Leitsatz (redaktionell)
1. Die Klägerin, die einen selbständigen Tabakwarenhandel betreibt, gehört nicht dem Personenkreis an, der berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmerin tätig zu sein pflegt, aber vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht; sie gilt vielmehr kraft unwiderleglicher Vermutung und ohne Rücksicht auf die Höhe ihrer Einnahmen als nicht arbeitslos.
2. Bei Prüfung des Anspruchs auf Zahlung eines vorzeitigen Altersruhegeldes sind für die Auslegung des Begriffs der Arbeitslosigkeit iS des AVG § 15 Abs 2 (RVO § 1248 Abs 2) die einschlägigen Vorschriften des AVAVG in der zur Zeit des Versicherungsfalles jeweils geltenden Fassung heranzuziehen. Soweit hiernach die Fassung der AVAVG §§ 75, 76 vom 1957-04-03 (BGBl 1 1957, 321) in Betracht kommt, gilt derjenige nicht als arbeitslos, der für unbestimmte Dauer - nicht nur gelegentlich - eine selbständige Tätigkeit berufsmäßig zu Erwerbszwecken ausübt, mag er auch diese Tätigkeit früher nur nebenberuflich neben einer abhängigen Tätigkeit ausgeübt haben.
Normenkette
RVO § 1248 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 25 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; ArVNG § 75 Fassung: 1957-04-03, § 76 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 8. April 1960 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 5. November 1959 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin das vorzeitige Altersruhegeld nach § 25 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zusteht.
Die Klägerin (geboren 1897) war seit 1920 in verschiedener Berufen, zuletzt seit 1937 als Buchhalterin bei einem Kirchenbuchamt beschäftigt. Diese Tätigkeit gab sie Ende August 1945 auf. Seither bestreitet sie ihren Lebensunterhalt aus einem schon seit 1925 bestehenden Tabakwarenkleinhandel.
Ein Antrag der Klägerin im November 1957, ihr Rente wegen Berufsunfähigkeit zu bewilligen, hatte bei der Beklagten und im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) keinen Erfolg. Im Juni 1959 beantragte sie - mit einer Bescheinigung des Arbeitsamts, bei dem sie sich seit Juni 1958 laufend als Arbeitsuchende gemeldet hatte - die Bewilligung des Altersruhegeldes nach § 25 Abs. 2 AVG. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die Voraussetzungen der Arbeitslosigkeit nicht erfüllt seien; die Klägerin habe sich seit 1945 nicht mehr als Arbeitnehmerin betätigt und sei nicht nur vorübergehend aus dem Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden (Bescheid vom 4. Juli 1959).
Das SG wies die Klage ab (Urteil vom 5. November 1959). Auf die Berufung der Klägerin hob das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten auf und verurteilte diese, der Klägerin einen neuen Bescheid über die Gewährung des Altersruhegeldes seit dem 1. Juni 1959 zu erteilen: Bei der Auslegung des zum 1. Januar 1957 in Kraft getretenen § 25 Abs. 2 AVG könne weder von dem Begriff der Arbeitslosigkeit ausgegangen werden, wie er in den damals gültigen §§ 87 und 87 a des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) aF niedergelegt gewesen sei, noch könne die am 1. April 1957 in Kraft getretene Neufassung des AVAVG angewandt werden. Der Begriff der Arbeitslosigkeit in § 25 Abs. 2 AVG sei vielmehr ohne Rücksicht auf die Regelung in jenen Gesetzen zu bestimmen. Der Versicherte, der das vorzeitige Altersruhegeld beanspruche, müsse die Wartezeit erfüllt haben, 60 Jahre alt sein und als Beschäftigungsloser arbeitsfähig und arbeitswillig sein. Nicht erforderlich sei, daß er vor der Beschäftigungslosigkeit in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegte. Beschäftigungslos sei auch, wer als Selbständiger tätig sei, wenn das selbständig betriebene Unternehmen nicht seine Lebensgrundlage bilde, wofür es entscheidend auf den tatsächlichen Ertrag der Tätigkeit ankomme. Die Klägerin habe sich von 1925 bis 1945 neben ihrem Tabakwarenkleinhandel beruflich betätigt. Dies würde sie kaum getan haben, wenn sie ihren Lebensunterhalt aus den Einnahmen jenes Kleinhandels hätte bestreiten können. Ihre derzeitigen Einkünfte brauchten nicht im einzelnen ermittelt zu werden. Auf Grund ihrer glaubwürdigen Darstellung stehe fest, daß ihr Nettoeinkommen seit langem nur sehr gering sei und nicht mehr die Existenzgrundlage erreiche. Dafür spreche auch, daß sie sich beim Arbeitsamt gemeldet habe. Der Betrieb des Tabakwarenhandels stehe daher der Annahme von Beschäftigungslosigkeit nicht entgegen. Da die Klägerin arbeitswillig und arbeitsfähig sei, seit länger als einem Jahr der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stehe, das 60. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit erfüllt habe, seien alle Voraussetzungen für die Gewährung des Altersruhegeldes nach § 25 Abs. 2 AVG erfüllt. - Das LSG ließ die Revision zu (Urteil vom 8. April 1960).
Die Beklagte legte Revision ein mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das sozialgerichtliche Urteil zurückzuweisen. Sie rügte die Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil das LSG zu Unrecht jegliche Ermittlungen über das Einkommen der Klägerin aus dem Tabakwarenhandel unterlassen habe, sowie die Verletzung des § 25 Abs. 2 AVG, weil das LSG den Begriff der Arbeitslosigkeit unrichtig ausgelegt habe.
Die Klägerin, die seit dem 1. Mai 1962 das Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 AVG bezieht, beantragte die Zurückweisung der Revision.
Die im Termin allein vertretene Beklagte beantragte eine Entscheidung nach Aktenlage (§ 126 SGG).
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
Die Klägerin erfüllt in ihrer Person nicht die Voraussetzungen der Arbeitslosigkeit im Sinne von § 25 Abs. 2 AVG. Von deren mindestens einjährigem ununterbrochenem Bestehen aber hängt nach dem Gesetz die Bewilligung und von ihrem Fortbestehen die Weiterzahlung des vorzeitigen Altersruhegeldes ab.
Die Annahme des LSG, der Begriff der Arbeitslosigkeit in § 25 Abs. 2 AVG sei ohne Rücksicht auf die Regelung des AVAVG allein aus den besonderen Zwecken und Bedürfnissen der gesetzlichen Rentenversicherung zu bestimmen und es genüge, daß der Rentenbewerber beschäftigungslos, arbeitsfähig und arbeitswillig sei, trifft nicht zu. Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich schon in mehreren Urteilen mit den Gedankengängen des LSG auseinandergesetzt; es ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß bei der Auslegung des Begriffs der Arbeitslosigkeit in § 25 Abs. 2 AVG (§ 1248 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) - mangels einer eigenen Begriffsbestimmung im Rentenversicherungsrecht - die einschlägigen Vorschriften des AVAVG heranzuziehen sind, soweit nicht Besonderheiten des Rechts der Rentenversicherung entgegenstehen. Dabei ist nicht von der Fassung des AVAVG zur Zeit des Inkrafttretens des § 25 Abs. 2 AVG, sondern von der zur Zeit des Versicherungsfalls jeweils geltenden Fassung des AVAVG auszugehen (BSG 14, 53; 15, 131; SozR § 1248 RVO Bl. Aa 12 Nr. 10 und 17 Nr. 15; ferner Urteil vom 29. Mai 1963 - 1 RA 82/60 -). An dieser Rechtsprechung hält der Senat nach nochmaliger Prüfung auch im vorliegenden Rechtsstreit fest. Da der Versicherungsfall bei der Klägerin frühestens im Juni 1959, d. h. mit dem Ende des einjährigen Zeitraums eingetreten ist, innerhalb dessen sie beim Arbeitsamt als Arbeitsuchende gemeldet war, sind der Beurteilung der Arbeitslosigkeit die Vorschriften des AVAVG in der zu dieser Zeit gültigen Fassung, hier also die §§ 75 und 76 AVAVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 1957 (BGBl I 231) zugrunde zu legen. Dies ist im vorliegenden Rechtsstreit nicht geschehen. Das von einem anderen Begriff der Arbeitslosigkeit ausgehende Urteil des LSG muß schon aus diesem Grunde aufgehoben werden. Es braucht nicht entschieden zu werden, ob die Aufhebung auch deshalb gerechtfertigt wäre, weil das LSG - wie die Beklagte meint - zu Unrecht Umstände, die nach seiner Rechtsauffassung für die Entscheidung von Bedeutung waren, nicht hinreichend geklärt, insbesondere keine weiteren Ermittlungen über die tatsächlichen Einnahmen der Klägerin aus dem Tabakwarenhandel angestellt hat, obwohl es auf deren Höhe von seinem Rechtsstandpunkt aus entscheidend angekommen wäre.
Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG); die Feststellungen des LSG reichen hierzu aus. Die Klägerin hat ihre letzte abhängige Beschäftigung als Buchhalterin Ende August 1945 aufgegeben und seither allein von den Einnahmen des Tabakwarenhandels gelebt. Es handelt sich dabei um eine selbständig betriebene Erwerbstätigkeit. Solange die Klägerin diese selbständige Tätigkeit ausgeübt hat und noch weiterhin ausübt, erfüllt sie schon nicht die Voraussetzungen in den §§ 75 Abs. 1 und 76 Abs. 1 AVAVG. Sie gehört als selbständige Gewerbetreibende nicht dem Personenkreis an, der berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegt, aber vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (§ 75 Abs. 1 AVAVG), und steht der Arbeitsvermittlung weder subjektiv noch objektiv zur Verfügung (§ 76 Abs. 1 AVAVG). Zu dem gleichen Ergebnis führt auch eine Betrachtung der Rechtslage aus § 75 Abs. 3 AVAVG. Danach gelten nicht als arbeitslos Selbständige ohne Rücksicht auf ihr Einkommen (Satz 1). Als Selbständiger im Sinne dieser Vorschrift ist anzusehen, wer für unbestimmte Dauer - nicht nur gelegentlich eine selbständige Tätigkeit berufsmäßig zu Erwerbszwecken ausübt (BSG 16, 56). Diese Voraussetzungen treffen für den Tabakwarenhandel zu, den die Klägerin schon seit vielen Jahren selbständig betreibt. Sie fällt auch nicht unter die Ausnahmevorschrift in § 75 Abs. 3 Satz 2 AVAVG; danach gilt als arbeitslos, wer schon vor dem Verlust der unselbständigen Beschäftigung nebenher selbständig war, wenn er nach dem Verlust der unselbständigen Beschäftigung aus seiner Tätigkeit in dem selbständigen Beruf kein über die Grenzen des § 66 Abs. 2 AVAVG hinausgehendes Einkommen erzielt, der Umfang seiner Tätigkeit 18 Stunden wöchentlich nicht überschreitet und nach den Gesamtumständen angenommen werden kann, daß er auch künftig berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig sein will. Diese Vorschrift gilt nur für Personen, die eine selbständige Tätigkeit nebenher ausüben und auch nach dem Verlust der abhängigen Beschäftigung die Absicht haben, hauptberuflich Arbeitnehmer zu bleiben. Bei ihnen soll sich an dem Charakter der nebenberuflichen Tätigkeit durch einen vorübergehenden Fortfall der abhängigen Beschäftigung nichts ändern. Anders bei der Klägerin, die nach der Arbeitsaufgabe im Jahre 1945 ihre bis dahin nebenberufliche Tätigkeit zum Hauptberuf erhoben und jahrelang ausschließlich von den Einnahmen ihrer selbständigen Tätigkeit gelebt hat. Sie hat seither keine abhängige Beschäftigung mehr aufgenommen und nach den Feststellungen des LSG den Tabakwarenhandel auch nicht aufgegeben. Deshalb kann nicht - wie das Gesetz verlangt - nach den Gesamtumständen angenommen werden, daß sie auch künftig berufsmäßig in der Hauptsache Arbeitnehmerin bleiben wolle. Hieran änderte, solange sie den Tabakwarenhandel weiterbetrieb, auch nichts ihre Meldung beim Arbeitsamt. Die Frage ihrer Arbeitslosigkeit ist vielmehr nach § 75 Abs. 3 Satz 1 AVAVG zu beurteilen. Bei der Anwendung dieser Vorschrift spielen aber Ertrag und Umfang der selbständigen Tätigkeit keine Rolle. Als Inhaberin des selbständig betriebenen Tabakwareneinzelhandels gilt die Klägerin vielmehr kraft der unwiderleglichen Rechtsvermutung des Gesetzes nicht als arbeitslos.
Da es hiernach an einer wesentlichen Voraussetzung für die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes an die Klägerin fehlt, muß ihre Berufung gegen das zutreffende Urteil des SG Schleswig als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen