Orientierungssatz
Dadurch, daß die Landwirte, bei denen ein Versicherter während des 2. Weltkrieges in einem zivilrechtlichen Beschäftigungsverhältnis stand, den nach den dafür geltenden Tarifordnungen für polnische landwirtschaftliche Arbeitskräfte geschuldeten Barlohn nicht gezahlt haben, ist das Beschäftigungsverhältnis nicht zu einem solchen geworden, bei dem als Entgelt - nach freier Vereinbarung oder Tarifordnung - nur freier Unterhalt zu gewähren gewesen wäre (RVO § 1227 aF). Der Versicherte war deshalb nicht rentenversicherungsfrei beschäftigt. Die Voraussetzungen des FANG Art 6 § 23 Abs 1 sind erfüllt.
Normenkette
FANG Art. 6 § 23 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1227 Fassung: 1945-03-17
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. Juli 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Es ist umstritten, ob der Kläger zu Recht eine höhere Rente durch Anrechnung von Zeiten verlangt, in denen er während des zweiten Weltkrieges in Deutschland in der Landwirtschaft gearbeitet hat (Art 6 § 23 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-*-Neuregelungsgesetzes - FANG -).
Der 1914 geborene Kläger stammt aus Polen. Er geriet 1939 als polnischer Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft. Von Juni 1940 bis September 1943 und von März 1944 bis April 1945 arbeitete er in der Landwirtschaft im Gebiet des jetzigen Landes Nordrhein-Westfalen. Er erhielt freie Kost und Wohnung, aber kein Barentgelt. Er besitzt eine 1944 vom Landesarbeitsamt Rheinland ausgestellte "Arbeitskarte". Er war heimatloser Ausländer; inzwischen hat er die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Seit 1948 hat er Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 19. Januar 1972 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus den seit 1948 zurückgelegten Versicherungszeiten.
Der Kläger meint, die Zeiten, in denen er während des zweiten Weltkriegs als Arbeiter in der Landwirtschaft verpflichtet gewesen sei, seien bei der Rentenversicherung zu berücksichtigen; er gelte für diese Zeiten als nachversichert (Art 6 § 23 Abs 1 Satz 1 FANG).
Die Beklagte ist der Auffassung, der Kläger sei versicherungsfrei gewesen, weil er nur freie Kost und Wohnung, aber keinen Barlohn erhalten habe (§ 1227 RVO aF). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. August 1973). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verpflichtet, die Rente unter Anrechnung einer Nachversicherungszeit gemäß Art 6 § 23 FANG vom 1. Juni 1940 bis 31. August 1943 und vom 1. März 1944 bis 30. April 1945 zu gewähren; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 5. Juli 1974).
Das LSG hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, der Kläger sei 1940 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Er habe dann als zivile polnische Arbeitskraft in der deutschen Landwirtschaft gearbeitet. Aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses habe er der Versicherungspflicht unterlegen oder hätte ihr unterlegen, wenn er nicht als Ausländer von ihr ausgenommen gewesen wäre. Er gelte für die umstrittenen Zeiten als nachversichert. Da er für seine Tätigkeit in der Landwirtschaft neben Kost und Wohnung kein Barentgelt erhalten habe, sei er seinerzeit zwar versicherungsfrei nach § 1227 Reichsversicherungsordnung (RVO) aF gewesen. Es sei aber nicht gerechtfertigt, das Bestehen einer Versicherungspflicht bei Art 6 § 23 Abs 1 Satz 1 FANG nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse zu betrachten. Bei dieser Vorschrift handele es sich um eine Art Wiedergutmachung von Nachteilen, die der in dieser Vorschrift erfaßte Personenkreis in der gesetzlichen Rentenversicherung erlitten habe. Ob der Kläger im Sinne dieser Vorschrift der Versicherungspflicht unterlegen habe oder hätte, richte sich daher danach, ob auch Deutsche bei einer nach Art und Dauer vergleichbaren Beschäftigung der Versicherungspflicht unterlegen hätten. Eine andere Auslegung würde zu dem nicht zu rechtfertigenden Ergebnis führen, daß die ausländischen Arbeiter, denen als ehemalige Kriegsgefangene das ihnen zustehende Entgelt zu einem wesentlichen Teil vorenthalten worden sei, durch Art 6 § 23 Abs 1 Satz 1 FANG schlechtergestellt würden, als diejenigen, für die lediglich keine Sozialversicherungsbeiträge entrichtet worden seien.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 27. August 1973 zurückzuweisen.
Sie rügt eine unrichtige Anwendung des Art 6 § 23 FANG. Der Kläger sei bei dem Tatbestand, daß er während der umstrittenen Tätigkeit neben freier Kost und Unterkunft keine Barbezüge als Entgelt erhalten habe, nach § 1227 RVO aF rentenversicherungsfrei gewesen. Für die Anwendung des Art 6 § 23 FANG sei erforderlich, daß es sich um eine der Art nach versicherungspflichtige Beschäftigung gehandelt habe. Diese Voraussetzung sei hier nicht erfüllt.
Der Kläger hat beantragt, die Revision zurückzuweisen. Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Der Auffassung des LSG, Art 6 § 23 FANG sei hier anzuwenden, ist unter Berücksichtigung der während des zweiten Weltkrieges für polnische landwirtschaftliche Arbeiter geltenden Rechtsvorschriften im Ergebnis zuzustimmen.
Der Kläger stand in den angeführten Zeiträumen der Jahre 1940 bis 1945 als polnischer Landarbeiter in einem zivilrechtlichen Beschäftigungsverhältnis bei den jeweiligen Landwirten; denn er hatte eine "Arbeitskarte" des Landesarbeitsamtes, die während des zweiten Weltkrieges im Verfahren beim Einsatz ausländischer Arbeitskräfte erteilt wurden, sowie eine "Ersatzkarte" (EK), die ausländischen Arbeitskräften zum Teil anstelle des vorgeschriebenen Arbeitsbuches ausgestellt wurden; Kriegsgefangene hingegen waren nicht arbeitsbuchpflichtig, weil sie nicht in einem privat-rechtlichen Arbeitsverhältnis standen (vgl Erlaß des Reichsarbeitsministers - RAM - vom 13. Juni 1941 in RABl Teil I 394; Erlaß des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz vom 4. Mai 1943 in Runderlasse ARG 537/43).
Zur arbeitsrechtlichen Behandlung der polnischen Beschäftigten verwies die Anordnung vom 5. Oktober 1941 (RABl Teil I 448) hinsichtlich des Arbeitsentgelts auf die allgemeinen Bestimmungen und auf die Tarifordnungen (§ 9 aaO). Sowohl in der Reichstarifordnung für polnische landwirtschaftliche Arbeitskräfte vom 8. Januar 1940 (RABl Teil IV 38, 727) als auch in der sie ersetzenden Reichstarifordnung vom 29. Juni 1944 (RABl Teil IV 158) waren als Entgelt freie Unterkunft und Verpflegung sowie Barentgelt, abgestuft nach Alter und Lohngebieten, festgelegt. Die Tarifordnungen waren nach § 32 Abs 2 Satz 2 des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 (mit späteren Änderungen) für die von ihnen erfaßten Arbeitsverhältnisse als Mindestbedingungen rechtsverbindlich. Nach § 1 der Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Lohngestaltung vom 23. April 1941 (RGBl I 222) waren die Treuhänder der Arbeit ermächtigt, Löhne mit bindender Wirkung nach oben und unten festzusetzen. Auf diese Vorschrift ist die Tarifordnung vom 29. Juni 1944 gestützt. In beiden Tarifordnungen (jeweils in §§ 4 und 5) war neben freier Kost und freier Unterkunft ein Barlohn festgesetzt.
In der gesetzlichen Rentenversicherung waren die polnischen landwirtschaftlichen Wanderarbeiter aus dem Generalgouvernement, die dem Rückkehrzwang unterlagen, zunächst nach dem Erlaß des RAM vom 13. April 1940 (AN 1940, 131) invalidenversicherungsfrei. Dieser Erlaß wurde zum 1. Januar 1943 aufgehoben. Nunmehr waren für alle im Deutschen Reich beschäftigten polnischen Arbeitskräfte einschließlich der polnischen landwirtschaftlichen Arbeiter aus dem Generalgouvernement Beiträge zur Invalidenversicherung nach den allgemeinen Vorschriften zu entrichten (Erlaß des RAM vom 19. Dezember 1942, AN 1943, 27).
Bei den durch Art 6 § 23 FANG begünstigten heimatlosen Ausländern handelt es sich um einen Personenkreis, der eine versicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland ausübte, für den aber entweder aufgrund gesetzlicher Vorschriften keine Beiträge entrichtet werden durften oder für den entgegen den gesetzlichen Bestimmungen die Beiträge nicht entrichtet worden sind. (Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslands*-rentenrecht, 2. Aufl, Anm 1 zu Art 6 § 23 FANG). Art 6 § 23 Abs 1 Satz 1 Buchst a FANG betrifft Zeiten in denen der heimatlose Ausländer der Versicherungspflicht unterlegen hat, ohne daß für ihn Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden sind. Hierunter fällt die Zeit vom 1. Januar 1943 an (AN 1943, 27). Abs 1 Satz 1 Buchst b aaO erfaßt die Zeiten, in denen der Beschäftigte der Versicherungspflicht unterlegen hätte, wenn er nicht als Ausländer von der Versicherungspflicht ausgenommen gewesen wäre. Dies ist die Zeit bis Ende 1942 (AN 1940, 131). Art 6 § 23 FANG geht von dem Regelfall aus, daß das Beschäftigungsverhältnis der polnischen landwirtschaftlichen Arbeiter entsprechend den damaligen zwingenden Verordnungen, Erlassen und Tarifordnungen gestaltet war. Demgegenüber brauchte der Gesetzgeber nicht eigens den Fall zu regeln, daß ein Arbeitgeber bei einem Beschäftigungsverhältnis, das nach seinen Merkmalen den Tarifordnungen für polnische landwirtschaftliche Arbeitskräfte unterlag, entgegen deren zwingenden Vorschriften die Entlohnung nicht gemäß den Tarifordnungen vorgenommen hat. Wenn dem Versicherten der ihm tariflich zustehende Barlohn rechtswidrig - entgegen den unabdingbaren Vorschriften der Tarifordnung - vorenthalten worden ist, so ändert dies nichts daran, daß seine Tätigkeit als entgeltliches Beschäftigungsverhältnis im Sinne von § 1226 RVO aF rechtlich zu qualifizieren ist.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, diese Betrachtungsweise richte sich nicht nach den tatsächlichen Verhältnissen, wie dies bei der Beurteilung der Versicherungspflicht von Beschäftigten geboten ist. Art 6 § 23 Abs 1 Satz 1 Buchst a FANG geht gerade von Beschäftigungen aus, bei denen die tatsächlichen Verhältnisse nicht den rechtlichen Vorschriften entsprochen haben, und will die daraus entstandene Benachteiligung ausgleichen.
Rechtsvorschriften über die Behandlung der "Ostarbeiter" greifen hier nicht ein, weil der Kläger kein Ostarbeiter im Sinne des § 1 der Verordnung über die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter vom 30. Juni 1942 idF der Verordnung vom 25. März 1944 (RGBl I 1942, 419 und 1944, 69) gewesen ist.
Die Revision der Beklagten war somit zurückzuweisen.
Fundstellen