Leitsatz (amtlich)
Unfreiwillig außerhalb des Geltungsbereichs der RVO kann sich nur aufhalten, wer gezwungen ist, gegen seinen auf Rückkehr gerichteten Willen dort zu verharren. Dieser Wille bedarf des Nachweises.
Normenkette
RVO § 1315 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. Dezember 1970 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
In diesem Rechtsstreit ist darüber zu entscheiden, ob der Kläger sich freiwillig im Ausland aufhält und die von der Beklagten festgestellte Rente aus diesem Grunde ruht (§ 1315 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Das Sozialgericht (SG) hat in Übereinstimmung mit der Beklagten (Bescheid vom 31. Januar 1969) die Freiwilligkeit des Auslandsaufenthalts bejaht (Urteil vom 1. April 1970). Demgegenüber hat das Landessozialgericht (LSG) den Auslandsaufenthalt als unfreiwillig angesehen und die Beklagte verurteilt, die von ihr festgestellte Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Mai 1968 an auszuzahlen. Es hat die folgenden Tatsachenfeststellungen getroffen: Der am 18. April 1902 in Deutschland geborene Kläger war bis zum Jahre 1932 in Deutschland als Angestellter beschäftigt. Sodann übernahm er die Farm seines Schwiegervaters in Südwestafrika. Da er sich bei Kriegsausbruch zur Kur in Deutschland aufhielt, konnte er zunächst nicht nach Südwestafrika zurückkehren. Er war deshalb von Kriegsbeginn an - abgesehen von einer kurzen Kriegsdienstzeit - wieder in Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. Im Jahre 1949 kehrte er nach Südwestafrika zurück und erwarb dort im Jahre 1958 unter Aufgabe der deutschen Staatsangehörigkeit die Staatsangehörigkeit der Südafrikanischen Union.
Das LSG hat seine Entscheidung, daß ein Ruhen der Rente nach § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO in dem vorliegenden Fall nicht in Betracht komme, wie folgt begründet: Der Auslandsaufenthalt des Klägers könne nicht als freiwillig im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei ein Aufenthalt im Ausland dann nicht freiwillig, wenn der Ausländer seinem Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren, deshalb nicht folgen könne, weil er sich in einer Zwangslage befinde, durch die das Beharren auf dem Rückkehrwillen nur unter Vernachlässigung oder Aufgabe wesentlicher rechtsgeschützter Güter des Versicherten möglich und daher schlechthin unvernünftig sei. So liege es hier.
Der Kläger, der über 65 Jahre alt sei, weise zu Recht darauf hin, daß er in Deutschland - sofern man ihm und seiner Ehefrau überhaupt eine Aufenthaltsgenehmigung erteilen werde - mit der von der Beklagten festgesetzten Rente nicht existieren könne und deshalb der Fürsorge zu Last fallen würde. Damit befinde er sich in einer Zwangslage, die ausreiche, seinen Willen entsprechend zu beeinflussen und damit unfrei zu machen. Die Aufgabe des Wohnsitzes in Südwestafrika und der damit verbundene Verzicht auf seine Existenzgrundlage sei unter den gegebenen Umständen unvernünftig. Hinsichtlich der Voraussetzungen für den Rückkehrwillen habe die Beklagte zu hohe Anforderungen gestellt. Bei Ausländern sei zwar regelmäßig ein Rückkehrwille nicht vorhanden, bei Inländern könne er jedoch unterstellt werden. Der Kläger sei, obwohl er die deutsche Staatsangehörigkeit nicht mehr besitze, in dieser Hinsicht einem Inländer gleichzustellen. Nur besondere familiäre Umstände hätten ihn veranlaßt auszuwandern und die Farm seines Schwiegervaters zu übernehmen. Ihm sei nicht zu widerlegen, daß er - wie viele "Kolonialdeutsche" - seinen Lebensabend in Deutschland verbringen wolle.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit der Revision. Sie hält die Unterstellung des Rückkehrwillens des Klägers durch das Berufungsgericht für fehlerhaft. Der insoweit erforderliche Nachweis sei nicht geführt worden. Die Umstände sprächen im übrigen dagegen, daß der Kläger tatsächlich nach Deutschland zurückkehren wolle.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts reichen die bisherigen Feststellungen nicht aus, das Ruhen der Rente des Klägers (§ 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO) auszuschließen. Der Kläger ist weder Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) noch früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Südwestafrika. Die Entscheidung hängt deshalb allein davon ab, ob er sich dort freiwillig oder unfreiwillig aufhält. Der Senat vermochte diese Frage nicht abschließend zu entscheiden. Es fehlt insoweit an den erforderlichen Tatsachenfeststellungen. Das Berufungsgericht hat - ausgehend von der irrigen Meinung, es genüge, daß die Behauptung des Klägers, er wolle in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren, nicht widerlegt werden könne - keine Feststellungen darüber getroffen, ob der Kläger tatsächlich gegen seinen ernsthaft auf Rückkehr gerichteten Willen seinen Wohnsitz im Ausland beibehält. Auf diesen Willen kommt es entscheidend an. Unfreiwillig außerhalb des Geltungsbereichs der RVO kann sich begriffsnotwendig nur aufhalten, wer gezwungen ist, gegen seinen Willen dort zu verharren. Davon ist das BSG schon früher ausgegangen (vgl. hierzu SozR Nr. 1 zu § 1283 RVO aF). In dieser Entscheidung ist zwar dargetan, daß nicht nur unmittelbarer körperlicher Zwang geeignet sei, den Auslandsaufenthalt zu einem unfreiwilligen zu machen, sondern daß auch sonstige - beispielsweise wirtschaftliche - Umstände eine in diesem Zusammenhang bedeutsame Zwangslage hervorrufen können. Sie läßt andererseits erkennen, daß keine dieser Zwangssituationen Feststellungen hinsichtlich des Rückkehrwillens entbehrlich macht. Besteht die Unmöglichkeit der Rückkehr, so ist hiernach immer zu prüfen, ob die Zwangslage überhaupt auf den Willen des Berechtigten eingewirkt hat bzw. noch einwirkt. Sie ist unbedeutsam, wenn sein weiteres Verweilen im Ausland ohnedies angenommen werden muß. - In der vorbezeichneten Entscheidung konnte das BSG sich allerdings auf die vom Berufungsgericht getroffene Feststellung stützen, der Berechtigte wolle ernsthaft in das Bundesgebiet zurückkehren. Eine solche Feststellung enthält die angefochtene Entscheidung jedoch nicht. Es reicht nicht aus, daß die Behauptung des Klägers, er sei rückkehrwillig, möglicherweise nicht widerlegt werden kann. Der Rückkehrwille bedarf in jedem Fall des Nachweises. Davon ist das BSG im Rahmen des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO (Verhinderung der Rückkehr aus dem Ausland während eines Krieges) - auch in diesem Zusammenhang bedarf es der Feststellung des Rückkehrwillens - ausgegangen (vgl. BSG in SozR Nr. 55 zu § 1251 RVO Urteil des erkennenden Senats vom 18. August 1971 - Az.: 4 RJ 75/71). Diese Fälle betrafen - anders als hier - deutsche Staatsangehörige. Selbst unter dieser Voraussetzung ist die Unterstellung des Rückkehrwillens - ohne genaue Ermittlungen - als fehlerhaft angesehen worden. Es besteht kein Anlaß, den Kläger, der auf die deutsche Staatsangehörigkeit verzichtet hat, günstiger zu stellen. Die Besonderheiten des zu entscheidenden Falles gestatten keine abweichende Beurteilung, sie sind eher geeignet, besondere Anforderungen an den Nachweis des Rückkehrwillens zu stellen. Dem LSG ist zwar darin beizupflichten, daß ein ursprünglich freiwilliger Auslandsaufenthalt zu einem unfreiwilligen werden kann. In dem vorliegenden Fall ist aber zu beachten, daß der Kläger Deutschland in der Absicht verlassen hat, sich mit der Übernahme der Farm seines Schwiegervaters eine Existenzgrundlage zu schaffen und diese weiter auszubauen. Auch den Schwerpunkt seines privaten Lebensbereichs hat er nach Südwestafrika verlegt. Sein von Anfang an in dieser Hinsicht bestehender Wille war auf Dauer gerichtet. Er ist, wie spätere Geschehnisse erkennen lassen - der Kläger ist nach dem 2. Weltkrieg nach Südwestafrika zurückgekehrt, er hat die Staatsangehörigkeit der Südafrikanischen Union erworben - in diesem Sinne verwirklicht worden. Im Hinblick darauf können bloßer Zeitablauf und - damit zwangsläufig verbunden - das Erreichen eines höheren Lebensalters für sich allein eine ernsthafte Willensänderung nicht dartun. Es bedarf vielmehr der Feststellung von Tatsachen, die geeignet sein konnten, einen Bruch in der Willensbildung des Klägers herbeizuführen und die den Beweis dafür erbringen, daß sein Wille - anders als früher - nunmehr auf eine Rückkehr nach Deutschland gerichtet ist. Da es insoweit in dem angefochtenen Urteil an Feststellungen tatsächlicher Art fehlt, ist der Rechtsstreit zur Durchführung der noch erforderlichen Ermittlungen an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei der neuen Entscheidung wird das Berufungsgericht - falls der Nachweis des Rückkehrwillens erbracht werden kann - erneut zu prüfen haben, ob der Kläger an der Rückkehr gehindert ist. Ein Zwang besteht zwar nicht nur dann, wenn eine unmittelbare Gewalteinwirkung das Verlassen des Landes unmöglich macht. Auch sonstige Umstände können zu einer Zwangssituation führen. Insoweit bedarf es jedoch einer sorgsamen Abwägung aller bedeutsamen Tatsachen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1669401 |
BSGE, 107 |