Leitsatz (amtlich)
1. Zur Auslegung des Begriffs "einzubehalten" in RVO § 1291 Abs 2 S 2.
2. Wird die 2. Ehe vor Ablauf von 5 Jahren nach der Wiederheirat der Witwe (Witwers) aufgelöst oder für nichtig erklärt, so ist bei der Gewährung der wiederaufgelebten Witwen- (Witwer-)Rente aus der Versicherung des 1. Ehemannes (Ehefrau) derjenige Teil der bei der Wiederheirat gezahlten Witwen- (Witwer-) Rentenabfindung einzubehalten, der rechnerisch auf die Zeit von der Auflösung (Nichtigkeitserklärung) der 2. Ehe bis zum Ablauf der 5 Jahre entfällt, und zwar unabhängig davon, wann die wiederauflebende Rente beantragt wird.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1302 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. März 1972 und des Sozialgerichts Hannover vom 12. Oktober 1971 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. Oktober 1970 wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten der drei Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Anrechnung einer von der Beklagten der Klägerin gewährten Witwenrentenabfindung auf die nach Auflösung der zweiten Ehe wiederaufgelebte Witwenrente aus der ersten Ehe.
Die Beklagte gewährte der Klägerin ab 1. Juni 1965 die Witwenrente aus der Rentenversicherung des verstorbenen ersten Ehemannes Arnold B. Nachdem die Klägerin im Oktober 1965 die (zweite) Ehe mit dem Arbeiter Hans H geschlossen hatte, stellte die Beklagte mit Ablauf des Eheschließungsmonats die Witwenrente ein und gewährte der Klägerin eine Abfindung von 10.631,80 DM.
Die zweite Ehe der Klägerin wurde rechtskräftig im Oktober 1967 durch Urteil des Landgerichts Hannover aus beiderseitigem Verschulden der Eheleute H geschieden. Im April 1969 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, ihr die Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes B wiederzugewähren. Die Beklagte gewährte der Klägerin ab 1. April 1969 die Witwenrente wieder, behielt jedoch den auf die Zeit vom 1. November 1967 bis 31. Oktober 1970 rechnerisch entfallenden Anteil der Witwenrentenabfindung mit 6.487,20 DM ein, und zwar von der Rentennachzahlung in Höhe von 2.400,- DM und von der laufenden Rente ab 1. Dezember 1970 in Höhe von 30,- DM monatlich (Bescheid vom 7. Oktober 1970).
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) den Bescheid geändert und die Beklagte verurteilt, bei der Berechnung der wiedergewährten Witwenrente einen den Betrag von 3.423,80 DM überschießenden Betrag aus der der Klägerin gewährten Witwenrentenabfindung (= der auf die Zeit vom 1. November 1967 bis 31. März 1969 entfallende Betrag) nicht einzubehalten (Urteil vom 12. Oktober 1971).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 15. März 1972).
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1291 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 15. März 1972 und das Urteil des SG Hannover vom 12. Oktober 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Urteile des LSG und des SG sind aufzuheben; die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. Oktober 1970 ist abzuweisen.
Auszugehen ist davon, daß bei der Klägerin, deren zweite Ehe im Oktober 1967 ohne ihr alleiniges oder überwiegendes Verschulden geschieden worden ist, die Voraussetzungen für das Wiederaufleben der Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes erfüllt sind und daß sie im April 1969 beantragt hat, ihr diese Rente zu gewähren. Danach hat aber die Beklagte mit Recht den rechnerisch auf die Zeit vom 1. November 1967 bis 31. Oktober 1970 entfallenden Anteil der der Klägerin anläßlich ihrer Wiederverheiratung gewährten Witwenrentenabfindung (§ 1302 Abs. 1 RVO) mit der Rentennachzahlung sowie den laufenden Rentenzahlungen verrechnet (§ 1291 Abs. 2 RVO i. d. F. vor dem Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes - RRG -).
Dieses Ergebnis ist freilich aus dem Wortlaut des § 1291 Abs. 2 RVO, auf den auch das LSG seine gegenteilige Entscheidung glaubte nicht stützen zu können, nicht zu finden. Der Wortlaut dieser Vorschrift ist an mehreren Stellen nicht genügend klar. Aus ihm läßt sich insbesondere nicht eindeutig der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Anspruch auf die wiederauflebende Witwenrente dem Grunde nach (Stammrecht) und dem darauf beruhenden einzelnen Leistungsanspruch erkennen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits früher darauf hingewiesen, daß hier zwei unterschiedliche Dinge miteinander vermengt werden, nämlich der Teil des Rechtssatzes, der die Anspruchsberechtigung als solche enthält, und derjenige Teil, der sich mit einer Frage des Leistungsanfangs befaßt (BSG 18, 62, 64 = SozR Nr. 4 zu § 1291 RVO). Darüber hinaus ist auch § 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO mißverständlich gefaßt: Eine bei der Wiederverheiratung gezahlte Abfindung ist in angemessenen monatlichen Teilbeträgen "einzubehalten", soweit sie für die Zeit nach Wiederaufleben des Anspruchs auf Rente gewährt ist. Während sonst der Begriff "einbehalten" gebraucht wird, wenn eine Rente "angehalten", "festgehalten", "noch nicht gezahlt" werden soll, wie dies z. B. in § 1281 Satz 1, 2. Halbsatz RVO bestimmt wird ("solange er die Frage nach solchen Bezügen nicht beantwortet, kann die Rente einbehalten werden"), ist diese Wirkung in § 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO offensichtlich nicht gemeint. Es geht hier nicht darum, den auf die Zeit nach dem Wiederaufleben des Anspruchs auf Rente gewährten Abfindungsanteil noch nicht zu zahlen, sondern ihn von dem Abfindungsempfänger zurückzuerhalten. Der zahlungstechnische Weg dazu ist die Verrechnung des errechneten Abfindungsanteils mit den wiederaufgelebten Rentenleistungen "in angemessenen monatlichen Teilbeträgen" (BSG 30, 110, 113; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, Seite 722; Verbandskommentar, § 1291 Anm. 14).
Da der Wortlaut des wenig glücklich gefaßten § 1291 Abs. 2 RVO keinen sicheren Hinweis dafür bietet, wie der Streit, welcher Anteil des Abfindungsbetrages (§ 1302 Abs. 1 RVO) "einzubehalten" ist und ob insbesondere als Berechnungsbeginn für diesen Abfindungsanteil der Zeitpunkt der rechtskräftigen Scheidung maßgebend ist, zu entscheiden ist, sind als Entscheidungshilfe Sinn und Zweck der auszulegenden Vorschrift des § 1291 Abs. 2 RVO heranzuziehen. § 1291 Abs. 2 RVO kann allerdings nicht für sich betrachtet werden. Es sind darüber hinaus auch noch die Regelungen der §§ 1291 Abs. 1 und 1302 Abs. 1 RVO mit zu berücksichtigen. Die Gesamtregelung verfolgt einen doppelten Zweck. Zum einen soll eine neue Eheschließung durch die Erhöhung der Abfindung von dem Dreifachen auf das Fünffache des Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente (§ 1302 Abs. 1 RVO) gefördert, der neuen Ehe durch den beträchtlichen Abfindungsbetrag eine sichere Grundlage und Starthilfe gegeben und damit zugleich den unerwünschten Rentenkonkubinaten, den sog. "Onkelehen", entgegengewirkt werden (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf BT-Drucks. 2437 (1953), S. 79; Großer Senat BSG 14, 238, 240 = SozR Nr. 2 zu § 1291 RVO; BSG 18, 62, 63 = SozR Nr. 4 aaO; BSG 30, 110, 111 = SozR Nr. 28 aaO). Zum anderen soll der bisherige Rentenempfänger (Witwe, Witwer) im Falle einer Auflösung der neuen Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe oder des Witwers oder Nichtigkeitserklärung der neuen Ehe eine hinreichende wirtschaftliche Sicherung durch das Wiederaufleben der Witwen- oder Witwerrente in bestimmten Grenzen erhalten. Die Versorgung aus der zweiten Ehe soll nicht geringer werden als die aus der ersten Ehe (vgl. Großer Senat aaO; BSG 19, 153, 155 = SozR Nr. 7 aaO; BSG 21, 279, 280 f. = SozR Nr. 9 aaO; BSG 22, 78, 80 = SozR Nr. 10 aaO). Der Abfindungsempfänger erhält so eine Mindestversorgungsgarantie. Bei unzureichenden Versorgungsleistungen aus der zweiten Ehe wird die dann eintretende Versorgungslücke bis zur Höhe der Witwen- oder Witwerrente aus der ersten Ehe stets durch die wiederaufgelebte Rente als subsidiäre Leistung geschlossen (vgl. auch BSG 30, 220, 222 = SozR Nr. 29 aaO; Nr. 31 aaO).
Bei dieser Regelung ist, wenngleich dies dem Wortlaut des § 1291 Abs. 2 RVO nicht hinreichend deutlich entnommen werden kann, zwischen dem Anspruch auf die wiederauflebende Rente dem Grunde nach (Stammrecht) und dem sich erst daraus ergebenden einzelnen Leistungsanspruch zu unterscheiden (BSG 18, 62, 64 = SozR Nr. 4; SozR Nr. 16). Der Anspruch auf die wiederauflebende Rente entsteht im Falle der Scheidung der zweiten Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe oder des Witwers mit Rechtskraft des Scheidungsurteils. Die wiederauflebende Rente wird nicht von Amts wegen erbracht. Sie muß vielmehr vom Berechtigten beantragt werden. Das Gesetz bringt insoweit dem Berechtigten eine Rechtswohltat, als ein Antrag, der "spätestens zwölf Monate nach der Auflösung oder der Nichtigkeitserklärung der Ehe gestellt ist", auf den "Ablauf des Monats, in dem die Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt ist", zurückwirkt (§ 1291 Abs. 2 Satz 1, 1. Halbsatz RVO). Nur derjenige, der nach Ablauf von zwölf Monaten nach der Auflösung der Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe oder des Witwers oder der Nichtigkeitserklärung der Ehe die wiederauflebende Rente beantragt, muß hinnehmen, daß die Rente gemäß § 1290 Abs. 3 Satz 1 RVO erst mit dem Anfang des Antragsmonats beginnt. Dieser spätere Rentenbeginn greift deshalb Platz, weil die Bestimmung des § 1291 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz RVO gegenüber der allgemeinen Regelung über den Beginn von wiedergewährten Renten zum Beginn des Antragsmonats (§ 1290 Abs. 3 Satz 1 RVO) eine Ausnahme darstellt. Sobald die Voraussetzungen dieser Ausnahmeregelung fehlen, muß auf die allgemeine Regelung zurückgegriffen werden (BSG 18, 62, 64 f. = SozR Nr. 4 aaO).
Der so vom Gesetz je nach dem Zeitpunkt der Antragstellung unterschiedlich verfügte Leistungsbeginn beeinflußt indes nicht den Umfang der "einzubehaltenden" Abfindung, wenn die zweite Ehe vor Ablauf von fünf Jahren, gerechnet vom Zeitpunkt dieser Eheschließung an, aufgelöst oder für nichtig erklärt wird (§ 1291 Abs. 2 Satz 2 RVO).
§ 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO enthält lediglich Berechnungsanweisungen für die Gewährung der wiederauflebenden Rente, und zwar im 1. Halbsatz eine zeitliche, im 2. Halbsatz eine allein die Rentenhöhe betreffende. Satz 2 des § 1291 Abs. 2 RVO knüpft nicht an diese Berechnungsvorschriften an, sondern an die nach § 1302 RVO berechnete und der Witwe oder dem Witwer gewährte Abfindung an. Satz 2 hat also einen anderen Regelungsgegenstand als Satz 1 des § 1291 Abs. 2 RVO. Die Abfindung mit dem Fünffachen des Jahresbetrages der bisher bezogenen Rente (§ 1302 Abs. 1 RVO), die in Wahrheit keine echte Abfindung darstellt (vgl. BSG 30, 110, 120 = SozR Nr. 29 aaO), vielmehr als einmalige Leistung den Anreiz zu einer Wiederheirat geben soll (vgl. Großer Senat BSG 14, 238, 240 = SozR Nr. 2 aaO), kann als besondere Leistung von der Rentenversicherung unter der Voraussetzung voll übernommen werden, daß die zweite Ehe fortbesteht. Besteht die zweite Ehe aber weniger als fünf Jahre, wird also der mit dieser Norm verbundene Zweck des Fortbestandes der Zweitehe nicht erreicht, muß der Rentenberechtigte den Teil der Sonderleistung, der auf die Zeit nach dem Wiederaufleben des Anspruchs entfällt, als Ausgleich für die verfehlte Zweckerreichung wieder herausgeben. Der Zweck der Abfindung wird in dem Augenblick nicht erreicht, in dem die zweite Ehe infolge des alleinigen oder überwiegenden Verschuldens der Witwe oder des Witwers aufgelöst oder diese Ehe für nichtig erklärt wird. Dies ist zugleich der Augenblick, in dem der Witwe oder dem Witwer der Anspruch auf die wiederauflebende Rente dem Grunde nach zuwächst. Die Rückzahlungsverpflichtung trifft jeden Rentenberechtigten unabhängig davon, wann er den Leistungsantrag stellt.
Würde man dem LSG folgen wollen, das das "Einbehalten" vom Zeitpunkt der Antragstellung abhängig gemacht hat, würde nicht nur der - oben behandelte - Unterschied zwischen dem Anspruch dem Grunde nach (Stammrecht) und den Einzelleistungen verwischt werden, sondern auch der Willkür und der ungerechtfertigten Bereicherung der Rentenberechtigten der Weg bereitet werden. Wenn man den Zeitpunkt der Antragstellung als maßgeblich ansehen wollte, könnte der Rentenberechtigte die Abfindung dann voll und ganz behalten, wenn er erst nach Ablauf von fünf Jahren nach der zweiten Eheschließung den Antrag auf Gewährung der wiederauflebenden Rente stellen würde, obschon der Abfindungszweck des Fortbestandes der Zweitehe wegen deren vorzeitiger Auflösung nicht erreicht wäre. Den zurückzugewährenden Anteil der Abfindung könnte der Rentenberechtigte von diesem Rechtsstandpunkt aus um so niedriger halten, je näher er den Zeitpunkt der Antragstellung an die Fünfjahresgrenze heranschieben würde. Derartige Ergebnisse können aber nicht vom Gesetz gewollt sein.
Überträgt man das hier Gesagte auf den zu entscheidenden Fall, so ist festzustellen:
Der Anspruch auf die wiederauflebende Witwenrente bestand seit der Rechtskraft der Scheidung der zweiten Ehe (26. Oktober 1967); diese Ehe ist nicht aus Alleinschuld oder überwiegendem Verschulden der Klägerin geschieden worden. Die Beklagte hat den "einzubehaltenden" Teil der Abfindung nach den das BSG bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) mit 6.487,20 DM berechnet. Das ist ebensowenig zu beanstanden wie die von der Beklagten ohne erkennbaren Ermessensfehler vorgenommene Aufteilung des "einzubehaltenden" Gesamtbetrages auf die der Beklagten obliegenden Rentenzahlungen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen