Leitsatz (amtlich)
1. § 1247 Abs 2 S 2 RVO schließt auch dann eine Erwerbsunfähigkeit aus, wenn die selbständige Erwerbstätigkeit auf Kosten der Gesundheit ausgeübt wird (Weiterentwicklung von BSG 1982-03-18 11 RA 26/81 = SozR 2200 § 1246 Nr 89.
2. Zur Verfassungsmäßigkeit von § 1247 Abs 2 S 2 RVO und von § 2 Abs 2 Buchst a GAL.
Normenkette
GAL § 2 Abs 2 Buchst a Fassung: 1973-12-19; RVO § 1247 Abs 2 S 2 Fassung: 1972-10-16; GG Art 14 Abs 1 S 2; GG Art 3 Abs 1
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 03.11.1982; Aktenzeichen L 3 Al 359/82) |
SG Kassel (Entscheidung vom 18.03.1982; Aktenzeichen S 4 Al 5/81) |
Tatbestand
Im Streit steht die Gewährung von vorzeitigem Altersgeld nach § 2 Abs 2 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte (GAL).
Der 1924 geborene Kläger hat das von ihm bewirtschaftete landwirtschaftliche Unternehmen 1966 abgegeben und eine selbständige Tätigkeit als Rechtsbeistand aufgenommen; seit der Unternehmensabgabe hat er die Entrichtung von Beiträgen zur landwirtschaftlichen Alterskasse fortgesetzt.
Die 1980 von ihm begehrte Gewährung vorzeitigen Altersgeldes lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 6. April 1981). Zwar liege nach ärztlichem Urteil Erwerbsunfähigkeit iS von § 1247 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vor; wegen der selbständigen Tätigkeit sei ein Anspruch aufgrund von Satz 2 der Vorschrift jedoch noch nicht gegeben.
Die hiergegen erhobene Klage blieb in den Vorinstanzen erfolglos. Auch nach der Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) im Urteil vom 3. November 1982 steht dem Kläger das vorzeitige Altersgeld nach § 2 Abs 2 Buchst a GAL iVm § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO idF des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 965) nicht zu; danach sei nicht erwerbsunfähig, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe. Diese Regelung verstoße nicht gegen Grundsätze des Verfassungsrechts; insbesondere sei der Kläger in seinen Eigentumsrechten iS des Art 14 des Grundgesetzes (GG) nicht verletzt.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt der Kläger, die Urteile der Vorinstanzen sowie den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das vorzeitige Altersgeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren, hilfsweise, den Rechtsstreit auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob § 2 Abs 2 Buchst a GAL iVm § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO verfassungswidrig ist.
Zur Begründung trägt er vor, sein Gesundheitszustand habe sich mittlerweile weiter verschlechtert. Obgleich er mindestens seit Oktober 1980 iS von § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO erwerbsunfähig und damit aus medizinischer Sicht nicht mehr in der Lage sei, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu erarbeiten, müsse er aus finanziellen Gründen die Tätigkeit als Rechtsbeistand fortführen; dies geschehe auf Kosten seiner Restgesundheit. Gleichwohl unterstelle Satz 2 des § 1247 Abs 2 RVO ihm Erwerbsfähigkeit. Werde eine selbständige Erwerbstätigkeit auf Kosten der Gesundheit durchgeführt, dann könne diese nachträglich eingefügte Vorschrift keine Gültigkeit haben; anderenfalls sei sie mit Art 14 GG nicht vereinbar.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers konnte keinen Erfolg haben; zutreffend hat das LSG entschieden, daß ihm das vorzeitige Altersgeld nicht zusteht.
Von den Voraussetzungen für diese Leistung in § 2 Abs 2 GAL, der hier idF des 7. Änderungsgesetzes GAL - 7. ÄndG-GAL - vom 19. Dezember 1973 (BGBl I 1937) Anwendung findet, ist die in Buchst c nach dem Sachverhalt ohne weiteres erfüllt; der Kläger hat das landwirtschaftliche Unternehmen 1966 abgegeben. Ob das auch für den Buchst b des Gesetzes zutrifft, vermag der Senat entgegen dem LSG nicht einfach als erwiesen anzusehen. Selbst wenn der Kläger seit der Abgabe gemäß § 27 Abs 1 GAL Beiträge weiterentrichtet hat und ohne Zweifel für mindestens 60 Kalendermonate Beitragszahlungen erfolgt sind, so liegt doch nicht auf der Hand, daß der Kläger, wie Buchst b es im weiteren fordert, die Beiträge auch "bis zum Eintritt der Erwerbsunfähigkeit" gezahlt hat. Denn darüber, ob Erwerbsunfähigkeit überhaupt eingetreten ist, wird gerade gestritten.
Das LSG hat aber jedenfalls im Ergebnis zu Recht die Voraussetzung in § 2 Abs 2 Buchst a GAL verneint. Danach muß der (frühere) landwirtschaftliche Unternehmer "erwerbsunfähig iS des § 1247 Abs 2 RVO" sein. Insofern hat das LSG es als erwiesen angesehen, daß der Kläger seit Oktober 1980 iS des Satzes 1 dieser Vorschrift erwerbsunfähig sei. Zur Erläuterung hat es lediglich auf die - ein vom Versorgungsamt beigezogenes Gutachten auswertende - Stellungnahme des beratenden Arztes der Beklagten vom 28. Januar 1981 hingewiesen, wo es heißt, "Erwerbsunfähigkeit liegt vor". Nach Satz 1 des § 1247 Abs 2 RVO ist erwerbsunfähig der Versicherte, der "infolge von Krankheit oder anderer Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erreichen kann". Wäre bei dem Kläger schon nach diesem Satz Erwerbsunfähigkeit zu verneinen, käme es auf den folgenden, hier streitigen Satz 2 nicht mehr an. Ob der Kläger iS des Satzes 1 tatsächlich erwerbsunfähig ist, kann jedoch letztlich offenbleiben; denn auch wenn dies der Fall wäre, schließt dennoch Satz 2 von § 1247 Abs 2 RVO die Erwerbsunfähigkeit aus.
Zu diesem durch das RRG vom 16. Oktober 1972 in § 1247 Abs 2 RVO eingefügten Satz 2 hat der Senat bereits entschieden (BSGE 53, 32 = SozR 5850 § 2 Nr 9), daß er im Rahmen des § 2 Abs 2 Buchst a GAL ebenfalls, wenn auch nicht für die landwirtschaftliche Unternehmertätigkeit selbst, anzuwenden ist. Dem Kläger kann daher das vorzeitige Altersgeld nur dann zustehen, wenn er keinerlei außerlandwirtschaftliche selbständige Erwerbstätigkeit, also auch keine selbständige Erwerbstätigkeit als Rechtsbeistand mehr ausübt. Das Gegenteil ist jedoch nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG der Fall. Dem steht auch nicht entgegen, daß dies angeblich auf Kosten seiner Restgesundheit geschieht.
In dem Urteil vom 18. Oktober 1982 (SozR 2200 § 1246 Nr 89) hat der Senat klargestellt, daß der Grundsatz, eine auf Kosten der Gesundheit verrichtete Tätigkeit dürfe nicht berücksichtigt werden, nicht schlechthin, sondern nur insoweit gelten kann, als er im jeweiligen Zusammenhang sachangemessen ist. Der § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO ist ein weiterer Fall, in dem der genannte Grundsatz keine Rolle spielen kann. Das ergibt schon der Gesetzeswortlaut. Erwerbsunfähig ist danach nicht, "wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt". Damit wird nicht wie in § 1246 Abs 2 Satz 1 und in § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO auf Fähigkeiten und Können des Versicherten abgestellt, die durch Arbeit auf Kosten der Gesundheit nicht belegt werden. Maßgebend ist vielmehr das tatsächliche Ausüben einer selbständigen Erwerbstätigkeit ohne jegliche Differenzierung (vgl die in Art 2 § 9a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes ebenfalls ohne Differenzierung geforderte Aufgabe der ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeit). Nach dem Wortlaut kann also eine auf Kosten der Gesundheit ausgeübte selbständige Erwerbstätigkeit bei Anwendung von § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO nicht außer Betracht bleiben. Das bestätigen die Gesetzessystematik sowie der Sinn und Zweck dieser Vorschrift. Entstehungsgeschichte (BT-Drucks VI/2153, Begründung A sowie B S 16) bereits dargelegt (BSGE 45, 238, 239; SozR 2200 § 1247 Nr 34), daß die Vorschrift weder eine Erwerbsunfähigkeit klarstelle oder fingiere noch etwa Einkünfte über der Grenze der Geringfügigkeit unwiderlegbar vermuten lasse. Nach Aufbau und Fassung habe der Gesetzgeber damit vielmehr eine Ausnahme von Satz 1 geschaffen; Satz 2 solle - selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen von Satz 1 - die Gewährung von Renten wegen Erwerbsunfähigkeit ausschließen, wenn und solange der Versicherte eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe. Damit werde verhindert, daß ein Versicherter Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beziehe und zugleich selbständig erwerbstätig sei; denn der Empfänger einer solchen für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bestimmten Leistung solle nicht daneben Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit erzielen können. Dem hat der 4. Senat in BSGE 51, 190 und SozR 2200 § 1247 Nr 37 sich angeschlossen. Auch nach seiner Ansicht ist der Satz 2 als Sondervorschrift zu Satz 1 zu verstehen, die eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beanspruchende Selbständige betreffe. Bei ihnen stelle das Gesetz es auf die bloße Tatsache der Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit schlechthin ab. Während in Satz 1 die Fähigkeit maßgebend sei, eine Erwerbstätigkeit in gewissem zeitlichen Umfang oder mit bestimmtem finanziellen Erfolg auszuüben, komme es in Satz 2 darauf an, daß keinerlei selbständige Erwerbstätigkeit mehr verrichtet werde.
Auch nach dem Sinn und Zweck des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO soll es danach ausgeschlossen sein, daß ein Selbständiger eine Erwerbsunfähigkeitsrente (ein vorzeitiges Altersgeld) und trotzdem daneben noch Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit bezieht. Für diese Zielrichtung des Gesetzes kann es nicht von Bedeutung sein, ob die Einkünfte aus der selbständigen Erwerbstätigkeit auf Kosten der Gesundheit erzielt werden. Andernfalls würden diese Versicherten gegen den Willen des Gesetzgebers ohne vernünftigen Grund durch den nur ihnen dann möglichen Doppelbezug von Erwerbsunfähigkeitsrente und Erwerbseinkünften besser als die übrigen Versicherten gestellt. Zieht ein Selbständiger unter Hinnahme gesundheitlicher Nachteile noch ein Erwerbseinkommen, so geschieht das aus eigenem Entschluß. Ein solcher Entschluß vermag nur zu bewirken, daß er dann Leistungen, die ein wegen Erwerbsunfähigkeit nicht mehr erzielbares Erwerbseinkommen ersetzen sollen, nicht erhalten kann. Damit mutet das Gesetz diesen Versicherten nicht zu, auf Kosten ihrer Gesundheit weiter tätig zu sein; ihnen wird nur während der auf ihrem Entschluß beruhenden angeblichen "Raubbauarbeit" keine zusätzliche Erwerbsunfähigkeitsrente zugebilligt (s auch hierzu SozR 2200 § 1246 Nr 89). Im übrigen müßte die Nichtberücksichtigung einer auf Kosten der Gesundheit ausgeübten Erwerbstätigkeit zur weitgehenden Nichtanwendung des § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO führen. Diese Vorschrift wirkt sich rechtlich nämlich auf diejenigen Versicherten aus, die im Sinne des vorangehenden Satzes (Satz 1) erwerbsunfähig sind; wenn sie gleichwohl noch selbständig erwerbstätig sind, dann wird dies nicht selten auf Kosten der Gesundheit geschehen.
Gegen höherrangiges Recht verstößt die angewandte Vorschrift nicht. Art 3 Abs 1 GG ist nicht dadurch verletzt, daß § 1247 Abs 2 Satz 2 RVO nur für Selbständige und nicht auch für Unselbständige gilt; der Gesetzgeber sieht das mit der Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente gewollte Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bei den Selbständigen mit der Feststellung ihrer Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO als noch nicht hinreichend gewährleistet an. Was den auf eine Verletzung von Art 14 GG abzielenden Vorwurf der Vertrauensschädigung angeht, ist hier bereits zweifelhaft, ob bei einer Leistung aufgrund von § 2 Abs 2 Buchst a GAL verfassungsrechtlich geschützte Rechte aus Art 14 GG überhaupt berührt sein können; bejahendenfalls hält sich § 2 Abs 2 Buchst a GAL im Rahmen von Art 14 Abs 1 Satz 2 GG. Wäre Art 14 GG nicht anwendbar, so könnte sich der Kläger auch nicht aus anderen Gründen auf Vertrauensschutz berufen. Der Fall der sog "echten Rückwirkung" des Gesetzes scheidet allein deswegen aus, weil der Kläger beim Inkrafttreten des RRG im Oktober 1972 die Voraussetzungen für ein vorzeitiges Altersgeld aufgrund der bis dahin geltenden Fassung des § 2 Abs 2 Buchst a GAL nicht erfüllte; nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG war er damals schon iS des § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO noch nicht erwerbsunfähig. Die vor dem RRG bestehende Rechtsstellung des Klägers ist durch dieses Gesetz auch nicht entwertet worden. Der Kläger konnte zu keiner Zeit erwarten, es werde immer dabei bleiben, daß § 1247 Abs 2 RVO nicht um eine Vorschrift iS des Satzes 2 ergänzt würde; kein Versicherter konnte darauf vertrauen, daß er bei festgestellter Erwerbsunfähigkeit iS des § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit und gleichwohl daneben noch Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit beziehen könne; schon der Umstand, daß die Erwerbsunfähigkeitsleistungen auf dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben beruhen, mußte eine solche Annahme von vornherein verbieten.
Nach alledem erweist sich das angefochtene Urteil als zutreffend. Die Revision war sonach mit der aus § 193 SGG entnommenen Kostenfolge zurückzuweisen.
Fundstellen
BSGE, 254 |
Breith. 1984, 128 |