Leitsatz (redaktionell)

Die Verletzung einer kassenärztlichen Pflicht ist "gröblich", wenn sie nach Art, Dauer oder Umfang besonders schwer wiegt (hier: Abrechnung nicht ausgeführter Leistungen).

Eine gröbliche Pflichtverletzung rechtfertigt eine Entziehung der Kassenzulassung nur, wenn die begangenen Verfehlungen den Arzt als ungeeignet für die Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung erscheinen lassen.

Ob ein Kassenarzt durch eine Pflichtverletzung seine Eignung verloren hat, wird in der Regel davon abhängig, ob das Vertrauensverhältnis zur Kassenärztlichen Vereinigung und den KK so schwer gestört ist, daß diesen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Arzt nicht zugemutet werden kann, er für sie - jedenfalls auf Zeit - untragbar geworden ist. In diesem Zusammenhang können neben der objektiven Gefährlichkeit auch subjektive Komponenten des Fehlverhaltens Bedeutung gewinnen.

 

Normenkette

RVO § 368a Abs. 6 Fassung: 1955-08-17

 

Tenor

Die Revision des Beigeladenen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 12. Mai 1971 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der jetzt 55-jährige Beigeladene und Revisionskläger, der seit 1954 in H als Kassenarzt zugelassen ist, erstrebt die Wiederherstellung einer Entscheidung des beklagten Berufungsausschusses; dieser hatte, nachdem der Zulassungsausschuß die Kassenzulassung des Beigeladenen wegen gröblicher Verletzung der kassenärztlichen Pflichten entzogen hatte, dessen Entscheidung aufgehoben.

Eine stichprobenweise Befragung von Patienten des Beigeladenen im Jahre 1969 ergab, daß er für das erste Vierteljahr in einer größeren Zahl von Fällen nicht erbrachte Leistungen abgerechnet hatte, deren Wert der Berufungsausschuß später auf "einige tausend Mark" schätzte; obwohl er damit das Vertrauensverhältnis zur Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) "erheblich belastet" habe, hielt der Berufungsausschuß eine Entziehung der Zulassung nicht für berechtigt, weil nicht auszuschließen sei, daß er durch zukünftiges einwandfreies Verhalten das Vertrauensverhältnis wiederherstellen könne.

Das Sozialgericht (SG) hat auf die Klage der KÄV und der drei Landesverbände der Krankenkassen nach Vernehmung von 27 Zeugen den Beschluß des Berufungsausschusses aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beigeladenen zurückgewiesen: Bei 15 der vernommenen Zeugen habe die Beweisaufnahme eindeutig ergeben, daß abgerechnete Leistungen (Injektionen, Untersuchungen) nicht ausgeführt worden seien. Die Ursache der falschen Abrechnungen müsse nach den Aussagen der Ehefrau und der Tochter des Beigeladenen sowie einer Angestellten in einer unzulänglichen Organisation der Praxis gesehen werden; der Beigeladene habe nichts getan, um seine eigene Überbeanspruchung und die seiner Tochter, die im wesentlichen die Abrechnung gemacht habe, durch eine andere Aufgabenverteilung unter den Hilfspersonen oder durch zusätzliche Einstellung weiteren Personals zu beheben. Er habe auch nicht überwacht, ob verordnete und sogleich in die Abrechnungsunterlagen eingetragene Leistungen tatsächlich ausgeführt worden seien. Die bloße Absicht, sein Abrechnungssystem nunmehr zu ändern, könne ihn angesichts der nachgewiesenen und eingestandenen Fehlabrechnungen, die keine Einzelfälle seien und sich über längere Zeit hingezogen hätten, nicht entlasten. Andernfalls würde die soziale Krankenversicherung gefährdet, da die Krankenkassen ihre Aufgabe nur bei gewissenhafter Abrechnung der Kassenärzte erfüllen könnten. Auf die Höhe des zuviel beanspruchten Honorars komme es für die Entscheidung ebensowenig an wie auf ein Verschulden des Beigeladenen. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schließe bei einer so gröblichen Verletzung der kassenärztlichen Pflichten wie hier die Zulassungsentziehung nicht aus (Urteil vom 12. Mai 1971).

Der Beigeladene hat die zugelassene Revision eingelegt, mit der er die unrichtige Anwendung des § 368 a der Reichsversicherungsordnung (RVO), insbesondere des darin enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffs der "gröblichen Verletzung kassenärztlicher Pflichten" rügt. Entgegen der Ansicht des LSG seien unter dem insoweit allein maßgebenden Gesichtspunkt der Eignung des Kassenarztes auch die Gründe für die - von ihm nicht bestrittenen - Fehlabrechnungen erheblich. Ein von der KÄV unterstelltes vorsätzliches Handeln habe die Beweisaufnahme nicht bestätigt; ursächlich sei vielmehr seine völlige Überbeanspruchung gewesen, die notwendigerweise zu den zeitlich begrenzten Fehlleistungen im verwaltungsmäßigen Bereich geführt habe. Damit sei aber nicht seine permanente Nichteignung als Kassenarzt bewiesen, zumal er durch eine völlige Umorganisation seiner Praxis dafür gesorgt habe, daß sich Fehlabrechnungen künftig nicht mehr wiederholen könnten. Unter diesen Umständen wäre die Entziehung der Zulassung, durch die seine wirtschaftliche Existenz vernichtet würde, ein unverhältnismäßig harter Eingriff. Der Beigeladene beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die KÄV, die klagenden Kassenverbände und auch der beklagte Berufungsausschuß beantragen, die Revision zurückzuweisen. Nach dem Vorbringen der KÄV betreffen die streitigen Fehlabrechnungen nicht nur eine begrenzte Zahl von Fällen, sondern einen längeren Zeitraum. Sie hätten sich seinerzeit in einer erheblichen Überschreitung der Fachgruppenfallwerte niedergeschlagen. Nach Einleitung dieses Verfahrens seien die Fallwerte des Beigeladenen dann plötzlich unter den Durchschnitt gesunken, vor allem bei den Sonderleistungen, die früher etwa das Dreifache der Durchschnittswerte betragen hätten. Im übrigen könne eine vom Beigeladenen für seine Patienten behauptete besonders gute ärztliche Versorgung nicht vorliegen, wenn für notwendig gehaltene (und abgerechnete) Leistungen tatsächlich nicht ausgeführt worden seien. Letzterem Vorbringen haben sich auch die Kassenverbände angeschlossen.

II

Die Revision des Beigeladenen ist unbegründet.

Das gilt zunächst in prozessualer Hinsicht. Rügen hat der Beigeladene insoweit nicht erhoben; Mängel, die von Amts wegen zu beachten wären, liegen nicht vor. Das LSG hat die Berufung des Beigeladenen zurückgewiesen und damit das Urteil des SG bestätigt, das auf die Klage der KÄV und der drei Kassenverbände den Beschluß des Berufungsausschusses aufgehoben, jedoch den weitergehenden Antrag der Kläger, den Widerspruch des Beigeladenen gegen den Beschluß des Zulassungsausschusses zurückzuweisen, abgewiesen und auch die Klage des Beigeladenen gegen den Beschluß des Zulassungsausschusses abgewiesen hatte.

Ob der Antrag der Kläger auf Zurückweisung des Widerspruchs mit Recht abgewiesen worden ist, hat der Senat nicht zu entscheiden; denn die Kläger haben dagegen kein Rechtsmittel eingelegt. Daß sich eine Klage auch allein gegen die zweitinstanzliche Verwaltungsentscheidung (hier: den Beschluß des Berufungsausschusses) richten kann, wenn nur diese den Kläger beschwert, ist anerkannt (vgl. § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO; BSG 10, 292).

Ob die Klage des Beigeladenen gegen den Beschluß des Zulassungsausschusses überhaupt zulässig war, kann offenbleiben; nach § 95 SGG ist Gegenstand der Klage regelmäßig der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt des Widerspruchsbescheides, richtiger Beklagter ist deshalb in Entziehungsstreitigkeiten grundsätzlich der Berufungsausschuß (vgl. § 70 Nr. 4 SGG). Vor dem LSG haben alle Beteiligten, auch der Beigeladene, einer Änderung des Rubrums dahin zugestimmt, daß der Beigeladene nicht mehr, wie im Verfahren vor dem SG, als Kläger erscheint. Spätestens damit hat er die - ihm vom SG nahegelegte - Klage zurückgenommen. Schon sein Berufungsantrag war im übrigen nur auf Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils gerichtet.

Auch in der Sache ist die Entscheidung des LSG nicht zu beanstanden. Der angefochtene Beschluß des Berufungsausschusses ist rechtswidrig und deshalb mit Recht aufgehoben worden.

Nach § 368 a Abs. 6 RVO kann die Zulassung zur Kassenpraxis u.a. entzogen werden, wenn "der Kassenarzt seine kassenärztlichen Pflichten gröblich verletzt". Daß hierzu nicht allein Pflichten im Verhältnis zu den Versicherten gehören, - nach §§ 368 e, 368 d Abs. 4 RVO hat der Kassenarzt die Versicherten zweckmäßig, ausreichend und sorgfältig zu behandeln -, sondern auch Pflichten gegenüber den für die Honorierung der Leistungen zuständigen Stellen, insbesondere die Pflicht, nur wirklich erbrachte Leistungen abzurechnen, bedarf keiner näheren Begründung. Gerade weil die KÄV und die Krankenkassen, solange keine konkreten Verdachtsgründe vorliegen, kaum die Möglichkeit haben, die abgerechneten Leistungen daraufhin zu überprüfen, ob sie tatsächlich erbracht worden sind - auch im vorliegenden Fall sind die Fehlabrechnungen des Beigeladenen nur durch Zufall entdeckt worden - müssen beide, KÄV und Krankenkassen, sich unbedingt auf die Ehrlichkeit und Sorgfalt des Kassenarztes verlassen können. Eine gewissenhafte, peinlich genaue Leistungsabrechnung gehört deshalb zu den Grundpflichten des Kassenarztes. Ihre Verletzung kann keinesfalls, etwa weil sie nur den "administrativen" Bereich der kassenärztlichen Tätigkeit betrifft, als weniger schwerwiegend als die Verletzung sonstiger Pflichten oder gar als "Kavaliersdelikt" angesehen werden (vgl. Urteil des Senats in SozR Nr. 24 zu § 368 a RVO).

Eine "gröbliche" Verletzung einer kassenärztlichen Pflicht liegt dann vor, wenn sie nach Art, Dauer und (oder) Umfang besonders schwer wiegt, wenn also mehr oder weniger häufige, vielleicht sogar über einen längeren Zeitraum sich erstreckende oder besonders krasse Verstöße festgestellt sind (vgl. SozR aaO). Daß der Beigeladene seine Abrechnungspflichten gröblich verletzt hat, hat das LSG unter Hinweis auf das Ergebnis der Beweisaufnahme zutreffend ausgeführt; vor dem SG haben 15 Patienten des Beigeladenen bestätigt, daß sie Leistungen, die für das erste Quartal 1969 abgerechnet worden sind, nicht erhalten haben. Ob der Beigeladene die - von ihm im wesentlichen zugegebenen - Abrechnungsfehler schuldhaft im Sinne eines vorwerfbaren Verhaltens verursacht hat, ist unerheblich (SozR aaO). Auch eine Zulassungsentziehung wegen gröblicher Pflichtverletzung ist nicht Sanktion für strafwürdiges Verhalten, sondern eine Maßnahme der Verwaltung, die allein dazu dient, das System der kassenärztlichen Versorgung vor Störungen zu bewahren und damit funktionsfähig zu erhalten. Dieser Sicherungszweck kan u. U. auch die Entfernung solcher Ärzte erfordern, die lediglich objektiv gegen ihre Kassenarztpflichten verstoßen haben. Die Gründe, die im Falle des Beigeladenen zu den Fehlabrechnungen geführt haben - nach Feststellung des LSG beruhen sie vor allem auf mangelhafter Organisation der umfangreichen Praxis - schließen im übrigen die Annahme des schuldhaften Verhaltens keineswegs aus.

Auch eine gröbliche Pflichtverletzung rechtfertigt indessen eine Entziehung der Kassenzulassung - als den letzten und schwersten, nicht selten die wirtschaftliche Existenz berührenden Eingriff in den Kassenarztstatus - nur, wenn die begangenen Verfehlungen den Arzt als ungeeignet für die Teilnahme in der kassenärztlichen Versorgung erscheinen lassen. Denn nur dann ist die Entziehung zur Sicherung der reibungslosen Versorgung der Versicherten notwendig, eine disziplinarische Maßnahme nach § 368 m Abs. 4 RVO mithin nicht ausreichend. Nur dann entspricht sie auch dem - Verfassungsrang genießenden - Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der insbesondere im Bereich der grundrechtlich verbürgten Berufsfreiheit zu beachten ist (vgl. BSG 10, 292, 298; 15, 177, 182 f).

Ob ein Kassenarzt durch eine Pflichtverletzung seine Eignung verloren hat, wird in der Regel davon abhängen, ob das Vertrauensverhältnis zur KÄV und den Krankenkassen so schwer gestört ist, daß diesen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Arzt nicht zugemutet werden kann, er für sie - jedenfalls auf Zeit - untragbar geworden ist (BSG 15, 183 f). In diesem Zusammenhang können auch subjektive Komponenten im Fehlverhalten des Arztes Bedeutung gewinnen, soweit sie nämlich seine allgemeine Vertrauenswürdigkeit berühren, die je nach dem, ob vorsätzliches, (grob) fahrlässiges oder "entschuldbares" Verhalten vorliegt, einer unterschiedlichen Beurteilung fähig ist. Andererseits kann der Verlust der Eignung als Kassenarzt auch allein in der objektiven Gefährlichkeit des Verhaltens begründet sein. Im Falle des Beigeladenen kommt beides zusammen: Wenn schon nicht Vorsatz, dann mindestens eine kaum zu überbietende Gleichgültigkeit gegen die Erfordernisse einer geordneten Abrechnung und zugleich ein auch zahlenmäßig erhebliches Gewicht der Verstöße, dessen Gefährlichkeit bereits eine stichprobenweise Überprüfung ergeben hatte, und dessen Umfang vom Zulassungsausschuß bei entsprechender "Hochrechnung" auf 10.000 bis 15.000 DM, vom Berufungsausschuß immerhin auf "einige tausend Mark" geschätzt worden ist. Daß als Ursache der Abrechnungsfehler auch eine Überbeanspruchung des Beigeladenen in der Praxis mit in Betracht kommen mag, entlastet ihn nicht. Denn diese hätte er als Großstadtarzt, der sich in einer anderen Lage als ein überbeschäftigter Landarzt befindet, unschwer auf ein erträgliches Maß abbauen oder durch eine zweckmäßigere Organisation seiner Praxis ausgleichen können, wie es nach dem eigenen Vorbringen des Beigeladenen jetzt auch geschehen ist.

Das LSG hat das Verhalten des Beigeladenen seit Einleitung des Entziehungsverfahrens im Jahre 1969 - bisher ist die Entziehung nicht vollzogen worden - nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt. Das ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der erkennende Senat hat zwar in einem Urteil vom 19. Oktober 1971 entschieden, daß für die Frage, ob eine Ersatzkassenbeteiligung zu Recht widerrufen worden ist (Entsprechendes muß für die Entziehung der Kassenzulassung gelten), eine Änderung der Sachlage während des Rechtsstreits grundsätzlich zu berücksichtigen ist, sofern die sofortige Vollziehung des Widerrufs nicht angeordnet worden ist; dabei hat der Senat jedoch betont, daß ein Wohlverhalten des Anfechtungsklägers während des Prozesses weniger ins Gewicht fällt als sein Fehlverhalten vorher (BSG 33, 161). Auch im Falle des Beigeladenen läßt die Tatsache, daß er seit 1969 anscheinend korrekt abgerechnet hat, angesichts der Schwere seiner früheren Verfehlungen den Schluß auf die Wiedergewinnung der Eignung als Kassenarzt noch nicht zu. Daß der Beigeladene, wie der Berufungsausschuß ausgeführt hat, durch künftiges einwandfreies Verhalten das Vertrauensverhältnis zur KÄV und den Krankenkassen wiederherstellen kann, ist möglich, für die Entscheidung dieses Rechtsstreits aber unerheblich.

Der Zulassungsausschuß hatte somit dem Beigeladenen die Kassenzulassung mit Recht entzogen, die Aufhebung seines Beschlusses durch den Berufungsausschuß war rechtswidrig und ist ihrerseits von den Vorinstanzen mit Recht aufgehoben worden. Die Revision des Beigeladenen gegen das Urteil des LSG ist unbegründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670225

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