Leitsatz (amtlich)
Eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung, die wegen der Zugehörigkeit zu einer berufsständischen Versicherungseinrichtung erteilt worden ist, braucht nicht schon dann widerrufen zu werden, wenn die ursprüngliche Pflichtmitgliedschaft in der Berufsgruppenversicherung - ohne sonstige Änderung im Versicherungsverhältnis - in eine freiwillige Mitgliedschaft umgewandelt wird (AVG § 7 Abs 2, AVG § 7 Abs 5).
Normenkette
AVG § 7 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, Abs. 5 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1230 Abs. 4 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. März 1962 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
In diesem Rechtsstreit war zu klären, ob die Beklagte eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der Angestelltenversicherung (AV) widerrufen kann, wenn die ursprüngliche Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung in eine freiwillige Mitgliedschaft umgewandelt wird (§ 7 Abs. 2 und 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -). Die Vorinstanzen hatten folgenden Sachverhalt zu beurteilen:
Der Kläger ist Arzt. Er war von Juli bis November 1957 in einem Krankenhaus in Bayern beschäftigt und Pflichtmitglied in der Bayerischen Ärzteversorgung. Auf seinen Antrag hin wurde er durch Bescheid der Beklagten vom 3. November 1957 von der Versicherungspflicht in der AV befreit (§ 7 Abs. 2 AVG). Im November 1957 trat er eine Stellung in einem Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen an. Seine Mitgliedschaft bei der Bayerischen Ärzteversorgung setzte er freiwillig fort (§§ 13 Abs. 1 Nr. 2, 15 Abs. 1 Nr. 4 der Satzung der Bayerischen Ärzteversorgung - Satzung -). Die freiwillige Fortsetzung der Mitgliedschaft hatte keine sonstigen Änderungen im Versicherungsverhältnis zur Folge. Wegen der Änderung des Charakters der Mitgliedschaft widerrief die Beklagte jedoch die Befreiung (§ 7 Abs. 5 AVG; Bescheid vom 13. Dezember 1957, Widerspruchsbescheid vom 15. März 1958).
Der Kläger hielt den Widerruf der Befreiung im Hinblick auf seine freiwillige Mitgliedschaft in der Bayerischen Ärzteversorgung für unzulässig und klagte. Das Sozialgericht und das Landessozialgericht (LSG) folgten seiner Rechtsansicht und hoben die Widerrufsbescheide der Beklagten auf (Urteil vom 21. April 1959 und 14. März 1962). Das LSG ließ die Revision zu.
Die Beklagte legte Revision ein und beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügte eine Verletzung der Vorschriften in § 7 Abs. 2 und 5 AVG.
Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten verzichteten auf eine mündliche Verhandlung.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Die Urteile der Vorinstanzen sind richtig. Es ist mit Recht entschieden worden, daß kein Widerrufsgrund vorliegt.
Ein Versicherter kann von der Versicherungspflicht in der AV befreit werden, wenn er auf Grund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung seiner Berufsgruppe ist. Die Beklagte kann die Befreiung widerrufen, wenn ihre Voraussetzungen weggefallen sind (§ 7 Abs. 2 und 5 AVG). Diese Vorschriften zwingen - entgegen der Meinung der Beklagten - nicht dazu, die Befreiung von der Versicherungspflicht in der AV schon dann zu widerrufen, wenn die Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung in eine freiwillige Mitgliedschaft umgewandelt wird. Es kann schon fraglich sein, ob § 7 Abs. 2 AVG erfordert, daß die Pflichtmitgliedschaft in der Berufsgruppenversicherung noch zur Zeit der Befreiung von der Versicherungspflicht in der AV besteht. Eine Mitgliedschaft kann auch dann noch auf Grund einer Verpflichtung beruhen, wenn die Verpflichtung zwar weggefallen ist, die freiwillige Fortsetzung der Mitgliedschaft aber voraussetzt, daß vorher eine Pflichtmitgliedschaft bestanden hat. So ist es in den Fällen der vorliegenden Art; die freiwillige Mitgliedschaft wird nur gestattet, wenn zuvor eine Mitgliedschaft kraft gesetzlicher Verpflichtung vorgelegen hat (§§ 13 Abs. 1 Nr. 2, 15 Abs. 1 Nr. 4 der Satzung). Kann also möglicherweise schon nicht verlangt werden, daß die Pflicht zur Mitgliedschaft bis zur Erteilung des Befreiungsbescheids fortdauert, dann kann die Beendigung der Versicherungspflicht nach der Befreiung nicht Wegfallgrund für die Befreiung sein.
Selbst wenn man aber annimmt, daß zur Zeit der Befreiung die Pflichtmitgliedschaft noch bestehen muß, so verlangt - bei Berücksichtigung des Sinns und Zwecks dieser Vorschriften sowie einer Abwägung der Interessen sowohl der Versicherten als auch des Versicherungsträgers - der Wechsel von der Pflicht- zur freiwilligen Mitgliedschaft doch nicht notwendigerweise den Widerruf der Befreiung durch die Beklagte. Der Senat gibt damit gegenüber den Erwägungen der Beklagten, die sich eng an die Wortfassung der gesetzlichen Vorschriften anlehnen, einer sinngemäßen Auslegung den Vorzug, wie es auch die Vorinstanzen für richtig gehalten haben.
Wie der Senat schon anläßlich einer früheren Entscheidung zu § 7 Abs. 2 AVG ausgeführt hat (BSG 18, 154, 157), besteht ein allgemeines Interesse daran, den Angehörigen von Berufsgruppen, die in der Regel nicht von Angestellten, sondern von Selbständigen (z. B. Ärzten, Rechtsanwälten, Architekten) gebildet werden, eine Befreiungsmöglichkeit von der Versicherungspflicht in der AV zu geben, wenn sie vorübergehend - meist am Anfang ihrer Laufbahn - unselbständig arbeiten. Dieses Interesse hat in § 7 Abs. 2 AVG seinen Ausdruck gefunden. Die Vorschrift ist auf Berufstätige ausgerichtet, die eine angestelltenversicherungspflichtige Beschäftigung meist nur kurze Zeit ausüben, sei es, weil sie schon bald die Versicherungspflichtgrenze überschreiten oder eine selbständige Tätigkeit aufnehmen oder Beamte werden. Die Befreiungsmöglichkeit stellt eine Vergünstigung für diese Personen dar und gibt ihnen ein Wahlrecht, das sie je nach ihren beruflichen Absichten ausüben können, berücksichtigt aber auch die Belange der gesetzlichen Rentenversicherung. Dieser Versicherungszweig, insbesondere seine Finanzierung, ist so geplant, daß ihm die Versicherten möglichst während ihres ganzen Arbeitslebens angehören sollen und die Lasten tragen helfen. Die Rentenversicherung verlangt Versicherungsverhältnisse, die auf Dauer angelegt sind. Scheiden die Angehörigen einer abgrenzbaren Personengruppe regelmäßig nach nur wenigen Jahren versicherungspflichtiger Beschäftigung aus der Rentenversicherung aus, so ist es sowohl für den einzelnen Beschäftigten als auch für die Versichertengemeinschaft sinnvoll, daß eine Freistellung von der Versicherungspflicht in der AV von Anfang an möglich ist und möglich bleibt. Eine solche Regelung verhindert den unfruchtbaren Wechsel zwischen der AV und den - gesetzlich vorgesehenen - Sonderversicherungen und vermeidet eine - vielleicht mehrmalige - grundlegende Umgestaltung des Versicherungsverhältnisses; sie fördert die notwendige Kontinuität in der Versicherung. Dem würde es zuwiderlaufen, wenn der Widerruf der Befreiung allein deswegen ausgesprochen werden müßte, weil sich das Verhältnis des Angestellten zu seiner Berufsgruppenversicherung lediglich in der äußeren Form gewandelt hat, inhaltlich aber unverändert geblieben ist.
Die Aufrechterhaltung bereits bestehender Mitgliedschaften in den Berufsgruppenversicherungen sollte auch nicht erschwert werden. Das geschieht aber beim Widerruf von ursprünglich gewährten Befreiungen von der Versicherungspflicht in der AV. Die Beitragslast des Einzelnen würde sich vergrößern. Ein von der Versicherungspflicht in der AV befreites Mitglied der Bayerischen Ärzteversorgung muß - wie in der AV - 14 % des Entgelts als Beitrag entrichten (§ 17 Abs. 2 b der Satzung); nach tarifvertraglichen Regelungen tragen hiervon regelmäßig die Arbeitgeber die Hälfte (vgl. "Der angestellte Arzt" 1963 S. 160). Wird die Befreiung widerrufen, so verringert sich zwar die Beitragshöhe gegenüber der Versorgungsanstalt (§ 17 Abs. 2 b der Satzung), aber die Arbeitgeber haben Beitragsanteile nur noch zur Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zu entrichten. Es würde daher sicherlich in zahlreichen Fällen die Versicherung in der Berufsgruppenversicherung nicht fortgesetzt werden. Die Versicherung in der AV bietet aber in den ersten Jahren, nämlich bis zur Erfüllung der Wartezeit, einen nur unvollkommenen Ersatz für die - aufgegebene - Mitgliedschaft in der Sonderversicherung. Tritt in dieser Zeit ein Versicherungsfall ein, so stehen dem Versicherten keine Ansprüche zu; in der AV fehlt es, wenn keine Wartezeitfiktion eingreift (§ 29 AVG), an der erforderlichen Erfüllung der Wartezeit und in der Berufsgruppenversicherung an der Mitgliedschaft. Es ist auch nicht zu verkennen, daß die Angehörigen solcher Berufsgruppen in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt sind, die Voraussetzungen für die Weiterversicherung in der AV (§ 10 Abs. 1 AVG) nicht zu erreichen, während die Fortsetzung der Mitgliedschaft in der berufsständischen Versorgungseinrichtung ohne weiteres möglich bleibt.
Das von den Vorinstanzen gewonnene Ergebnis ist auch deswegen sinnvoll, weil die von einer berufsständischen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung erfaßten, von der Versicherungspflicht in der AV Befreiten, die in ein anderes Bundesland verziehen, künftig mit großer Wahrscheinlichkeit wieder einer Pflichtversicherung ihrer Berufsgruppe eingegliedert werden; denn es besteht die Tendenz, bundeseinheitlich oder in allen Bundesländern für Selbständige Einrichtungen zu schaffen, die die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 AVG erfüllen. Schon heute wohnen 3/4 aller Ärzte in Gebieten, für die besondere Versorgungseinrichtungen bestehen (BMA "Soziale Sicherung" 1960 S. 63; 1962 S. 68). Die Befreiungen von der Versicherungspflicht in der AV, die jetzt widerrufen werden, müßten gegebenenfalls - vielleicht schon bald - erneut erteilt werden.
Die Beklagte weist zwar darauf hin, daß Freistellungen von der Versicherungspflicht nur vertretbar seien, solange ein anderweitiger "unabdingbarer" Anspruch auf Versorgung bestehe. Durch den Wegfall der Pflicht zur Mitgliedschaft in der Sonderversicherung wird aber die Qualität der anderweitigen Sicherung nicht entscheidend beeinträchtigt. Sowohl an der Rechtsnatur der Ansprüche als auch an deren Höhe wird im vorliegenden Fall nichts dadurch geändert, daß die Pflichtmitgliedschaft in eine freiwillige umgewandelt wird. Wohl steht es nunmehr in der Freiheit des Versicherten, die Mitgliedschaft zu beenden oder durch Beitragsschulden eine Kündigung des Versicherungsverhältnisses durch die Anstalt zu veranlassen (§ 15 Abs. 1 Nr. 6 der Satzung). Eine Prüfung, ob die freiwillige Mitgliedschaft bei der Berufsgruppenversicherung fortbesteht, ist jedoch im Rahmen der üblichen Kontrollen durch die Beklagte oder die Einzugsstellen möglich und vertretbar. Durch sie können Mißbräuche verhindert werden.
Auch wenn aus § 7 Abs. 6 AVG - wie die Beklagte meint - zu schließen wäre, daß nur die nach § 7 Abs. 1 AVG, nicht aber die nach Abs. 2 Befreiten auf die Befreiung verzichten können, so zwingt dies doch nicht zu der Folgerung, daß die nach Abs. 2 Befreiten weder durch eine freiwillige Fortsetzung der Mitgliedschaft in der Berufsgruppenversicherung die Fortdauer der Versicherungsfreiheit in der AV bewirken noch durch eine Beendigung dieser Mitgliedschaft die Voraussetzungen zum Widerruf der Befreiung schaffen dürften. Gerade die unter § 7 Abs. 2 AVG fallenden Personen sind in höherem Maße darauf angewiesen, ihre Versorgung nach den Umständen ihrer beruflichen Pläne und ihrer beruflichen Entwicklung einzurichten als die unter Abs. 1 fallenden Gruppen. Diese sind schon Versorgungsempfänger und haben dadurch eine Sicherung, die jenen fehlt.
Der Zusammenhang der Vorschriften über Versicherungspflicht, Befreiung davon und Weiterversicherung spricht nicht dafür, daß der Versicherungsträger berufen und befugt sei, den unter Abs. 2 fallenden Personen die Verantwortung für ihre Wahl abzunehmen und die Fortsetzung der einmal gewählten Form der Versorgung durch einen Widerruf der Befreiung von der Versicherungspflicht in der AV zu verhindern.
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen (§§ 170 Abs. 1, 193 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen