Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 26.11.1993) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. November 1993 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 6. Oktober 1989 bis 29. Februar 1990.
Er wurde am 1. Januar 1958 geboren und ist polnischer Staatsangehöriger. Er war in F. … vom 2. Januar bis 31. März 1980 am K. … -T. … als Beleuchter, vom 1. April bis 29. Dezember 1980 an der A. … d. W. … … der DDR und vom 5. Januar 1981 bis 28. September 1989 am Bezirkskrankenhaus (ohne längere Unterbrechungen) als elektronischer Facharbeiter beschäftigt. Seit dem 30. Oktober 1987 ist er (in zweiter Ehe) mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet. Anfang Oktober 1989 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über. Am 6. Oktober 1989 meldete er sich beim Arbeitsamt (ArbA) Hameln arbeitslos und beantragte Alg. Das ArbA lehnte den Antrag mit dem Hinweis ab, es fehle an der erforderlichen Anwartschaftszeit; der Kläger besitze nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, so daß die im Gebiet der DDR ausgeübte Beschäftigung nicht den Zeiten einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gleichgestellt sei; ebensowenig bestehe ein Anspruch auf Arbeitslosenhilfe (Alhi), da nicht mindestens 150 Kalendertage in einer Beschäftigung nachgewiesen seien, die der Erfüllung der Anwartschaftszeit dienten (Bescheid vom 24. April 1990; Widerspruchsbescheid vom 28. März 1991). Das Sozialgericht (SG) hat den angefochtenen Bescheid aufgehoben, ohne die Beklagte zur Leistung zu verurteilen, da zunächst weitere Leistungsvoraussetzungen zu überprüfen seien (Urteil vom 19. September 1991). Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung, der Kläger (unselbständige) Anschlußberufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. November 1993).
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Erfüllung der Anwartschaftszeit dienten grundsätzlich nur solche Zeiten, die im Geltungsbereich des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zurückgelegt worden seien. Solche Zeiten habe der Kläger nicht aufzuweisen. Er könne sich auch nicht mit Erfolg auf den Gleichstellungstatbestand des § 107 Satz 1 Nr 3 AFG aF berufen, wonach den Zeiten einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung Zeiten einer Beschäftigung gleichstünden, die ein Deutscher iS des Art 116 Grundgesetz (GG) im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937, aber außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes ausgeübt habe. Der Kläger sei nicht Deutscher iS des Art 116 GG. Weder besitze er die deutsche Staatsangehörigkeit (Art 116 Abs 1 Alternative ≪Alt≫ 1 GG) noch verfüge er über eine vom Ehegatten abgeleitete Statusdeutscheneigenschaft (Art 116 Abs 1 Alt 2 GG). Er sei durch die 1987 erfolgte Eheschließung nicht Deutscher geworden. Die Statusdeutscheneigenschaft sei nur dem Ehegatten zuzuerkennen, der das Schicksal des vertriebenen deutschen Volkszugehörigen geteilt und zusammen mit diesem in Deutschland Aufnahme gefunden habe. Die Ehefrau sei zwar deutsche Staatsangehörige mit ehemaligem Wohnsitz in der DDR. Sie sei aber ebensowenig wie der Kläger jemals vertrieben worden, habe folglich in Deutschland keine Aufnahme gefunden, weshalb auch der Kläger nicht „als” Ehegatte einer deutschen Volkszugehörigen Aufnahme gefunden habe. Er sei – unabhängig von seiner Ehefrau – als Gastarbeiter aufgenommen worden. Der Einwand des Klägers, er werde dafür bestraft, daß seine Ausreise aus der DDR über die deutsche Botschaft in Warschau gelungen sei, überzeuge nicht. Tatsächlich seien weder der Kläger noch seine Ehefrau aufgrund der Flucht Repressalien ausgesetzt gewesen. Der weitere Hinweis, bei Mißerfolg des Unternehmens wäre seine Ehefrau als „Republikflüchtling” bestraft, er selbst als Ehegatte eines Sowjetzonenflüchtlings in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen worden, verkenne, daß er, der Kläger, als Ehegatte einer als Sowjetzonenflüchtling anerkannten Deutschen (§ 3 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge ≪BVFG≫) nicht die Rechtsstellung eines Statusdeutschen erhalten hätte. Denn nach Sinn und Zweck des Art 116 GG hätten nur die Deutschen und deutschen Volkszugehörigen sowie deren Ehegatten und Abkömmlinge begünstigt werden sollen, die infolge allgemeiner Vertreibungsmaßnahmen ihre Heimat verloren hätten.
Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung von §§ 104, 107, 241b AFG sowie von Art 116 GG. Das LSG sei bei seiner Entscheidung von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Er, der Kläger, sei bereits vom 23. Juni 1979 bis 17. Februar 1983 (in erster Ehe) mit der Deutschen C. … C. … K. …, geb D. …, verheiratet gewesen. Die Heirat habe in Polen stattgefunden. Damals sei die Heirat mit einer Deutschen die einzige Möglichkeit gewesen, um von Polen in die DDR überzusiedeln. Er, der Kläger, habe nach der Eheschließung, aus der ein am 6. Juli 1981 geborener Sohn hervorgegangen sei, von der polnischen Botschaft in Berlin-Ost ua einen roten Konsulatpaß erhalten, aufgrund dessen er aus polnischer Sicht den Status eines Ausländers mit festem Wohnsitz im Ausland erhalten habe. Auch seien seine Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge in die DDR-Versicherungskasse abgeführt worden (2. Januar 1980 bis 28. September 1989). Aufgrund der 1979 erfolgten Erstheirat und der Aushändigung des roten Ausweises habe er einem Statusdeutschen gleichgestanden. Seine Beschäftigungszeiten in der DDR seien den Zeiten einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gleichzuachten. Denn bei Ausübung im Geltungsbereich des AFG hätten sie Beitragspflicht begründet.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
Das Urteil des LSG aufzuheben, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen, soweit der Bescheid vom 24. April 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. März 1991 aufgehoben worden ist, und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 6. Oktober 1989 bis 29. Februar 1990 Alg zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das zweitinstanzliche Urteil – auch unter Berücksichtigung des neuen tatsächlichen Vortrags des Klägers in der Revisionsinstanz – für zutreffend. Selbst wenn dieses Vorbringen richtig sei, fehle es am Nachweis, daß der Kläger zusammen mit seiner ersten Ehefrau in der DDR als Vertriebene Aufnahme gefunden hätten. Anhaltspunkte dafür seien nicht ersichtlich, zumal der Kläger nach den Feststellungen des LSG ebensowenig wie seine zweite Ehefrau jemals vertrieben worden sei.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung begründet.
Gegenstand des Verfahrens ist (noch) das Begehren auf Gewährung von Alg für die Zeit vom 6. Oktober 1989 bis 29. Februar 1990, nachdem der Kläger in der Berufungsinstanz seinen ursprünglichen Leistungsantrag (Alg ohne zeitliche Begrenzung) im Wege der (unselbständigen) Anschlußberufung weiterverfolgt, jedoch in zeitlicher Hinsicht entsprechend eingeschränkt hat.
Die grundsätzlich statthafte Berufung (§ 143 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) war nicht gemäß den §§ 144 bis 149 SGG in der bis zum 28. Februar 1993 geltenden Fassung (vgl Art 8 Nr 5, 14 Abs 1 Satz 1 und 15 Abs 1 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 – BGBl I 50) ausgeschlossen. Denn es geht weder um einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu dreizehn Wochen (drei Monaten) noch um einen sog Höhenstreit (§§ 144 Abs 1 Nr 2, 147 SGG aF).
Ob das Klagebegehren, für das die verbundene Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) die richtige Klageart ist, in der Sache Erfolg hat, vermochte der Senat aufgrund der bisherigen Tatsachenfeststellungen nicht abschließend zu beurteilen.
Gemäß § 100 Abs 1 AFG hat Anspruch auf Alg, wer arbeitslos ist, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, die Anwartschaftszeit erfüllt, sich beim ArbA arbeitslos gemeldet und Alg beantragt hat. Hier hat sich der Kläger am 6. Oktober 1989 beim ArbA arbeitslos gemeldet und Alg beantragt. Dazu, ob er im umstrittenen Zeitraum arbeitslos war (§ 101 AFG) und der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand (§ 103 AFG), hat das LSG – aus seiner Sicht zu Recht – keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Dies wird ggf nachzuholen sein, nämlich dann, wenn sich herausstellen sollte, daß der Kläger die erforderliche Anwartschaftszeit erfüllt hat. Hierzu kann der Senat mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen nicht abschließend entscheiden.
Nach § 104 AFG (in der hier maßgebenden Fassung des Art 5 Nr 2 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes vom 15. Oktober 1984 – BGBl I 1277) hat die Anwartschaft erfüllt, wer in der Rahmenfrist 360 Kalendertage in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung (§ 168 AFG) gestanden hat (Abs 1 Satz 1). Die Rahmenfrist beträgt drei Jahre (Abs 3 Halbs 1). Sie geht dem ersten Tag der Arbeitslosigkeit unmittelbar voraus, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg erfüllt sind oder nach § 105 AFG als erfüllt gelten (Abs 2). Im vorliegenden Rechtsstreit lief die Rahmenfrist, wenn der Kläger die übrigen Voraussetzungen für einen Alg-Anspruch mit der Antragstellung am 6. Oktober 1989 erfüllt hat, vom 6. Oktober 1986 bis 5. Oktober 1989. In dieser Zeit war der Kläger nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ausschließlich in der früheren DDR beschäftigt. Die derartigen Beschäftigungen begründeten – wie vom LSG richtig gesehen – nicht eine Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit (BA); denn diese tritt grundsätzlich nur hinsichtlich der Beschäftigungen solcher Personen ein, die im räumlichen Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches beschäftigt sind (§ 173a AFG, § 3 Nr 1 Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – ≪SGB IV≫).
Zutreffend hat das LSG angenommen, daß auch die Gleichstellungstatbestände des § 107 Satz 1 Nrn 3 und 4 AFG in ihrer bis Ende 1989 geltenden Fassung (Art 1 Nr 4 des Eingliederungsanpassungsgesetzes ≪EinglAnpG≫ vom 22. Dezember 1989 – BGBl I 2398) zu keinem dem Kläger günstigeren Ergebnis führen. Sie finden auf den Kläger zwar Anwendung, weil er vor dem 1. Januar 1990 seinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des AFG genommen hat (§ 242j Abs 2 AFG). Doch sind ihre Voraussetzungen nicht gegeben.
Nach § 107 Satz 1 Nr 4 AFG (idF des AFG vom 25. Juni 1969 – BGBl I 582) stehen den Zeiten einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung Zeiten einer Beschäftigung gleich, die ein Vertriebener, der nach den §§ 9 bis 12 BVFG Rechte und Vergünstigungen in Anspruch nehmen kann, außerhalb des Gebietes des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 ausgeübt hat. Voraussetzung ist ferner, daß die Beschäftigung bei einer Ausübung im Geltungsbereich dieses Gesetzes die Beitragspflicht dieses Arbeitnehmers begründet hätte (§ 107 Satz 2 AFG). Vorliegend ist bereits der Gleichstellungstatbestand des § 107 Satz 1 Nr 4 AFG nicht verwirklicht. Denn der Kläger hat innerhalb der Rahmenfrist keinesfalls Beschäftigungszeiten außerhalb des Gebietes des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 zurückgelegt.
Gemäß § 107 Satz 1 Nr 3 AFG (idF des AFG vom 25. Juni 1969) stehen den Zeiten einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung Zeiten einer Beschäftigung gleich, die ein Deutscher iS des Art 116 GG im Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937, aber außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes ausgeübt hat; weitere Voraussetzung ist wiederum, daß die Beschäftigung bei Ausübung im Geltungsbereich des AFG die Beitragspflicht zur BA begründet hätte. Hier hat der Kläger zwar innerhalb der Rahmenfrist Beschäftigungszeiten iS des § 107 Satz 1 Nr 3 AFG in einem Umfang von weit mehr als 360 Kalendertagen aufzuweisen. Indes war er nicht bereits im Zeitpunkt dieser Beschäftigungen Deutscher iS des Art 116 GG.
Nach Art 116 Abs 1 GG ist Deutscher iS des Grundgesetzes vorbehaltlich anderweitiger Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat. Der Kläger besaß jedenfalls bis 1993 nicht die deutsche, sondern die polnische Staatsangehörigkeit. Er konnte mithin nur Deutscher ohne deutsche Staatsangehörigkeit (sog Statusdeutscher) sein. Auch die Eigenschaft als Statusdeutscher kann er jedoch nicht zu Recht für sich in Anspruch nehmen.
Der Kläger hat die Statusdeutscheneigenschaft nicht eigenberechtigt erworben. Anhaltspunkte dafür, daß er, wie erforderlich, Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit iS des § 1 BVFG sein könnte (vgl hierzu BVerwG Buchholz 11 Art 116 GG Nr 24; Hailbronner/Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, 1991, Art 116 GG RdNr 17; Makarov/v Mangoldt, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht, Stand August 1993, Art 116 GG RdNr 17; Maunz/Dürig/Herzog ua, Komm zum Grundgesetz, Stand 1994, Art 116 GG RdNr 24; v Münch, Grundgesetz-Komm, 2. Aufl 1983, Art 116 GG RdNr 9), sind nicht erkennbar. Der Kläger hat die Statusdeutscheneigenschaft aber auch nicht über eine seiner beiden Ehefrauen erworben. Denn er hat nicht, wie in Art 116 Abs 1 GG vorausgesetzt, „als Ehegatte eines Vertriebenen deutscher Volkszugehörigkeit” in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden. Seine erste Ehe (Eheschließung 23. Juni 1979; rechtskräftige Ehescheidung 28. April 1983), auf die er erstmalig in der Revisionsinstanz Bezug genommen hat, bestand nach seinem eigenen Vorbringen mit einer Deutschen, die 1959 in der DDR geboren wurde und daher nicht „Vertriebene” ist. Seine zweite Ehefrau (Eheschließung 30. Oktober 1987) war, wie das LSG unangegriffen festgestellt hat, „schon immer deutsche Staatsangehörige mit ehemaligem Wohnsitz in der DDR”. Im einen wie im anderen Fall trifft der Grundgedanke des Art 116 Abs 1 GG iVm § 1 Abs 3 BVFG nicht zu, daß der nichtdeutsche Ehegatte, wenn er sich im Konflikt zwischen dem Festhalten an seiner Heimat und der Erhaltung seiner Ehe im letzteren Sinn entschieden hat und dem volksdeutschen Ehegatten gefolgt ist, ebenfalls den Vertriebenenstatus erhalten soll (BVerwGE 78, 139, 145).
Hieraus folgt indes nicht zwingend, daß die vom Kläger in der ehemaligen DDR zurückgelegten Beschäftigungszeiten schlechthin keine Berücksichtigung finden können. Zu prüfen bleibt, ob eine Berücksichtigung dieser Beschäftigungszeiten über § 90 Abs 1 BVFG in der bis zum 31. Dezember 1992 gültigen Fassung (Art 1 Nr 30 Buchst b des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes ≪KfbG≫ vom 21. Dezember 1992 – BGBl I 2094) möglich ist, wonach ua Sowjetzonenflüchtlinge in der Arbeitslosenversicherung den Berechtigten im Geltungsbereich des Gesetzes gleichgestellt werden.
Der Anwendung des Gleichstellungstatbestandes des § 90 Abs 1 BVFG steht nicht der Gesetzesvorbehalt in § 90 Abs 3 BVFG entgegen, wonach das Nähere ein Bundesgesetz regelt. Das Bundessozialgericht (BSG) hat seit jeher und in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß § 90 Abs 1 BVFG die Rechtsstellung der Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge unmittelbar regelt und nicht nur einen Auftrag an den Gesetzgeber enthält. Deshalb konnten Sowjetzonenflüchtlinge die Anwartschaftszeit in der Arbeitslosenversicherung unter bestimmten Voraussetzungen erfüllen (BSGE 4, 102, 104 = SozR Nr 1 zu § 95 AVAVG; BSG, Urteil vom 17. Oktober 1990 – 11 RAr 1/90 –, unveröffentlicht). Auch konnten Vertriebene die Voraussetzungen für die Krankenversicherung der Rentner nach § 165 Abs 1 Nr 3 Buchst a Reichsversicherungsordnung (RVO) dadurch erfüllen, daß sie im Vertreibungsgebiet im erforderlichen Umfang krankenversichert waren (BSGE 56, 39 = SozR 2200 § 165 Nr 72). Ähnlich hat das BSG hinsichtlich der Vorversicherungszeit für andere Ansprüche entschieden, zB für den Anspruch auf Mutterschaftsgeld (BSGE 39, 162, 164 = SozR 2200 § 200a Nr 2), den Anspruch auf Familienkrankenhilfe nach § 205 Abs 3 Satz 4 RVO (BSG, Urteil vom 29. September 1994 – 12 RK 67/93 –, zur Veröffentlichung vorgesehen), den Anspruch auf Sterbegeld (BSG, Urteil vom 11. Oktober 1994 – 1 RK 38/93 –, zur Veröffentlichung vorgesehen) sowie den Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung bei Schwerpflegebedürftigkeit (BSG, Urteil vom 25. Oktober 1994 – 3 RK 6/94 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Auch vorliegend ist, in Übereinstimmung mit der Entscheidung des 11. Senats vom 17. Oktober 1990 (aaO), ein Rückgriff auf § 90 Abs 1 BVFG geboten. Dem lassen sich nicht die in der Zeit ab 1. Januar 1990 auf dem Gebiet des Arbeitsförderungsrechts ergangenen Neuregelungen entgegenhalten. Das gilt insbesondere für die §§ 62a ff AFG, die mit Wirkung ab 1. Januar 1990 einer Änderung unterzogen wurden und Eingliederungsgeld sowohl für Aussiedler als auch für Übersiedler vorsahen (Art 1 Nr 2 EinglAnpG). Denn diese Vorschriften waren nur auf solche Personen anzuwenden, die nach dem 31. Dezember 1989 ihren ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des AFG genommen haben (§ 242j Abs 1 Halbs 1 AFG); für Personen, die – wie der Kläger – vor dem 1. Januar 1990 ihren ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des AFG genommen haben, sind, wie erwähnt, die bis zum 31. Dezember 1989 geltenden Vorschriften weiterhin anzuwenden (§ 242j Abs 2 AFG). Die hier maßgebliche, in § 107 Satz 1 Nr 3 AFG enthaltene Regelung „für Deutsche” ist im übrigen keine den § 90 Abs 3 BVFG ausschließende „nähere Regelung” iS des § 90 Abs 3 BVFG (BSG, Urteil vom 17. Oktober 1990, aaO). Unabhängig davon spricht der Umstand, daß § 90 BVFG erst mit Wirkung ab 1. Januar 1993 aufgehoben wurde, gegen den Willen des Gesetzgebers zu einer rückwirkenden Korrektur des § 90 BVFG. Schließlich ist nicht zu übersehen, daß nach der Übergangsvorschrift des § 100 BVFG für Vertriebene und Flüchtlinge iS der §§ 1 und 3 BVFG die vor dem 1. Januar 1993 gültigen Vorschriften des BVFG in beschränktem Umfang weitergelten. Somit ist der Kläger, wenn er den Status eines Sowjetzonenflüchtlings hat, über die Vorschrift des § 90 Abs 1 BVFG aF einem Deutschen gleichgestellt, der Zeiten einer Beschäftigung in der früheren DDR aufzuweisen hat.
Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, der Kläger und seine (zweite) Ehefrau seien Anfang Oktober 1989 aus der DDR über die Deutsche Botschaft in Warschau in das damalige Bundesgebiet geflüchtet. Dadurch könnte in der Person der Ehefrau die „Sowjetzonenflüchtlings”-Eigenschaft (§ 3 Abs 1 BVFG) mit der Folge begründet worden sein, daß auch der Kläger als Sowjetzonenflüchtling anzusehen ist (§ 3 Abs 3 BVFG). Hierzu und ggf zu den Fragen der Arbeitslosigkeit und der Verfügbarkeit sowie dazu, ob die vom Kläger in der DDR ausgeübten Beschäftigungen bei einer Ausübung im Geltungsbereich des alten Bundesgebietes die Beitragspflicht zur BA begründet hätten (BSGE 4, 102, 106 = SozR Nr 1 zu § 95 AVAVG; vgl auch § 242j Abs 1 Halbs 2 AFG), wird das LSG die fehlenden Tatsachenfeststellungen nachzuholen haben. Sollte ein Anspruch auf Alg zu verneinen sein, dürfte es auch an den Voraussetzungen für einen Alhi-Anspruch (§ 134 AFG) mangeln. Schließlich wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen