläger noch andere, schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen und außerdem sei die BfA zur Weiterzahlung der Rente an den Kläger nicht wegen tatsächlich bestehender Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, sondern lediglich aus rechtlichen Gründen verpflichtet worden. Schließlich rechtfertige auch die Behauptung des Klägers, er wäre ohne die Schädigung 1946/1947 oder 1949 wahrscheinlich Nachfolger seines gefallenden älteren Bruders und seines Vaters als Domänenmit- oder -alleinpächter geworden, keine andere Entscheidung. Denn hier sei nicht vom Beruf des Landwirts, sondern von dem des Büroangestellten auszugehen. Auch aus § 30 Abs. 3 und 4 BVG idF des Dritten Neuordnungsgesetzes (3. NOG) ergebe sich kein Anspruch des Klägers auf Berufsschadensausgleich, da hierfür gleichfalls ein besonderes berufliches Betroffensein im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG Voraussetzung sei. Deshalb erübrige sich auch eine weitere Prüfung, ob ein Einkommensverlust überhaupt vorliege.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger die unzutreffende Anwendung und Auslegung materiellen Rechts, insbesondere des § 30 Abs. 2, 3 und 4 BVG idF des 2. und 3. NOG. Der selbständig geregelte Anspruch auf Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG setze keine Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG voraus. Das LSG habe somit zu Unrecht nicht geprüft, ob der Kläger durch die anerkannten Schädigungsfolgen in seinem maßgeblichen Beruf einen Einkommensverlust erleide. Für den Fall, daß der Senat die tatsächlichen Feststellungen des LSG für ausreichend halte um in der Sache selbst zu entscheiden, weise er ausdrücklich darauf hin, daß er, falls er auf den Beruf eines Büroangestellten verwiesen werden könne, durch die Behinderung infolge der anerkannten Schädigungsfolgen ab 1. Januar 1964 auch in diesem Beruf erheblich weniger verdient haben würde, als dies ohne Schädigungsfolgen der Fall gewesen wäre. Jedenfalls würde der Minderverdienst schon von diesem Zeitpunkt ab weit über den nach § 30 Abs. 3 BVG erforderlichen Grenzen gelegen haben.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 22. Oktober 1968 und das Urteil des SG Aurich vom 24. Mai 1967 sowie den Bescheid des Versorgungsamt O vom 30. April 1965 idF des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamts Niedersachsen vom 6. Januar 1966 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Januar 1964 Berufsschadensausgleich in gesetzlicher Höhe zu gewähren,
hilfsweise,
die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG Niedersachsen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1, §§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sachlich ist sie nicht begründet.
Nach § 30 Abs. 3 BVG in der für den Anspruch des Klägers für die Zeit bis zum 31. Dezember 1966 geltenden Fassung des 2. NOG vom 21. Februar 1964 (BGBl I 85 - 2. NOG) erhält ein Schwerbeschädigter nach Anwendung des Absatzes 2 einen Berufsschadensausgleich, wenn er durch die Schädigungsfolgen beruflich insoweit besonders betroffen ist, als er einen Einkommensverlust von monatlich mindestens 75,- DM hat; nach § 30 Abs. 3 BVG - in der für den Anspruch des Klägers für die Zeit vom 1. Januar 1967 an geltenden Fassung des 3. NOG vom 28. Dezember 1966 (BGBl I 750) - erhält ein Schwerbeschädigter in gleicher Weise einen Berufsschadensausgleich dann, wenn sein Erwerbseinkommen durch die Schädigungsfolgen gemindert ist (Einkommensverlust). Einkommensverlust ist nach § 30 Abs. 4 BVG idF des 2. und 3. NOG der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente und dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte. Ein solcher schädigungsbedingter Einkommensverlust liegt aber beim Kläger nicht vor, da er nach den Feststellungen des LSG den hier maßgeblichen Beruf des Büroangestellten voll ausüben kann.
Der Revision ist zwar darin zuzustimmen, daß die Gewährung eines Berufsschadensausgleichs im Sinne des § 30 Abs. 3 und 4 BVG nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BVG (Höherbewertung der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins) abhängig ist (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 21. März 1969 - BSG 29, 208 - und ihm folgend der 8. und 10. Senat des Bundessozialgerichts, Urteile vom 27. März 1969 - 8 RV 611/67 - und vom 23. Mai 1969 - 10 RV 558/68 -). In diesen Entscheidungen ist mit ausführlicher Begründung unter Hinweis auf den Wortlaut Sinn und Zweck sowie die historische Entwicklung der Vorschriften über den Berufsschadensausgleich dargelegt worden, daß es sich in beiden Fällen (§ 30 Abs. 2 - Abs. 3, 4) um verschiedene Arten der Abgeltung eines Berufsschadens handelt (BSG 29, 210) bzw. daß mit der Einführung des Berufsschadensausgleichs durch das 1. NOG eine (gegenüber Absatz 2) selbständige Entschädigung des durch die Schädigungsfolgen bedingten wirtschaftlichen Schadens gewährt werden sollte, und zwar unabhängig davon, ob die MdE eines Beschädigten wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG erhöht worden ist oder nicht. Der erkennende Senat hat diese Auffassung zuletzt im Urteil vom 8. September 1970 - 9 RV 320/69 - erneut bestätigt und hält an ihr fest; der vorliegende Sachverhalt und die Ausführungen des LSG geben keine Veranlassung, von ihr abzuweichen.
Trotz der insoweit also unzutreffenden Gesetzesanwendung durch das LSG und fehlender Feststellungen über einen etwaigen Einkommensverlust des Klägers brauchte die Sache nicht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen zu werden. Denn das Urteil des LSG stellt sich aus anderen Gründen als richtig dar (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG). Ein solcher Einkommensverlust, sollte er tatsächlich bestehen oder bestanden haben, wäre nämlich jedenfalls nicht auf die anerkannten Schädigungsfolgen zurückzuführen. Das LSG hat für die Prüfung der Frage, ob beim Kläger ein besonderes berufliches Betroffensein im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG vorliegt, festgestellt, der Beruf des Klägers sei der eines Büroangestellten und nicht mehr der eines Landwirts. Diese Feststellung ist von der Revision nicht substantiiert angegriffen worden und daher gemäß § 163 SGG für den Senat bindend. Das Vorbringen in der Revisionsbegründung - der Kläger verweist "auf sein gesamtes Vorbringen im bisherigen Verfahren, wonach er infolge der anerkannten Schädigungsfolgen auch im Beruf eines Büroangestellten einen erheblichen Minderverdienst erzielen würde und keinerlei Aussicht mehr hätte, eine höhere Berufsstellung zu erreichen", und läßt "nachdrücklich darauf hinweisen, daß er für den Fall, daß er auf den Beruf eines Büroangestellten verwiesen werden könne, durch die Behinderung der anerkannten Schädigungsfolgen ab 1.1.1964 erheblich weniger verdient hätte, ..." - genügt nicht dem Erfordernis einer substantiierten Rüge, ohne die auch bei einer zugelassenen Revision tatsächliche Feststellungen des LSG nicht mit Erfolg angegriffen werden können. Das LSG hat sich auf den Seiten 7 bis 9 des Urteils nicht nur eingehend mit der Argumentation des Klägers zum Berufswechsel vom Landwirt zum Büroangestellten und zur späteren Übernahme des väterlichen Hofes nach dem Tode seines älteren Bruders auseinandergesetzt, sondern auch im einzelnen dargelegt und begründet, weshalb sich der Kläger von dem Beruf eines Landwirts abgewandt hat und weshalb er nach seinem "echten Berufswechsel" den späteren Beruf des Büroangestellten jedenfalls seit Inkrafttreten des 2. NOG (1. Januar 1964) trotz der anerkannten Schädigungsfolgen voll ausüben kann. Diese Feststellungen beziehen sich zwar auf die für eine Höherbewertung der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins gemäß § 30 Abs. 2 BVG vorzunehmende Prüfung der körperlich-geistigen Verwendungsfähigkeit des Klägers im seitherigen Beruf des Büroangestellten bzw. in dem angeblich später wieder angestrebten Beruf als Landwirt. Aus ihnen folgt aber gleichzeitig, daß der Kläger nach seinen Lebensverhältnissen, d. h. nach dem von ihm vorgenommenen "echten Berufswechsel", ohne die Schädigung nicht der Berufsgruppe der Landwirte "angehört hätte" und daß ein etwaiger Einkommensverlust des Klägers in dem schon 1938 ergriffenen Beruf eines Büroangestellten nicht auf bei ihm vorhandene Gesundheitsstörungen und damit auch nicht auf die anerkannten Schädigungsfolgen zurückgeführt werden kann.
Damit fehlt es auch an den Voraussetzungen für einen Berufsschadensausgleich im Sinne des § 30 Abs. 3 und 4 BVG. Es bestehen keine Bedenken, die zu § 30 Abs. 2 BVG getroffenen Feststellungen des LSG für die Prüfung der Voraussetzungen eines Berufsschadensausgleichs auch insoweit zu übernehmen. Denn die Selbständigkeit der beiden Ansprüche schließt nicht aus, daß ihnen teilweise die gleichen Voraussetzungen zugrunde liegen. Sowohl der Anspruch auf Höherbewertung der MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG wie der auf Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG stellt bei der Schadensermittlung auf den "bisher ausgeübten" wie auch auf den "angestrebten" Beruf, d. h. auf die Tätigkeit ab, die der Beschädigte ohne die Schädigung entweder weiterhin ausgeübt oder wahrscheinlich angestrebt und erreicht "hätte". Nach den bindenden Feststellungen des LSG hätte der Kläger ohne die Schädigung nicht den Beruf eines Landwirts ausgeübt; an der Ausübung der von ihm tatsächlich noch nach der Schädigung verrichteten Tätigkeit eines Büroangestellten ist er durch die Schädigungsfolgen nicht gehindert. Diese vom LSG getroffenen Feststellungen ermöglichen es dem Senat trotz der anderen Rechtsauffassung der Vorinstanz, in der Sache selbst zu entscheiden. Der Anspruch des Klägers auf Berufsschadensausgleich erweist sich hiernach als unbegründet, weil der Kläger noch in der Lage ist, den vor und nach der Schädigung ausgeübten Beruf eines Büroangestellten weiter auszuüben, und daher ein auf die Schädigung zurückzuführender Einkommensverlust nicht festgestellt werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen