Leitsatz (redaktionell)

1. Eine langjährige (hier: 10jährige) Tätigkeit eines Haussohnes im elterlichen Geschäft - zunächst in der Ausbildung, dann als Mitarbeiter - die im Jahre 1914 begann, kann einer abgeschlossenen Berufsausbildung gleichgestellt werden.

2. Die durch die DV § 30 Abs 3 und 4 BVG vom 1968-02-28 in Abs 2 des § 5 gebracht Änderung kann nicht als eine Legalinterpretation der DV 1964 angesehen werden. Sie stellt vielmehr eine sachlich- rechtliche Gesetzesänderung dar, die erst vom Zeitpunkt ihres Inkrafttreten (1967-01-01) angewandt werden darf.

 

Orientierungssatz

Zum Begriff "abgeschlossene Berufsausbildung" iS der DV § 30 Abs 3 und 4 BVG § 5 (hier: Tätigkeit im elterlichen Einzelhandels-Geschäft - ohne Lehrvertrag - ohne Gehilfenprüfung).

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 3 DV § 5 Abs. 1 Fassung: 1964-07-30, Abs. 3 u 4 DV § 5 Abs. 2 Fassung: 1968-02-28

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Oktober 1967 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin beantragte im November 1964 Schadensausgleich; ihr mit Wirkung vom 4. März 1945 für tot erklärter Ehemann (geboren am 17. April 1900) habe von 1914 bis 1924 im elterlichen Geschäft (Einzelhandel mit Eiern, Butter und Käse) mitgeholfen und 1924 das Geschäft selbst übernommen, das er bis zur Einberufung im Jahre 1942 selbst geführt habe. Das Versorgungsamt K gewährte mit Bescheid vom 21. Juli 1965 Schadensausgleich vom 1. Oktober 1964 bis zum 30. April 1965 unter Zugrundelegung des Endgrundgehalts der Besoldungsgruppe A 5 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG). Der Widerspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 29. März 1966). Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat mit Urteil vom 21. September 1966 die angefochtenen Bescheide abgeändert und den Beklagten verurteilt, der Berechnung des Schadensausgleichs die Besoldungsgruppe A 7 des BBesG zugrunde zu legen. Der Ehemann der Klägerin habe zwar keine Lehre im eigentlichen Sinn durchgemacht, es müsse aber gleichgültig sein, ob er das Fachwissen in einer verbrieften Lehrzeit oder sonstigen Lehrzeit erworben habe. Immerhin sei er von 1914 bis 1924 im elterlichen Geschäft tätig gewesen. Die Einstufung nach der Bundesbesoldungsgruppe A 7 sei daher gerechtfertigt.

Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 12. Oktober 1967 die Berufung des Beklagten als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Der für die zurückliegende Zeit gewährte Schadensausgleich sei keine Versorgung für abgelaufene Zeiträume (§ 148 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), weil die den Anspruch mitbestimmende Einstufung auch für die Zukunft rechtswirksam bleibe, wenn durch Einkommensänderung der Anspruch auf Schadensausgleich wiederauflebe. Maßgebend sei § 40 a des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) idF des Zweiten Neuordnungsgesetzes (NOG). Der Ehemann der Klägerin habe zwar keine regelrechte Lehrzeit durchgemacht, aber dieser Umstand schließe nicht aus, daß er hinsichtlich des Schadensausgleichs gleichwohl einem selbständig Tätigen mit abgeschlossener Berufsausbildung im Sinne des § 5 der Durchführungsverordnung (DVO) gleichzustellen sei. Er habe in den zehn Jahren der Ausbildung und Tätigkeit im elterlichen Geschäft die erforderlichen Fachkenntnisse und Fähigkeiten erworben, um das Geschäft von 1924 bis 1942 selbständig zu führen und zu erweitern. Im übrigen sei in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg eine Ausbildung im Lebensmitteleinzelhandel auf dem Lande nicht allgemein üblich gewesen und während des ersten Weltkrieges sei sie mindestens sehr erschwert, wenn nicht unmöglich gewesen. Bezüglich der Landwirtschaft habe der BMA mit Rundschreiben vom 25. August 1961 (BVersBl 1961, 128) die gleiche Rechtsauffassung vertreten.

Gegen das ihm am 27. November 1967 zugestellte Urteil des LSG hat der Beklagte am 20. Dezember 1967 Revision eingelegt. Er rügt Verletzung der §§ 40 a BVG, 30 Abs. 3 und 4 BVG und des § 5 der DVO. Eine regelrechte kaufmännische Lehre sei schon vor dem ersten Weltkrieg möglich gewesen; die Berufsausbildung sei erst abgeschlossen mit der Beendigung der Lehrzeit oder nach einer Abschlußprüfung in einer Berufsfachschule. Die Verhältnisse in der Landwirtschaft dürfe man nicht auf den Einzelhandel übertragen.

Der Beklagte beantragt,

die angefochtenen Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage gegen die Verwaltungsbescheide abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Für die Einstufung zum Schadensausgleich solle nicht das Zeugnis einer abgelegten Prüfung, sondern der tatsächlich erreichte wirtschaftliche Berufserfolg maßgebend sein. Das gelte besonders für Gewerbezweige, in denen in früheren Jahren die Ablegung einer besonderen Prüfung zum Nachweis der abgeschlossenen Berufsausbildung nicht allgemein üblich und erforderlich gewesen sei.

Die Revision des Beklagten ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Sie konnte jedoch keinen Erfolg haben. Der Antrag der Klägerin auf Schadensausgleich ist bei der Gemeinde am 19. Oktober 1964 eingegangen. Daher ist zur Beurteilung der Streitsache § 40 a BVG idF des 2. NOG (in Kraft seit 1. Januar 1964) maßgebend. Danach erhalten Witwen einen Schadensausgleich, wenn ihr Einkommen um mindestens 50,- DM geringer ist als die Hälfte des Einkommens, das der Ehemann ohne die Schädigung erzielt hätte. Nach § 40 a Abs. 2 Satz 2 BVG gilt als Einkommen des Ehemannes das Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Verstorbene angehört hat. Zur Ermittlung des Durchschnittseinkommens sind nach § 40 a Abs. 2 letzter Satz, § 30 Abs. 4 Satz 2 BVG als Vergleichsgrundlage die amtlichen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes für das Bundesgebiet und die jeweils geltenden Besoldungsgruppen des Bundes heranzuziehen. Da der Ehemann der Klägerin selbständig ein Einzelhandelsgeschäft betrieben hat, ist zum Vergleich ein Durchschnittseinkommen zu verwenden, das einem selbständig Tätigen mit Volksschulbildung entspricht, und zwar ohne abgeschlossene Berufsausbildung das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 5 des BBesG und mit abgeschlossener Berufsausbildung das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 7 des BBesG. Da die Klägerin als Versorgungsgrundlage ein durchschnittliches Berufseinkommen nach der Besoldungsgruppe A 7 anstrebt, kommt es darauf an, ob ihr Ehemann seine Berufsausbildung im Sinne des § 5 Abs. 1 der DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG vom 30. Juli 1964 (BGBl I 574) abgeschlossen hat oder nicht. Zur Normierung der Merkmale des vergleichbaren Durchschnittseinkommens ist die Bundesregierung in § 30 Abs. 7 BVG ausdrücklich ermächtigt worden. Die auf Grund dieser Ermächtigung ergangene DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG vom 30. Juli 1964 hat in ihrem § 5 nicht näher umschrieben, was bei selbständig Tätigen unter "abgeschlossener Berufsausbildung" zu verstehen ist. Zwar hat der Verordnungsgeber in § 5 DVO nicht die Art der Erwerbstätigkeit, auch nicht die Größe eines Unternehmens zum Berechnungsmaßstab für das Durchschnittseinkommen erklärt, sondern allgemeine Befähigungsnachweise wie Schulbildung, Berufsausbildung, abgelegte Meisterprüfung, abgeschlossene Hochschulbildung. Diese Vorbildungsnachweise sollen ein bestimmender Anhaltspunkt für den mutmaßlichen wirtschaftlichen Erfolg im Berufsleben der freien Wirtschaft sein. Der erkennende Senat hat aber bereits in seinem Urteil vom 19. Oktober 1967 - 8 RV 851/66 - (SozR DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG vom 30. Juli 1964 § 5 Nr. 2) ausgesprochen, daß die Vorschrift des § 5 Abs. 1 DVO auslegungsfähig und auslegungsbedürftig ist. Dies ergibt sich vor allem im Hinblick auf § 40 a Abs. 2 Satz 2 BVG. Denn dort ist es auf die Berufs- oder Wirtschaftsgruppe abgestellt, welcher der Verstorbene angehört hat. Wenn sie durch Merkmale des Ausbildungsganges ausgedeutet werden soll, so kann dies zwar für die große Mehrzahl der Fälle genügen, kann aber nicht abschließend sein. Andererseits reicht die Ermächtigung in §§ 40 a Abs. 4 und 30 Abs. 7 BVG nicht aus, den gesetzlichen Begriff der Berufs- und Wirtschaftsgruppe vom Verordnungsgeber allein durch die Merkmale des Ausbildungsganges ersetzen zu lassen.

Daß § 5 Abs. 1 DVO die Vorschrift des § 40 a Abs. 2 Satz 2 BVG nicht völlig ausfüllt, sondern ausgelegt werden muß, ergibt sich aus Fällen der vorliegenden Art. Im Anschluß an die angeführte Entscheidung des Senats muß aus § 40 a Abs. 2 BVG über § 30 Abs. 4 Sätze 2 und 3 BVG auf die wirtschaftliche Tragweite des § 5 DVO geschlossen werden. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist die Ermittlung von Durchschnittseinkommen aus selbständiger Berufstätigkeit (s. dazu auch Urteil vom 28. November 1967 - 8 RV 409/66 -).

Im vorliegenden Fall hatte der Ehemann der Klägerin eine langjährige Berufserfahrung. Er hatte mit der Tätigkeit im elterlichen Geschäft im Jahre 1914 begonnen, also zu einer Zeit, in der zwar kaufmännische Lehre und Gehilfenprüfung möglich, aber noch nicht, insbesondere nicht bei den Haussöhnen der Gewerbetreibenden, allgemein üblich und durch die Verhältnisse zur Zeit des ersten Weltkrieges darüber hinaus sehr erschwert waren (s. dazu auch für selbständige Landwirte BMA in seinem Rundschreiben vom 25. August 1961 - BVersBl 1961 S. 127 Nr. 69 -). Der Verstorbene war bei seinen Eltern insgesamt zehn Jahre tätig gewesen, zunächst in der Ausbildung, dann als Mitarbeiter. Wenn er auch keinen formellen Lehrvertrag mit seinem Vater abgeschlossen und auch keine Kaufmannsgehilfenprüfung abgelegt hatte, so war erfahrungsgemäß die elterliche Schule in der damaligen Zeit zu Beginn des ersten Weltkrieges durchaus geeignet, eine ordentliche Berufsausbildung zu vermitteln. Ein eigenes Kind, das zur späteren Führung des Geschäfts bestimmt war, wurde in allen Sparten und sämtlichen vorkommenden Geschäften, so insbesondere Ein- und Verkauf und Buchführung, unterwiesen, um die erfolgreiche Geschäftsführung des Elternhauses fortführen zu können. Er mußte also in seinen beruflichen Erfolgschancen einem Kaufmannsgehilfen keineswegs nachstehen. Daß der Ehemann der Klägerin den beruflichen Anforderungen gewachsen war, indem er die "nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben" hatte, wie sie im Einzelhandel einem gelernten Kaufmannsgehilfen zukommen, hat das LSG unangegriffen festgestellt. An diese Feststellung ist das Revisionsgericht gebunden (§ 163 SGG). Das Berufungsgericht hat hiernach bei seiner für den Kläger günstigen Entscheidung weder § 40 a BVG noch § 30 Abs. 3 und 4 BVG noch § 5 der DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 vom 30. Juli 1964 (BGBl I 574) verletzt.

Der Senat hat bei seiner Entscheidung auch geprüft, ob etwa der DVO vom 28. Februar 1968, welche mit Wirkung vom 1. Januar 1967 in Kraft getreten ist (§ 15 Abs. 1 der DVO), die Bedeutung einer Gesetzesinterpretation zukommt und aus diesem Grunde der Anspruch der Klägerin bereits nach § 5 Abs.2 DVO idF vom 28. Februar 1968 begründet wäre, weil nunmehr eine selbständige Tätigkeit von mindestens fünf Jahren dem Abschluß einer Berufsausbildung gleichsteht. Diese Änderung ist jedoch gegenüber der bisherigen Vorschrift so erheblich, daß sie nicht als eine Legalinterpretation der vorhergehenden DVO vom 30 Juli 1964 angesehen werden kann. Sie stellt vielmehr eine sachlich-rechtliche Gesetzesänderung dar, welche erst vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens (1. Januar 1967) angewandt werden darf.

Wie bereits dargelegt, hat das LSG ohne Rechtsirrtum nach der DVO vom 30. Juli 1964 den Anspruch der Klägerin bejaht. Die Revision des Beklagten konnte daher keinen Erfolg haben (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2226432

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge