Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 10.09.1990) |
SG Duisburg (Urteil vom 05.12.1988) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. September 1990 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 5. Dezember 1988 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten für das Berufungs- und Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die Studienzeiten, die von der Klägerin während ihrer Zugehörigkeit zum Reichsarbeitsdienst (RAD) zurückgelegt und nachversichert worden sind, zugleich auch auf die Ausfallzeit iS des § 57 Abs 1 Nr 4b des Reichsknappschaftsgesetzes ≪RKG≫ (= § 1259 Abs 1 Nr 4b der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫ bzw § 36 Abs 1 Nr 4b des Angestelltenversicherungsgesetzes ≪AVG≫) anzurechnen sind.
Die Klägerin war vom 2. April 1941 an und nach einer Unterbrechung in der Zeit vom 1. April 1942 bis zum 8. Mai 1945 hauptberuflich Angehörige des RAD für die weibliche Jugend. Nachdem sie eine dreijährige Verpflichtung zur ununterbrochenen Tätigkeit als Reichsarbeitsdienstführerin eingegangen war, erteilte ihr der Reichsarbeitsdienstführer die Genehmigung, das „Medizinstudium innerhalb des Reichsarbeitsdienstes durchzuführen, um Reichsarbeitsdienstärztin zu werden.” Während des Medizinstudiums vom 13. März 1942 bis März 1945 wurde der Klägerin Bekleidung, Unterkunft und Verpflegung sowie Heilfürsorge gewährt; Studiengelder und Prüfungsgebühren hatte sie selbst zu zahlen. Nach dem Kriege setzte die Klägerin ihr Studium ab 30. Oktober 1946 bis zum erfolgreichen Abschluß im November 1949 fort.
Für die Zeit ihrer Zugehörigkeit zum RAD wurde die Klägerin gemäß § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) nachversichert.
Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit dem Bescheid vom 13. Mai 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Dezember 1987 ab 1. Juli 1987 das flexible Knappschaftsruhegeld. Bei der Rentenberechnung behandelte sie den Zeitraum vom 1. April 1942 bis zum 8. Mai 1945 als Beitragszeit. Gleichzeitig rechnete sie jedoch die in diesem Zeitraum zurückgelegten 35 Studienmonate auf die Ausfallzeit nach § 57 Satz 1 Nr 4b RKG an, so daß von der nach dem Kriege zurückgelegten Studienzeit nur noch der Zeitraum vom 30. Oktober 1946 bis zum 31. Oktober 1948 (= 25 Kalendermonate) als Ausfallzeit verblieb.
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die Beklagte verurteilt, auch die Zeit von Oktober 1946 bis November 1949 im vollen Umfang als Ausfallzeit anzurechnen. Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) hat hingegen die Klage abgewiesen: Auch wenn die Zeit vom 13. April 1942 bis 30. März 1945 bereits Beitragszeit sei, könne sie eine Ausfallzeit sein, weil die Vorschrift des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG nicht voraussetze, daß während der Schul-, Fachhochschul- oder Hochschulausbildung keine Pflichtbeiträge entrichtet worden sind. Im Falle der Klägerin sei die Zeit des Hochschulbesuchs vor dem 30. März 1945 auf den Fünfjahreszeitraum des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG schon im Hinblick auf Sinn und Zweck einer Ausfallzeit anzurechnen, weil bei ihr die Nachteile der Nichtentrichtung von Pflichtbeiträgen während der Studienzeit nicht vorlägen; sie habe bereits aufgrund der Nachversicherung ein versicherungsrechtliches Äquivalent in Form einer Beitragszeit erhalten und werde auch nicht durch die Anrechnung niedrigerer Beiträge an Stelle der Werte für Ausfallzeiten nach § 32a Abs 2 AVG benachteiligt.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 57 Satz 1 Nr 4b RKG. Ausbildungszeiten, die innerhalb eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zurückgelegt worden seien, stellten keine Ausfallzeiten dar. Das ergebe sich auch aus der Rechtsprechung des BSG, das die Ausbildung im Rahmen eines militärischen Dienstverhältnisses während des 2. Weltkrieges nicht als Ausfallzeit bewertet habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. September 1990 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 5. Dezember 1988 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch das LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das SG hat im Gegensatz zum LSG zu Recht entschieden, daß bei der Berechnung des Knappschaftsruhegeldes der Klägerin auch die Zeit vom 1. November 1948 bis 11. November 1949 als Ausfallzeit anzurechnen ist.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß für die Berechnung des der Angestelltenversicherung zuzuordnenden Leistungsanteils am Knappschaftsruhegeld die Vorschrift des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG maßgebend und demgemäß die Hochschulausausbildung nur bis zur Höchstdauer von 5 Jahren als Ausfallzeit zu berücksichtigen ist. Als Hochschulausbildung ist dabei der Zeitraum zwischen Immatrikulation und erfolgreichem Abschluß derselben (BSGE 48, 219, 220 = SozR 2200 § 1259 Nr 42 mwN) anzusehen, mithin die Zeit vom 13. April 1942 bis 31. März 1945 sowie vom Oktober 1946 bis November 1949.
Gleichwohl steht der Anrechnung der vom 13. April 1942 bis 31. März 1945 zurückgelegten Studienzeit als Ausfallzeit entgegen, daß für diese Zeit die Klägerin nach § 99 Abs 2 Satz 3 AKG als berufsmäßige Angehörige des früheren RAD in der Rentenversicherung der Angestellten als nachversichert gilt. Aus dem Wesen der Nachversicherung folgt, daß diese Zeit so zu werten ist, als wenn für sie Pflichtbeiträge rechtzeitig entrichtet worden wären (§ 124 Abs 4 AVG). Dem Gesetz ist allerdings nicht unmittelbar zu entnehmen, daß eine Beitragszeit nicht zugleich Ausfallzeit sein kann. Für das Zusammentreffen von versicherungsrechtlich bedeutsamen Zeiten bestimmt § 35 Abs 1 AVG allgemein, daß bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre die auf die Wartezeit anzurechnenden Versicherungszeiten (Beitragszeiten und Ersatzzeiten), die Ausfallzeit und die Zurechnungszeit zusammengerechnet werden, soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen. Die im Verhältnis von Beitragszeit zur Ausfallzeit in § 32 Abs 7 Satz 2 AVG enthaltene Sonderregelung, die im Rahmen der Vormerkung nach der Rechtsprechung ein Nebeneinander von Pflichtbeitragszeiten und Ausfallzeiten gestattet (BSGE 56, 151 = SozR 2200 § 1259 Nr 82 und SozR 2200 § 1259 Nr 90), vermag aber an dem in der Rechtsprechung entwickeltem Grundsatz nichts zu ändern, daß unter den in § 35 Abs 1 AVG genannten Zeiten eine Rangfolge besteht, wonach die versicherungsrechtlich „stärkere” Zeit die schwächere verdrängt (BSG SozR 2200 § 1255 Nr 9). Diese Rangfolge kann indessen nur bei den im Einzelfall auch anrechnungsfähigen Zeiten bedeutsam sein. Demnach befaßt sich § 35 Abs 1 AVG nur mit der Anrechnung im Leistungsfall. Daraus folgt, daß die versicherungsrechtliche „stärkere” Zeit die schwächere lediglich dann verdrängen kann, wenn die stärkere Zeit dem Versicherten auch durch Anrechnung zugute kommt (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 44). So ist es hier. Die Studienzeit während des hauptamtlich abgeleisteten Reichsarbeitsdienstes ist als Beitragszeit der Rentenberechnung zugrunde gelegt worden. Sonach kann die Beitragszeit nicht zugleich Ausfallzeit sein; das eine schließt das andere aus (BSG SozR 2200 § 1255 Nr 9 mwN).
Diesem Ergebnis entspricht auch Sinn und Zweck des § 36 Abs 1 Nr 4 AVG. Danach sollen den Versicherten, die sich über ein bestimmtes Lebensalter hinaus einer für den späteren Beruf notwendigen weiteren Ausbildung unterzogen haben und deshalb während dieser Ausbildungszeit keine Beiträge leisten konnten, bei der späteren Rentenfeststellung einen angemessenen Ausgleich erhalten (BR-Drucks 196/56, S 74, zu § 1263 RVO; BSG SozR Nr 23 zu § 1259 RVO). Andererseits war der Gesetzgeber darauf bedacht, eine übermäßige Belastung der Versichertengemeinschaft zu vermeiden. Demzufolge hatte er die als Ausfallzeiten berücksichtigungsfähigen Ausbildungszeiten der Art nach auf die in § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 a und b AVG genannten Ausbildungsmodalitäten begrenzt sowie die Anrechnung vom erfolgreichen Abschluß der Fach- bzw Hochschulausbildung abhängig gemacht (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 38 mwN und Nr 56). Dieser gesetzlichen Vergünstigung bedarf ein Versicherter indessen nicht, wenn während einer Studienzeit Pflichtbeiträge entrichtet worden sind bzw infolge Nachversicherung als entrichtet gelten. Deshalb können diese Beitagszeiten nicht als Ausfallzeiten gewertet werden (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 12 mwN; Handbuch der Rentenversicherung, Zweng, Scherer, Buschmann, Dörr, Band II 2. Aufl Stand Mai 1990 § 1259 Abschnitt I).
Auch der 11. Senat des BSG geht davon aus, daß jedenfalls Ausbildungszeiten, die innerhalb eines zumindest an sich versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zurückgelegt werden, keine Ausfallzeiten sein können. Voraussetzung sei jedoch, daß der Schulbesuch – wie in dem dort entschiedenen Fall – im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses Inhalt der Arbeitspflicht sei (Urteil vom 9. Februar 1984 – 11 RA 6/83 – = SozR 2200 § 1259 Nr 82 unter Bezugnahme ua auf die Rechtsprechung des Großen Senats in BSGE 41, 41, 48, 52 = SozR 2200 § 1259 Nr 13). In gleicher Weise hat der 11. Senat entschieden, daß eine Ausbildungszeit dann nicht als Ausfallzeit angerechnet werden kann, wenn die Ausbildung im Rahmen eines militärischen Dienstverhältnisses Inhalt der Dienstpflicht ist (BSG Urteil vom 13. Oktober 1983 – 11 RA 80/82 = SozR 2200 § 1259 Nr 79). In dem dort entschiedenen Fall hatte sich die Ausbildung im Rahmen des militärischen Dienstverhältnisses an einer militärischen Einrichtung (hier Fliegerakademie) schulmäßig vollzogen. Der zugrundeliegende Sachverhalt unterscheidet sich hiervon nur unwesentlich und rechtfertigt aufgrund dessen keine andere Entscheidung. Zwar studierte die Klägerin nach den Feststellungen des LSG nicht an einer dem RAD eingegliederten Hochschule; sie hatte auch für Studiengelder und Prüfungsgebühren selbst aufzukommen. Entscheidend ist jedoch für die rechtliche Beurteilung, daß die Klägerin nach erfolgter dreijähriger Verpflichtung zur ununterbrochenen Tätigkeit als Reichsarbeitsdienstführerin vom Reichsarbeitsdienstführer die Genehmigung erhalten hatte, „das Medizinstudium innerhalb des Reichsarbeitsdienstes durchzuführen, um Reichsarbeitsdienstärztin zu werden.” Aufgrund dessen kann es entgegen der Meinung des LSG nicht zweifelhaft sein, daß das Medizinstudium Inhalt der Dienstpflicht, also im Rahmen des bestehenden Dienstverhältnisses abgeleistet worden war.
Schließen sonach mit Beiträgen belegte Ausbildungszeiten die Anrechnung als Ausfallzeit aus, geht es entgegen der Meinung des LSG nicht an, diese Zeiten der Hochschulausbildung mit in die nach § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG festgelegte Höchstdauer von fünf Jahren einzubeziehen (aA Komm zur RVO Bd II, herausgegeben vom Verband deutscher Rentenversicherungsträger, Stand 1. Januar 1990, § 1259 Abschnitt 18.3; Komm zum AVG Koch/Hartmann, Stand April 1989, § 36 Abschnitt B 2.3.2). Die in § 36 AVG enthaltende Gesetzesdefinition deutet ersichtlich darauf hin, daß mit der Höchstdauer der Hochschulausbildung von fünf Jahren nur eine solche gemeint sein kann, die selbst Ausfallzeit ist. Nach dem Gesetzeswortlaut „Ausfallzeit iS des § 35 sind eine abgeschlossene Hochschulausbildung jedoch nur bis zur Höchstdauer von fünf Jahren” kann nur ein anrechnungsfähiger Ausfallzeittatbestand gemeint sein, der eine Begrenzung auf fünf Jahre erfahren soll. Dies entspricht gerade Sinn und Zweck der Vorschrift. Dieser geht, wie ausgeführt, dahin, einerseits für beitragsfreie Ausbildungszeiten einen Ausgleich zu schaffen und andererseits im Interesse der Versichertengemeinschaft eine übermäßige Belastung zu vermeiden. Bei einer Anrechnung der mit Pflichtbeiträgen belegten Ausbildungszeit auf die Höchstdauer der fünfjährigen Hochschulausbildung würde sich diese wohlausgewogene Interessenlage, die sowohl den Belangen der Versicherten wie auch der Versichertengemeinschaft Rechnung trägt, zu ungunsten des Versicherten verschieben. Dem Versicherten könnte nur eine kürzere Ausfallzeit der Rentenberechnung zugrunde gelegt werden. Andererseits würde die Versichertengemeinschaft von der Beitragsleistung des Versicherten profitieren, indem auf sie wegen der Reduzierung der Höchstdauer eine geringere als sonst übliche Belastung zukäme. Demzufolge entspricht es dem Willen des Gesetzgebers, wie er sich aus § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4b AVG erschließt, Zeiten der Hochschulausbildung dann zu verschieben, wenn sie teilweise mit Pflichtbeitragszeiten belegt sind und deswegen im Leistungsfall – wie ausgeführt – eine Anrechnung nicht stattfinden kann.
Der im Gegensatz hierzu vom – derzeit nicht mehr für die Rentenversicherung der Angestellten zuständigen – 11. Senat des BSG vertretenen Auffassung (Urteil vom 21. Februar 1985 – 11 RA 16/84 – = SozR 2200 § 1259 Nr 90), der Gesetzeswortlaut biete für eine solche Verschiebung keine Handhabe, fehlt eine überzeugende Begründung. Der 11. Senat schließt allerdings, ohne dies abschließend zu entscheiden, selbst nicht aus, daß mit „Zeiten einer Hochschulausbildung” auch diejenigen gemeint sein können, die als Ausfallzeit klassifiziert werden mit der Folge, daß Hochschulzeiten, die keine Ausfallzeiten darstellen, bei der als Ausfallzeit berücksichtigungsfähigen Hochschulausbildung auszuklammern wären. Gerade hierauf hebt der erkennende Senat ab.
Ebensowenig steht die Rechtsprechung des 11. Senats (Urteil vom 1. Februar 1972 – 11 RA 19/71 – = SozR Nr 43 zu § 1259 RVO) entgegen, wonach die Höchstdauer der Hochschulausbildung von fünf Jahren vom Beginn der Hochschulausbildung an zu berechnen ist. Diese Entscheidung ist im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats dahin zu interpretieren, daß nur die nicht mit Pflichtbeiträgen belegten Zeiten der Hochschulausbildung, die als Ausfallzeit zu werten sind, gemeint sein können. Dies bestätigt der 11. Senat mit Urteil vom 17. März 1964 – 11/1 RA 167/71 (BSGE 20, 251 = SozR Nr 9 zu Art 2 § 14 ArVNG) selbst, wenn er in bezug auf Art 2 § 14 ArVNG darauf verweist, daß in § 36 AVG nur die Anrechnungsfähigkeit der Ausfallzeit gemeint ist. Anrechnungsfähig kann die Hochschulausbildung aber nur sein, wenn sie selbst Ausfallzeit ist. Dann kann sich folgerichtig die Begrenzung der Höchstdauer auf fünf Jahre nur auf solche Hochschulzeiten beziehen, die als Ausfallzeit Anrechnung finden können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen